Читать книгу Vampirmächte - Stefanie Worbs - Страница 6

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Am nächsten Tag erwachte Lilly mit denselben, dumpfen Kopfschmerzen. Wenigstens war es im Bett schön warm. Zum Glück gab es auf Arbeit gerade nicht viel zu tun und ihr Chef hatte ihr ein paar freie Tage eingetragen. Also blieb sie liegen, bis der Hunger wieder anfing an ihr zu nagen.

Beim Blick nach draußen fiel ihr auf, dass es schon Nachmittag war, später Nachmittag sogar. Sie musste so fertig gewesen sein, dass sie den halben Tag verschlafen hatte. Also zwang sie sich aufzustehen. Frische Luft würde vielleicht helfen. Langsam, als wäre sie schon mindestens 80 Jahre alt, zog Lilly sich an, nahm sich eine Scheibe Toast und schleppte sich nach draußen.

Sie kniff die Augen zusammen, weil der Schein der Straßenlaternen sie blendete, und schleppte sich dann ein Stück weiter in einen Park. Dort war es komplett dunkel, doch das störte Lilly nicht im Geringsten. Ein Stück weiter ließ sie sich auf einer Bank nieder, rutschte auf der Sitzfläche runter und lehnte den Kopf an die Rückenlehne. Mit geschlossenen Augen saß sie da und wartete darauf, dass es ihr besser ging.

Tief atmete Lilly die verschiedenen Gerüche ein. Es roch nach den Bäumen hinter ihr und dem Laub auf den Wegen. Nach nasser Erde und sie konnte Tiere durchs Unterholz rascheln hören. Aber da was noch etwas.

Schritte? Schritte die sich leise und zaghaft bewegten und sie kamen auf sie zu. Lilly öffnete die Augen und richtete sich auf. Links und rechts war niemand zu sehen. Sie spähte in die Dunkelheit und versuchte mehr zu erkennen. Dann drehte sie sich um und wollte aufspringen, doch bevor sie sich richtig erheben konnte, hatte der ganz in schwarz gekleidete Mann sie schon über die Bank hinweg angesprungen und riss Lilly zu Boden.

Sie wehrte sich, so gut es ihre verbliebenen Kräfte noch zuließen, doch der Mann war viel stärker als sie. Er hielt sie mit seinem ganzen Körpergewicht nach unten gedrückt. Mit einer Hand fasste er ihre beiden über ihrem Kopf und mit der anderen landete er einen gezielten Schlag in ihrem Gesicht. Sterne explodierten vor ihren Augen.

Als Lilly wieder klar wurde, konnte sie fühlen, wie der Mann versuchte, ihre Hose zu öffnen. Er war so abgelenkt, dass er nicht bemerkte, wie sie wieder zu sich kam. Sie sah ihn verschwommen ganz nah vor sich. Er hob den Blick und sagte etwas, doch Lilly verstand es nicht. Dann packte er ihr Kinn und drückte es zur Seite. Seine Zunge fuhr über ihre Wange und entfachte Ekel und Wut in ihr. Er drehte ihren Kopf von links nach rechts und begutachtete ihr Gesicht wie ein Wahnsinniger, der einen Schatz gefunden hatte.

Er erinnerte Lilly an den Hobbit Gollum aus Herr der Ringe und sie schnaubte kurz angewidert auf. Der Mann jedoch schien es ganz und gar nicht lustig zu finden, dass sein Opfer über ihn lachte. Er richtete sich halb auf und verpasste ihr eine zweite Ohrfeige. Diesmal sah Lilly keine Sterne. Im Gegenteil. Ihr Blick wurde klar und die Wut auf den Mann stieg ins Unermessliche. Als er sich abermals zu ihr beugte, ihrem Hals entgegen, schlug sie instinktiv zu. Sie öffnete den Mund und wusste genau, wo sie zubeißen wollte.

Ihre Zähne fuhren wie durch warme Schokolade in seinen Hals, trafen die Hauptschlagader und sein Blut schoss ihr in die Kehle. Ohne dass sie sich dessen bewusst war, bewegte sich ihr Körper. Mit einer Kraft, die Lilly sich selbst nicht zugetraut hätte, riss sie sich los und binnen einer Sekunde hatte sie mit dem Mann den Platz getauscht. Nun hielt sie ihn so, dass er sich nicht bewegen konnte.

Es ist so leicht. So leicht! Ihr Mund hatte sich nicht von ihm gelöst. Sein Blut rauschte in ihn und sie schluckte wie jemand, der seit Tagen nichts zu trinken bekommen hatte. Der Mann wehrte sich nicht lange. Nach wenigen Momenten schon, lag er still unter ihr und atmete langsam und leise rasselnd. Lillys Wut flaute ab und wurde ersetzt von einem Gefühl, das sie nur als satte Zufriedenheit bezeichnen konnte. Da packte eine Hand ihre Schulter und riss sie nach oben. Weg von dem Mann, der nun leicht zitternd am Boden lag.

Jemand kniete neben ihm, doch Lilly konnte nichts richtig erkennen. Vor ihren Augen tanzten Lichter und sie fühlte sich schwindelig. Eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr, doch die Worte ergaben keinen Sinn. Es vergingen ein paar Momente, bevor sie verstand, was gerade geschehen war.

Der Jemand am Boden neben ihrem Angreifer war ein junger Mann, der sie nun musterte. Die Hand auf ihrer Schulter gehörte zu einem Zweiten. Er hielt sie nicht fest, es hatte eher etwas Tröstendes. Er sah dem anderen in die Augen und sein Blick schien Worte formen zu wollen. Lillys Augen flogen von ihrem Angreifer, zum Mann neben ihm und von diesem, zu dem, der neben ihr stand. Dann rannte sie los und fort von den beiden und dem, was hier gerade geschehen war.

„Lass sie“, hörte sie einen der beiden noch leise sagen.

Die aufsteigende Panik ließ Lilly immer schneller werden, bis sie das Gefühl hatte, ihre Füße würden den Boden nicht mehr berühren. Sie rannte einfach weiter, bis nichts mehr in ihr war, außer Leere. Ihre Beine trugen sie, schneller als sie je zuvor gerannt war, über Wiesen, Felder, durch Dörfer und Niemandsland. Lilly verlor jedes Zeitgefühl. Mal rannte sie, mal stand sie einfach nur da, dann ging sie langsam, bis sie erneut ins Rennen verfiel.

Das Morgenrot erhellte den Horizont und als sie es bemerkte, blieb sie stehen. Da stand sie und sah der Sonne zu, wie sie langsam die Bäume und Wiesen vor ihr in warmes Licht tauchte. Der Tau auf den Grashalmen warf glitzernde Lichter und eine leichte, nacht-kühle Brise umwehte Lillys Gesicht. Sie schloss die Augen und genoss das zarte Gefühl auf ihrer Haut. Lange stand sie einfach da, während vor ihr die Sonne den Tag begann und vereinzelt Vögel zwitscherten.

Die Letzten, die noch hier sind, bevor der Winter richtig beginnt, überlegte sie. Dann öffnete Lilly die Augen und stellte erleichtert fest, dass sie weder Kopfschmerzen hatte, noch tat ihr irgendetwas anderes weh. Das erste Mal, seit ihrem seltsamen Unfall, fühlte sie sich blendend. Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung. Die Ereignisse von letzter Nacht gingen ihr durch den Kopf und ein schlechtes Gewissen stieg in ihr auf.

Ich hab den Mann verletzt. Hab ich ihn getötet? Nein! Da war jemand anderes. Jemand hat ihm geholfen. Der Mann hat Hilfe bekommen. Außerdem hat -er mich- überfallen. Ich hab aus Notwehr gehandelt. Aber was genau hab ich überhaupt getan? ... sein Blut getrunken. Ihn ... gebissen und von ihm getrunken. Und ich hätte ihn sicher getötet, wären die beiden anderen nicht aufgetaucht.

Sie schüttelte den Kopf, dann blieb sie wieder stehen. Nein, dachte sie. „Nein!“, wiederholte Lilly laut. „Ich habe diesen Mann nicht gebissen!“

Im nächsten Dorf suchte sie einen Hinweis darauf, wo sie war. An einer Bushaltestelle blieb sie stehen und schaute auf die kleine Landkarte, die dort hing. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass sie sich in einer kleinen Stadt hinter Leipzig befand. Das Schild an der Haltestelle nannte ihr den Namen Brandis. Hier war sie noch nie gewesen, aber den Namen kannte sie. Sie wusste auch, dass es ein extrem weiter Weg zu Fuß war. Sie war tatsächlich stundenlang durch die Gegend gelaufen, aber nicht mal müde oder erschöpft. Jeder andere, der die ganze Nacht durch gelaufen wäre, würde umfallen, doch Lilly fühlte sich topfit. Trotzdem beschloss sie, den Bus für den Heimweg zu nehmen. Zum Glück hatte sie etwas Geld dabei.

Er kam pünktlich und Lilly zahlte eine Fahrkarte bis Leipzig. Dort würde sie umsteigen und mit einer anderen Linie weiterfahren müssen, aber es war ihr egal. Hauptsache sie musste nicht laufen. Im Bus ganz hinten war glücklicherweise alles frei. Sie setzte sich und lehnte den Kopf an die kühle Scheibe. Während der ganzen Heimfahrt dachte Lilly nach. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie zu einem irgendwie absurd klingenden Punkt kam.

Vampire.

Sie las gern Bücher über solche Dinge und hatte sich schon so manches Mal vorgestellt, wie es wäre einer zu sein. Sie wusste auch, dass es Personenkreise gab, die diese Lebensart richtig auslebten. Mit Blut trinken und allem drum und dran. Grundsätzlich hatte Lilly nie bezweifelt, dass es auch übernatürliche Dinge geben konnte, doch nun da sie sich damit konfrontiert sah?

Endlich zu Hause angekommen, ließ sie sich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Ihre Aufmerksamkeit lag aber noch immer auf letzter Nacht. Es konnte nicht sein. Grübelnd stand sie wieder auf und ging zu ihrem Bücherregal. Verschiedene Vampirromane standen darin, doch Lilly betrachtete nur die Einbände. Sie hatte alle gelesen und kannte die Merkmale, mit denen die Untoten in den Büchern beschrieben waren.

Heute war sie in der Sonne gewesen und sie brauchte weder ein Schmuckstück aus Lapislazuli, das mit einem Zauber belegt war, noch glitzerte ihre Haut. Über diesen zweiten Fakt musste sie schmunzeln. Die Leute hätten sie angestarrt, wie einen Freak, hätte sie wie Edward Cullen gefunkelt.

Lilly erinnerte sich auch an ein Buch, laut dem Vampire ganz normal den Tag verbringen konnten. Nur waren sie tagsüber müde und eher nachtaktiv. Na ja, müde war sie jedenfalls immer noch nicht. Kopfschüttelnd wandte sie sich vom Regal ab und ging in die Küche. Am Waschbecken blieb sie stehen, um sich ein Glas Wasser zu füllen. Dabei schaute sie gewohnheitsmäßig aus dem Fenster hinunter auf die Straße.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen zwei junge Männer. Einer groß und blond, der andere ebenso groß und elegant, aber mit dunklen Haaren, die perfekt lagen. Beide schauten zu ihrem Fenster hoch. Lilly erstarrte. Sie erkannte den Blonden.

Das müssen die zwei von gestern sein, überlegte sie. Da hob der Blonde die Hand, um sie zu grüßen. Der Dunkelhaarige berührte ihn am Arm und machte Anstalten zu gehen. Das Glas in Lillys Hand lief über. Schnell drehte sie den Hahn zu, doch als sie wieder hinaus sah, waren die beiden verschwunden.

„Jetzt wird’s mir aber zu bunt!“, hörte sie sich sagen, stellte das Glas in die Spüle, ohne getrunken zu haben, zog sich an und ging hinaus, um zu sehen, wohin die Typen verschwunden waren.

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