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4.Der moderne Verwaltungsstaat

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8a) Leistungsverwaltung, Daseinsvorsorge und Sozialstaat. Die Verwaltungsrechtsdogmatik hat sich lange Zeit auf das Recht der Eingriffsverwaltung konzentriert. Erst Ernst Forsthoff hat die Leistungsverwaltung 1938 grundlegend als das Recht der „Daseinsvorsorge“ konzipiert und diesen Typusbegriff in die Verwaltungswissenschaft eingeführt. Weil der moderne Mensch auf Infrastruktur angewiesen ist (Trinkwasser, Elektrizität, Gas, Personen- und Güterverkehr etc.), ist deren Zurverfügungstellung Aufgabe der leistenden Verwaltung geworden. Leistungsverwaltung ist der dogmatische Oberbegriff für eine Verwaltung, die dem Bürger eine Teilhabe an staatlichen Einrichtungen und Leistungen gewährt. Das Recht der Leistungsverwaltung regelt diese Teilhabe.

9Das Grundgesetz hat den Sozialstaat18 in Art. 20 Abs. 1 GG in Verfassungsrang erhoben, ohne diesen näher zu konkretisieren. Jedenfalls ist es ein grundsätzliches Anliegen des Sozialstaats, für das Zusammenleben der Bürger und ihre soziale Absicherung Sorge zu tragen. Der Sozialstaat hat sich in erster Linie als Verwaltungsstaat entwickelt, weil die umfassende Sozialgestaltung und Umverteilung durch die Verwaltung erfolgt und auch nur durch die Verwaltung erfolgen kann.

10b) Die Planungsverwaltung. Über die Leistungsverwaltung hinaus ist für den Sozialstaat auch die planende Verwaltungstätigkeit prägend geworden. Planung ist eine besondere Form lenkender Verwaltung. Es werden objekt- oder raumbezogene Gestaltungen für einen längeren Zeitraum konzipiert, indem vielfältige öffentliche und private Interessen miteinander durch Abwägung in Ausgleich ­gebracht werden, wie z. B. bei der Raumordnung, der Bauleitplanung, der Fachplanung für Infrastruktureinrichtungen. Das Verwaltungsverfahrensgesetz stellt hierfür ein komplexes Planungsverfahrensrecht zur Verfügung (Rn. 273 ff.).

11c) Gewährleistungsverwaltung und Privatisierung. Einer Verfestigung des – despektierlich verstandenen – Wohlfahrtsstaats stehen gegenwärtig Staats- und Verwaltungsreformen auf der Grundlage eines neuen Verständnisses der Staat-Bürger-Beziehung entgegen, vielfach verbunden mit einem Rückzug des Staates und einer stärkeren Eigenverantwortung des Bürgers und der Unternehmen. Der moderne Sozialstaat hat sich in vielen Bereichen zu einem Gewährleistungsstaat entwickelt in dem Sinne, dass die Verwaltung nur noch die Verantwortung für die Gewährleistung einer öffentlichen Aufgabe, ggf. verbunden mit einer Grundsicherung übernimmt, die Erfüllung im Einzelnen aber Privaten überlässt. In der Gestal­tung der Aufgabenprivatisierung bei gleichzeitiger Sicherstellung einer hinreichenden Aufgabenwahrnehmung durch Private liegt eine der größten Herausforderungen für das moderne Verwaltungsrecht.

12Die Regulierungsverwaltung ist eine besondere Facette der Gewährleistungsverwaltung. Das Regulierungsverwaltungsrecht entwickelt sich derzeit als ein neues Rechtsgebiet der Gewährleistungsverwaltung in bestimmten liberalisierten Wirtschaftssektoren der Daseinsvorsorge (z. B. Elektrizitäts- und Gasversorgung, Telekommunikation, Post, Bahn).19 Die Regulierungsverwaltung hat einen gesetzlich definierten Auftrag: einerseits Wettbewerb zu gewährleisten, andererseits eine Grundsicherung der Bevölkerung sicherzustellen. Gewährleistungsverwaltung und Regulierungsverwaltung sind Ausdruck des Übergangs vom „leistungsgewährenden zum leistungsgewährleistenden Staat“.20 Je komplexer der von Privaten wahrzunehmende Gemeinwohlauftrag ist und je höher die Anforderungen an diesen sind, umso stärker muss die Verwaltung steuern und regulieren.21

13d) Die Risikoverwaltung. Hinzu kommen neue Gefährdungsszenarien, die mit den überkommenen verwaltungsrechtlichen Instrumenten etwa des Polizeirechts nicht mehr aufgefangen werden können. Moderne Technik und Chemie (Gentechnik, Nanotechnologie, Atomenergie, chemische Stoffe, Arzneimittel) schaffen neue Schadensmöglichkeiten, die weit in die Zukunft reichen, ohne dass ihre konkrete Ausgestaltung angesichts immer komplexerer Wirkungszusammenhänge vorweggenommen und beurteilt werden kann, zumindest aber, ohne dass die Ein­trittswahrscheinlichkeit empirisch antizipierbarer Folgen anhand der Lebenserfahrung be­stimmt werden kann.22 Auch auf den internationalen Terrorismus kann mit den herkömmlichen kausalen Instrumenten des Polizeirechts nicht mehr angemessen reagiert werden; die Verwaltung muss daher oftmals prospektiv tätig werden. Gegenstand des sich etablierenden Risikoverwaltungsrechts ist es, entsprechende „Risiken“ angesichts menschlicher Unwissenheit rechtsdogmatisch aufzuarbeiten und in das Verwaltungsrecht zu integrieren.23

14e) Die integrierte Verwaltung. Auch das Europarecht hat inzwischen ganz erhebliche Bedeutung für die Verwaltung und das Verwaltungsrecht erlangt. Die intensive Integration der Mitgliedstaaten in die EU verlangt eine weitreichende Anpassung nationaler Rechtsordnungen an das Unionsrecht, ihre Öffnung, Kompatibilisierung und Harmonisierung, mithin eine „Europäisierung des Verwaltungsrechts“. Zudem muss die Verwaltung zunehmend mit Bürgern, Unternehmen und Verwaltungen aus anderen Ländern grenzübergreifend kommunizieren und kooperieren. Auch ausländische Rechtsakte können in Deutschland Geltung beanspruchen und deutsche Verwaltungsbehörden binden.

15f) Die elektronische Verwaltung. Die Möglichkeit elektronischer Aktenführung und elektronischer Korrespondenz schafft neue Möglichkeiten für die Verwaltung, aber auch neue Aufgaben (z. B. Datenschutz). Seit 2002 lässt das VwVfG eine Kommunikation, seit 2006 das VwZG förmliche Zustellungen auf elektronischem Wege zu. Noch immer hat sich der „elektronische Verwaltungsakt“24 in der Praxis nicht so durchgesetzt wie es möglich wäre. 2017 sind die rechtlichen Rahmenbedingungen bedeutend verbessert worden. Die Übermittlung elektronischer Dokumente ist zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet (§ 3a Abs. 1 VwVfG). Ein Verwaltungsakt kann vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist (§ 35a VwVfG). Allerdings darf weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum bestehen.

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