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Kapitel 14

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Die rundliche Krankenschwester hob den Kopf von ihren Unterlagen, als Kristín völlig aufgelöst aus dem Treppenhaus auf die Station trat.

Es war mitten in der Nacht, die Abteilung wie ausgestorben.

Ihre Blicke trafen sich.

„Wie geht es meinem Vater?“, waren die ersten Worte, die Kristín unter grösster Anstrengung hervorbrachte, während sie die Schwester nicht aus den Augen liess, welche nun ruhigen Schrittes auf sie zukam.

Schwerfällig lehnte sich die junge Frau an die Wand und versuchte, zu Atem zu kommen.

Sie war beinahe den ganzen Weg hierher gerannt.

Ihre Stimme zitterte, ihre Hand hielt noch immer das Mobiltelefon umklammert, auf dem vor nicht einmal 15 Minuten ein Anruf aus dem Krankenhaus einging mit der Nachricht, dass ihr Vater die Nacht wahrscheinlich nicht überstehen würde.

Nur mühsam konnte Kristín die Tränen zurückhalten, als die ältere Frau sie sachte an die Hand nahm und wie ein kleines Kind durch den Gang zu einem Stuhl führte.

Widerwillig liess sich die junge Frau darauf nieder und schaute panisch zu der Krankenschwester hoch.

„Ist er…?“, fragte sie ängstlich, doch die Frau schüttelte leicht den Kopf und lächelte beruhigend.

Erleichterung durchströmte Kristín und sie entspannte sich etwas.

„Ich bin gleich wieder bei Ihnen, meine Liebe. Versuchen Sie etwas zu Atem zu kommen.“

Mit diesen Worten verschwand die grauhaarige Frau im Stationszimmer.

Kurze Zeit später kehrte sie mit einer dampfenden Tasse Tee zurück.

„Hier, der wird Ihnen guttun.“

Dankbar über diese schlichte Geste nahm sie das Getränk entgegen.

Die Wärme des Tees tat seine Wirkung.

Ihr Atem entspannte sich und das Pochen ihres Herzens wurde leiser.

Sie holte einmal tief Luft, bevor sie sich wieder der älteren Krankenschwester zuwandte, welche sich auf dem Stuhl neben ihr niedergelassen hatte.

Auch sie hielt eine Tasse Tee in den Händen, hatte ihre Hände wärmend darum gelegt.

„Wie geht es meinem Vater?“, fragte Kristín erneut und die Angst schwang deutlich in ihrer Stimme mit.

Eine bedrückende Stille folgte.

Nur das Ticken der Uhr an der Wand war zu hören.

Dann seufzte die Schwester lautlos und ihr Blick wurde traurig, als sie sich Kristín zuwandte.

„Es tut mir so leid, Liebes.“

Ihre warme Hand legte sich tröstend auf das Knie der Jüngeren.

„Die Medikamente schlagen nicht mehr an. Ihr Vater hatte grosse Schmerzen. Deshalb sahen sich die Ärzte gezwungen, die Morphium-Dosis zu erhöhen. Seither ist er ruhiger. Aber seine Lungen beginnen nun, Wasser zu sammeln. Man hat versucht, dieses zu entfernen, doch der Erfolg ist nur von kurzer Dauer.“

Die ältere Frau atmete hörbar aus und ihr Blick war voller Mitgefühl.

„Es tut mir so leid. Ich hätte Ihnen diese Nachricht gerne erspart. Ihr Vater schien so gut auf die neue Therapie anzuschlagen…“

Eine Zeit lang sprach keine von beiden ein Wort.

„Warum er?“, flüsterte Kristín schliesslich leise, den Blick auf die Uhr an der Wand gerichtet, die unbarmherzig weiter tickte, Sekunde für Sekunde.

„Das ist nicht fair.“

Ihre Augen brannten, aber sie hatte nicht den Mut, die Tränen freizulassen.

Sie musste stark sein.

Ihr Vater war es ja auch.

„Manche Dinge geschehen ohne unser Zutun, meine Liebe.“

Der Blick der Krankenschwester wurde einen Moment weich, als sie Kristín betrachtete, doch sie fasste sich schnell wieder.

„Gehen Sie zu ihm. Er hat heute bereits nach Ihnen gefragt.“

Sie tätschelte der jungen Frau aufmunternd das Knie, ehe sie sich schwerfällig aus ihrer sitzenden Position erhob und sich mit der Hand abwesend über das Gesicht fuhr.

Kristín bemerkte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass es wohl Schicksale und Menschen gab, die auch an einer Krankenschwester nicht spurlos vorbei gingen.

Ihr Vater war einer davon.

Ihre Blicke trafen sich erneut.

„Es gibt so vieles, was ihr Vater noch mit Ihnen besprechen möchte. So vieles, was er Ihnen noch sagen möchte.“

Einen Moment wandte sie sich ab, schien sich zu sammeln, ehe sie Kristín wieder ansah.

Ihre Augen glänzten, als sie die Hand der jungen Frau ergriff und kurz drückte.

„Ich bin die ganze Nacht hier, wenn Sie mich brauchen, Liebes.“

Ein letztes leichtes Lächeln, dann war sie im Stationszimmer verschwunden.

Leise war zu hören, wie sich jemand die Nase putzte.

Eine gefühlte Ewigkeit blieb die junge Frau noch verwirrt auf ihrem Stuhl sitzen und sammelte ihre noch verbliebenen Kräfte.

Dann erhob sie sich langsam, stellte die leere Teetasse auf dem kleinen Regal vor dem Stationszimmer ab und machte sich schweren Schrittes auf den Weg zum Zimmer ihres Vaters.

Vor der Tür atmete sie noch einmal tief durch.

Sie musste stark sein!

Kristín klopfte leicht an.

Es blieb still.

Keine Antwort.

Ihr Blick glitt den Gang hinunter.

Es war viel zu still hier!

Sie klopfte erneut.

Immer noch keine Antwort.

Dann öffnete sie leise die Tür.

Ein regelmässiger Piepston durchbrach die Stille, welche diesen Raum regelrecht beherrschte.

Vorsichtig, auf kein unnötiges Geräusch bedacht, näherte sie sich dem Bett und zog den Stuhl heran.

Es schien Martin sehr anzustrengen, seine Augen zu öffnen, als Kristín mit ihrer Hand zärtlich über seine, inzwischen eingefallene, Wange fuhr.

„Hallo Pabbi.“, begrüsste sie ihn leise.

Er lächelte schwach, als er sie erkannte.

Dann schlossen sich seine Augen wieder.

Kristín liess sich in den Stuhl sinken, der neben dem Bett stand und betrachtete ihren Vater lange.

Seine Atmung ging gleichmässig, war jedoch stets von einem rasselnden Geräusch begleitet.

Der Anblick ihres Vaters in diesem Krankenbett brach ihr das Herz.

Dieser einst so starke und stolze Mann wirkte so verloren in diesem Gewirr aus Schläuchen und Maschinen.

Erneut spürte sie, wie ihre Augen brannten, wie ihr Körper gegen die Tränen kämpfte, doch dieses Mal verlor sie den Kampf.

Unaufhaltsam bahnten sie sich ihren Weg über ihre Wangen, benetzten den Kragen ihrer Bluse.

Kristín legte die Hände vor das Gesicht und liess es geschehen.

Sie weinte still.

Sie wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, als sie plötzlich die Hand ihres Vaters auf ihrem Bein wahrnahm.

Federleicht und kaum zu spüren.

„Kristín.“

Seine Stimme war rau, unsicher.

„Du bist da… Das… das ist schön.“

Ein schlimmer Husten schüttelte seinen Körper und sie sprang auf, um ihn zu stützen.

„Du musst dich schonen, Pabbi. Schlaf doch noch ein wenig.“

Kam es ihr nur so vor oder rasselte sein Atem mehr als vorhin?

„Nein, lass mich!“, rief er lauter, doch wieder schüttelte ihn ein Hustenanfall.

„Nein…“, sprach er dann sanfter, als er sich wieder in die Kissen sinken liess und schenkte ihr einen liebevollen Blick.

„Schlafen kann ich später noch genug.“

Sie wollte protestieren, doch er hob warnend die Hand und brachte sie so zum Schweigen.

„Lass mich… bitte. Es gibt noch etwas, was du wissen musst. Etwas, was ich dir schon vor vielen Jahren hätte sagen sollen.“

Kristín holte Luft, um etwas zu erwidern, doch ein langer Hustenanfall ihres Vaters liess ihre Gedanken in Vergessenheit geraten.

Leichte Panik erfasste sie, als dieser nicht enden wollte.

Ohne zu Überlegen hatte sie bereits der Schwester gerufen und versuchte verzweifelt, ihrem Vater das Atmen zu erleichtern.

Die grauhaarige Frau erfasste die Situation sehr schnell, als sie das Zimmer betrat und begann rasch und mit ruhiger Hand an all den Maschinen und Medikamentenbeuteln Änderungen vorzunehmen.

Tatsächlich dauerte es nicht lange und der Husten klang ab.

Der Atem ihres Vaters wurde wieder ruhiger, entspannter.

Erschöpft liess er sich in die Kissen zurücksinken.

Kristín sah die Krankenschwester fragend an.

Doch diese schüttelte nur traurig den Kopf und wies mit einer leichten Handbewegung auf all die Medikamente um sie herum.

Sie stand bereits wieder bei der Tür.

„Sie rufen mich erneut, wenn Sie etwas brauchen?“

Dann war sie schon wieder verschwunden.

„Kristín.“

Die Stimme ihres Vaters war leise, das Sprechen schien ihn sehr anzustrengen.

„Kristín, bitte hör mir zu.“

Er ergriff ihre Hand mit seiner und drückte sie schwach.

Die junge Frau betrachtete den Mann vor sich, der sie bittend ansah und versuchte sich an einem Lächeln, doch es gelang ihr nicht wirklich.

Also legte sie ihre andere Hand auf seine.

Die Hand ihres Vaters war eiskalt.

Und wo war nur sein starker Händedruck geblieben?

Wo war der starke Mann von früher?

Seine einst schwarzen Haare, waren schon seit Jahren von mehr und mehr silbernen Fäden abgelöst worden.

Doch seit er mit den Chemotherapien begonnen hatte, waren sie komplett ausgefallen.

Sein ehemals rundes Gesicht wirkte eingefallen und seine Haut war fahl.

Dadurch kamen seine Falten erst recht zur Geltung und liessen ihn älter erscheinen, als er eigentlich in Wirklichkeit war.

Seine Augen, die erst kürzlich noch voller Leben gestrahlt hatte, sahen sie nun müde und stumpf an.

Ihr Vater hatte nie zu den schlankesten Männern gehört, aber durch die ganzen Behandlungen hatte er stark an Gewicht verloren und wirkte nun in diesem Bett unglaublich zerbrechlich.

Warum war ihr das alles nicht schon früher aufgefallen?

Hatte sie die Anzeichen denn nicht bemerkt?

Doch weiter kam Kristín mit ihren Grübeleien nicht, denn plötzlich wurde sie sich dem Blick ihres Vaters bewusst.

Er lächelte schwach.

„Kannst du dich noch an dein Verbot für den Dachboden erinnern?“

Sie nickte bestätigend.

Natürlich konnte sie das.

Warum fragte er ausgerechnet jetzt danach?

Seine Augen blickten zum Fenster, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg.

Lange Zeit war es still im Zimmer, nur der regelmässige Piepston war zu hören, bevor ihr Vater sich ihr wieder zuwandte.

„Dann bitte ich dich nun, nachzusehen.“

Seine Augen schlossen sich einen Moment erschöpft, dann sah er sie eindringlich an.

„Bitte, Kristín… Versprich mir, dass du auf den Dachboden gehen wirst!“

In seiner Stimme schwang Hoffnung mit.

Und so nickte sie.

„Ich verspreche es dir, Pabbi. Aber sagst du mir auch, woher der plötzliche Sinneswandel kommt?“

Seine Augen richteten sich erneut in die Ferne und er antwortete ihr lange nicht.

Dann wandte er ihr wieder den Kopf zu.

Er suchte ihren Blick regelrecht und hielt krampfhaft ihre Hand fest, die noch immer in seiner lag.

„Ich habe ein Geheimnis…“, begann er und schluckte schwer.

Doch Kristín unterbrach ihn leise.

„Das weiss ich doch schon längst, Pabbi.“

„Bitte…. Lass mich ausreden. Unterbrich mich nicht. Es ist wichtig.“

Er rügte sie nicht, seine Worte waren nur als Bitte formuliert, doch sie senkte beschämt und betreten den Kopf.

Ihre Hand wurde erneut schwach gedrückt, damit sie ihn wieder ansah.

Ihr Vater lächelte schwach, ehe er von Neuem begann.

„Ich habe ein Geheimnis…“

Er schwieg einen Moment, es war ihr, als würde er Kraft sammeln.

„.. und es wird Zeit, dass du es erfährst.“

Verwirrung zeichnete ihr Gesicht.

Von was sprach er denn die ganze Zeit?

„Bitte, Kristín. Versprich mir, dass du nachsehen wirst. Es ist… wichtig.“

Seine Stimme hatte einen solch flehenden Unterton, wie sie ihn noch nie zuvor von ihm gehört hatte.

Dann plötzlich entzog er ihr seine Hand und krampfte sich zusammen.

Ein Stöhnen entrang seinen Lippen.

Doch als sie erneut die Schwester rufen wollte, hielt er sie zurück.

„Nein… bitte…“

Sein Blick war voller Schmerz und Kristín fiel es schwer, nicht auf den Alarmknopf zu drücken.

„Ich lebe viel zu lange mit dieser Last, Kristín...“

Ihr Vater schenkte ihr einen Blick voller Zärtlichkeit, ehe er von einem leichten Husten geschüttelt wurde.

Ihr Blick wanderte zurück zu dem Alarmknopf, der so verlockend über ihm hing, doch dann durchbrach seine zittrige Stimme erneut den Raum.

„Egal, was du findest, Kristín… Du warst mein Leben. Ich habe dich immer geliebt. Ich habe… EUCH immer geliebt.“

Mit diesen Worten liess er sich kraftlos in die Kissen zurücksinken und schloss seine Augen.

Kristín blieb keine Zeit, über seinen letzten Satz nachzudenken.

Sie war aufgesprungen und betätigte panisch den Alarmknopf, als der Atem ihres Vaters unregelmässiger, das Piepsen des Monitors hinter seinem Bett eindringlicher, wurde.

„Pabbi..?“

Wo blieb denn nur die Schwester?

Ihr Blick wanderte panisch zur Tür.

Ein schwaches Lächeln erschien plötzlich in Martins Mundwinkeln, als er die Luft ein letztes Mal rasselnd ausatmete, dann blieb sein Brustkorb ruhig.

Als die grauhaarige Krankenschwester alarmiert durch den Gang hetzte, atemlos das Zimmer betrat und die junge Frau zusammengesunken und weinend am Bett vorfand, wusste sie bereits, dass sie zu spät kam.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das permanente Piepsen des Monitors auszuschalten und die beiden wieder alleine zu lassen.

Draussen vor der Tür atmete sie tief durch.

Dann wandte sie sich ab und ging zurück ins Stationszimmer, um dem behandelnden Arzt eine Nachricht zukommen zu lassen.

Es dauerte lange, ehe Kristín soweit war, ihren Vater alleine zu lassen.

Sie berührte seine Wange zum Abschied, ehe sie zur Tür ging.

Dort drehte sie sich noch einmal um und betrachtete ihn ein letztes Mal.

Er sah so friedlich aus, trotz all der Schläuche.

Ganz entspannt.

Erneut spürte sie die Tränen auf ihren Wangen.

Doch es störte sie nicht.

„Ich verspreche dir, dass ich nachsehen werde, was du all die Jahre auf dem Dachboden versteckt gehalten hast…“

Ihre Stimme versagte und sie atmete einen Moment tief durch.

„Leb wohl, Pabbi.“

Vor dem Stationszimmer blieb sie einen Augenblick stehen.

Dann klopfte sie leicht an die Glasscheibe.

Das fragende Gesicht der Krankenschwester erschien, erhellte sich jedoch gleich, als sie Kristín erkannte.

„Es tut mir so leid, Liebes. Mein Beileid.“

Echtes Mitgefühl spiegelte sich in ihren Zügen.

„Darf ich Ihnen nochmal eine Tasse Tee anbieten?“

Sie füllte bereits den Wasserkocher mit Wasser, als Kristín ablehnte.

„Nein danke. Machen Sie sich bitte keine Umstände.“

Die ältere Frau wollte protestieren, doch Kristín schnitt ihr das Wort ab.

„Ich wollte mich für Ihre Unterstützung bedanken. In Bezug auf meinen Vater und auf mich.“

Die Krankenschwester umarmte die junge Frau spontan, was diese völlig überrumpelte.

Doch dann entspannte sie sich langsam.

Die Schwester strahlte Kristín herzlich an.

„Ihr Vater war ein ganz besonderer Mann.“

Diese ehrlichen Worte berührten die junge Frau.

Und sie lächelte matt.

„Danke.“

Dann erklang plötzlich ein leiser Alarmton, was die Schwester aus dem Stationszimmer treten liess.

Sie richtete ihren Blick konzentriert auf die Anzeige im Gang und seufzte lautlos.

„Tut mir leid, Liebes.“

Sie deutete mit dem Kopf auf die grünen Zahlen, die stumm blinkten.

„Die Arbeit ruft.“

Dann machte sie ein paar Schritte zur angezeigten Zimmernummer, hielt aber nochmals inne und drehte sich zu Kristín um.

„Ihr Vater hat Dinge getan, auf die er nicht stolz ist. Er tat es aus Liebe, vergessen Sie das bitte nicht… Und…“

Sie holte hörbar Luft, als wollte sie noch etwas hinzufügen, doch dann überlegte sie es sich anscheinend anders.

„Machen Sie es gut, meine Liebe.“

Mit diesen Worten und einem letzten, gütigen Lächeln, verschwand die Krankenschwester aus Kristíns Leben.

Liess die junge Frau zurück, mit dem sicheren Wissen, dass diese grauhaarige, rundliche Frau das Geheimnis kannte, welches ihr Vater in seinem letzten Wunsch erwähnte.

Der Ruf der wilden Insel

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