Читать книгу Der Ruf der wilden Insel - Stefanie Gislason - Страница 8

Kapitel 6

Оглавление

Dass Halli sein Auto parkierte, nahm Kristín nur unbewusst wahr.

Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die riesige Kirche gerichtet, die der Isländer ihr unbedingt zeigen wollte.

„Und von da oben kannst du wirklich die ganze Stadt sehen?“, fragte sie ungläubig und drehte ihren Kopf so, dass sie die Kirchturmspitze durch das Autofenster sehen konnte.

Halli gluckste vergnügt, als er die Frau auf dem Beifahrersitz betrachtete und öffnete die Autotür.

„Na los, steig aus und lass mich es dir zeigen.“

Und ehe Kristín etwas darauf erwidern konnte, hastete sie bereits schon wieder hinter dem grossen Mann her, der unter all den Touristen verschwunden war.

Doch mitten auf dem Platz musste sie stehen bleiben und den Anblick des Bauwerks auf sich wirken lassen.

Noch nie hatte sie eine Kirche wie diese gesehen.

Sie schien aus lauter kleinen Säulen zu bestehen und als die junge Frau ihren Blick nach oben zu dem Kreuz auf der Spitze richtete, kam sie sich unglaublich klein vor.

Eine Windböe wehte ihr ins Gesicht und erinnerte sie daran, dass ihre Kleidung wohl nicht geeignet für eine Reise auf Island war.

Und so beeilte sie sich, zu Halli aufzuschliessen.

Erst in der Halle fand sie ihn wieder und bemerkte amüsiert, wie sich immer wieder Köpfe nach dem rothaarigen Isländer umdrehten.

„Ich habe uns bereits Tickets für unsere Reise nach oben besorgt.“, grinste er und hielt sie ihr vor die Nase.

„Aber als Erstes musst du dir die Kirche von innen ansehen. Lassen wir den grössten Teil dieser Leute hier zuerst mit dem Aufzug nach oben fahren. Die schauen uns schon nichts weg.“

Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Menschenmenge, die sich vor dem Aufzug dicht an dicht drängte.

Jeder wollte der Erste sein, der mit seinem Fotoapparat ein Bild von der Stadt schoss.

Kristín schmunzelte belustigt und wandte sich wieder dem grossen Mann an ihrer Seite zu.

„Das Aussehen dieser Kirche ist sehr speziell...“

Genau wie in dem Moment, als er ihr den Suzuki vorstellte, reckte Halli nun seine Brust erneut stolz nach vorne.

„Sie ist schön, nicht wahr? Die Säulen spiegeln einen Teil unserer isländischen Natur wider. Sie sind Basaltsäulen nachempfunden. Vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit für uns, in der ich dir die Echten näher zeigen kann.“

Dann suchte er wie selbstverständlich ihre Hand und zog sie durch die Menschenmassen hinter sich in den Bauch der Kirche hinein.

Kristín war völlig gebannt von der Magie und der Anziehung, die in dieser Kirche herrschte.

Die Ruhe und die Andacht, mit der die Menschen sich in ihr bewegten.

Und über all dem stand da dieser Riese von Mann, der ihr leise flüsternd, aber mit eindeutigem Stolz in der Stimme, die Geschichte dieses Bauwerks näher brachte.

Als sie ihren Blick einen Moment durch den Raum schweifen liess, bemerkte sie belustigt, dass längst nicht nur sie seinen Erzählungen folgte.

Die Leute scharten sich um den Isländer und hingen an seinen Lippen, um ja kein Wort über den historischen Hintergrund der Kirche zu verpassen.

Kristín jedoch zog sich langsam aus der Menschenansammlung zurück und setzte sich auf eine der Bänke, um etwas für sich zu sein.

Ihre Hand wanderte in ihre Jackentasche und zog das Foto heraus.

Lange betrachtete sie es und versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas zu erinnern, was ihr Vater gesagt haben könnte, was ihr helfen würde, ihre Schwester und ihre Mutter zu finden.

Warum hatte sie seinen Schwärmereien für die Insel nicht mehr Beachtung geschenkt?

Warum war sie nicht an seiner Seite sitzen geblieben, statt aufzustehen und das Wohnzimmer zu verlassen, wenn im Fernsehen ein Dokumentarfilm über Island kam?

Warum hatte sie ihn nie nach der Herkunft seines Pullovers gefragt, statt ihm vorzuhalten, wie schrecklich der aussähe?

Warum hatte sie nie hinterfragt, dass da noch etwas sein könnte, ein Geheimnis, ein anderes Leben, wenn er seine Zeit wieder auf den Dachboden verbrachte?

Warum?

Das Foto verschwamm vor ihren Augen, doch sie klammerte sich weiter daran fest.

Es war das Einzige, was ihr Halt gab.

Plötzlich erschien eine grosse Hand in ihrem Blickfeld und als sie ihren Kopf hob, um zu Halli aufzusehen, lächelte er warm und einladend.

Er hatte ihre Tränen bestimmt bemerkt, auch sein Seitenblick auf die Fotografie in ihren Händen war ihr nicht entgangen, aber er stellte keine Fragen.

Und im Stillen war sie ihm dankbar dafür.

„Komm. Die Zeit ist günstig, nach oben zu fahren. Ich habe die Meisten etwas abgelenkt…“

Sie sah ihn fragend an, ergriff jedoch seine Hand und liess sich auf die Beine ziehen.

Einen Moment berührten sich ihre Körper, dann trat Halli einen Schritt zur Seite und gab ihr ein Zeichen, voranzugehen.

Verwundert betrachtete sie im Vorbeigehen die hochkonzentrierten Gesichter der Touristen, die nun ihre Blicke auf die grosse Orgel gerichtet hielten und es schien ihr, als würden sie leise zählen.

Sie drehte sich zu Halli um, der sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht animierte, weiter zu gehen.

„Ich erklär es dir gleich.“

Als sie den Lift erreichten, öffnete sich gerade die Tür und eine Traube Menschen drängte nach draussen.

Halli schubste sie regelrecht in den leeren Lift hinein und es schien ihr, als machte er sich extra breit, dass ja keiner auf die Idee kommen sollte, mit ihnen gemeinsam nach oben zu fahren.

Seine Taktik schien aufzugehen, denn als sich die Lifttüren schlossen, waren sie noch immer allein.

Sie suchte seinen Blick und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Also? Was hast du denen erzählt?“

Er lachte sein tiefes Lachen.

„Ich habe ihnen eine Aufgabe gegeben…“

„Eine Aufgabe?“, fragte sie misstrauisch, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und lehnte sich etwas zurück, um ihn besser im Auge behalten zu können.

„Was genau verstehst du unter einer Aufgabe?“

Er lachte erneut.

„Sie zählen die Orgelpfeifen.“

Kristín glaubte, sich verhört zu haben.

„Sie tun was?“

Er blickte amüsiert auf sie herunter.

„Du hast es schon richtig verstanden. Sie zählen die Orgelpfeifen."

Kristín bemühte sich, ernst zu bleiben.

„Und kannst du mir noch sagen, warum sie das tun?“

Es fiel ihr schwer, das Lachen zurückzuhalten und der Isländer spürte das nur allzu deutlich.

„Naja..“

Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Ich habe ihnen da vielleicht von einem Wettbewerb erzählt.. Wenn sie die richtige Anzahl Orgelpfeifen erraten, gewinnen sie eine Übernachtung hier in Reykjavík.“

Es fiel ihr wirklich sehr, sehr schwer, weiterhin ein ernstes Gesicht zu machen, als Halli sogar verlegen mit dem Fuss am Boden herum scharrte und die Hände hinter dem Rücken verschränkte.

„Und diesen Wettbewerb gibt es wirklich?“

Er suchte ihren Blick, seine Augen glitzerten vergnügt, als er ein leises „Nein…“ aussprach.

Da war es um Kristín geschehen.

So konnte nicht mehr an sich halten und brach in lautes Gelächter aus, in welches der Isländer einstimmte.

Kichernd wie zwei kleine Kinder taumelten sie aus dem Lift, als sich die Türen öffneten.

Die missmutigen Blicke der Leute um sie herum bemerkten sie gar nicht, als sie sich keuchend an die Wand lehnten und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

„Danke.“, war alles, was die junge Frau sagte, als sie sich wieder beruhigt hatten.

Er hatte in der Kirche bereits keine Fragen gestellt und hinterfragte es auch jetzt nicht.

Er verstand auch so, dass sie eine kleine Ablenkung gut hatte gebrauchen können.

„Komm, lass mich dir die Stadt endlich zeigen.“

Mit diesen Worten öffnete er die Tür zur Aussichtsplattform und gewährte Kristín einen Ausblick, der ihr den Atem verschlug.

All die bunten Häuser, die sich aneinander reihten, der Weitblick und das Meer liessen sie all ihre dunklen Gedanken vergessen.

Sie schloss die Augen und genoss den Augenblick, als der Wind ihr um die Nase wehte.

Hinter ihr stand Halli und betrachtete die blonde Frau fasziniert.

Die Aussicht auf die Stadt war für ihn nebensächlich.

Er hatte einen viel besseren Ausblick vor sich.

Erst als sie wärmend ihre Arme um den Körper schlang, erwachte er aus seiner Starre.

„Hast du auch noch wärmere Kleidung dabei?“

Sie drehte sich um und lächelte verlegen.

„Ich fürchte nicht wirklich…“

Er machte sich nicht über sie lustig, sondern zog sie zurück zum Ausgang und zum Lift.

„Dann lass mich dir unsere berühmteste Einkaufsmeile zeigen. Dort finden wir bestimmt etwas, was dich wärmt. Und etwas Leckeres zu essen finden wir auch noch.“

Sie liess sich von seiner Begeisterung mitreissen, betrachtete im Vorbeigehen belustigt, dass noch mehr Menschen sich um die Orgel versammelt hatten und bedachte Halli mit einem mahnenden Blick.

Doch er zuckte nur mit den Schultern und schlug den Weg zu seinem Auto ein.

„Warte kurz hier… Ich hol nur was.“

Mit diesen Worten verschwand er auf der Rückbank seines Autos und Kristín konnte ihn leise fluchen hören.

Keine zwei Minuten später kam er wieder aus seinem Auto hervor und hielt ihr etwas hin, was sie bei genauerer Betrachtung als einen Pullover identifizierte.

Einen ähnlichen, wie ihr Vater einen besessen hatte.

Ihre Finger glitten prüfend über die kratzige Oberfläche.

„Nicht der Schönste, aber er wärmt.“, versuchte sich der Isländer zu rechtfertigen.

Ohne weiter zu überlegen, streifte sie ihn sich über.

Er war viel zu gross, aber sofort spürte sie, dass der Wind viel weniger an ihre Haut herankam.

Ungläubig sah sie Halli an.

Dieser schmunzelte.

„Isländische Wolle. Unsere Schafe sind berühmt dafür.“

Er zupfte den Pullover etwas zurecht und wies dann mit der Hand die Strasse hinunter.

„Wollen wir? Ich könnte etwas zu essen vertragen.“

Der Ruf der wilden Insel

Подняться наверх