Читать книгу Vorkoster gesucht! - Steffen Unger - Страница 7

Einleitung

Оглавление

Das Arbeitsleben in der Antike unterscheidet sich zum Teil gravierend von dem späterer Zeiten und dem unseren. Nicht allein der Fakt, dass ein Mensch Eigentum eines anderen werden und zu verschiedensten Arbeiten gezwungen werden konnte, beeinflusste die damalige Berufsbildung, Arbeitsverteilung oder -einstellung immens. Auch das weitgehende Fehlen von Wirtschaftsanalysen, der recht konstante Entwicklungsstand der technischen Hilfsmittel, die heute fremden Praktiken, Sitten und Bräuche schufen und beeinflussten die Berufe, über die wir uns heute teilweise wundern mögen. Zugleich war die Menschheit seit eh und je von Umständen betroffen, die bis heute anhalten, oder sie ging ebenso dauerhaften Beschäftigungen und Interessen nach. Vor allem Metropolen wie Athen oder Rom waren beispielsweise vom Getreideimport abhängig und konnten bei Lieferschwierigkeiten oder Missernten in schwerste Krisen geraten. Im ländlichen Bereich, der in der vorindustriellen Gesellschaft den wirtschaftlichen Löwenanteil stellte, hatte die Selbstversorgung der freien Kleinbauern, die Hauptstütze der antiken Staaten, oberste Priorität. Regierungen ergriffen mitunter die Initiative, um den Preis zu binden; die Regelung von Grundeigentum oder Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sorgten bereits vor über 2000 Jahren für Aufruhr. Politiker kämpften gegen derartige Probleme oder nutzten sie für den eigenen Machtausbau. Die Menschen begeisterten sich für sportliche – oft auch tödlich endende – Wettkämpfe und musische Darbietungen, die Römer liebten die Thermen, und nicht zuletzt muss man der recht chauvinistischen Aussage, Prostitution sei „das älteste Gewerbe der Welt“, einen gewissen Wahrheitsgehalt zusprechen. Kluge Köpfe entwickelten in verschiedenen Bereichen erstaunlich hochwertige und präzise Geräte, clevere Strategien oder auch Gesetze, die bis heute im Einsatz sind bzw. gelten.

Zahlreiche Berufe oder Tätigkeiten, die damals gelernt oder ungelernt, bezahlt oder unbezahlt, freiwillig oder erzwungen ausgeübt wurden, existieren noch heute, andere mögen aus heutiger Sicht absurd erscheinen. Die antike Welt wirkt zum einen fremd, zum anderen vertraut, denn unsere Kultur beruht in beträchtlichem Maße auf ihr.

Diese Sammlung von „100“ Berufen – eine exakte Zahlenangabe ist allein aufgrund der häufigen Überlagerungen der Aufgabenbereiche und Kompetenzen sowie der oft ungenauen und verschiedenen antiken Bezeichnungen für ein und dieselbe Tätigkeit kaum möglich und auch nicht gewollt –, in zehn Branchen eingeteilt und untereinander verknüpft, ist durch Infokästen mit Zusatzinformationen und spektakulären Anekdoten und Fakten sowie durch eine halbfiktive und eine fiktive Reportage aus dem spätklassischen Athen bzw. dem kaiserzeitlichen Rom bereichert.

Aphrodites Ebenbild


Die Venus von Milo zeigt den Moment, als Phryne den Ältestenrat verzauberte.

Der Redner hat sein Plädoyer beendet. Starr verharrt er inmitten des Gerichts. Seine Augen wandern über die Gesichter der ehemaligen Archonten. Er versucht Ruhe zu bewahren. Schier unmöglich. Die Altehrwürdigen tuscheln, teils gelassen, teils energisch, mit vorwiegend verstimmten Gesichtern; dann kehrt Ruhe ein. Alle warten auf das Wort des Vorsitzenden. Doch Aristomenes verharrt auf seinem Platz …

‚Warum schweigen sie? Aristomenes müsste zum nächsten Punkt übergehen! Was würde Isokrates wohl sagen? Ich wünschte fast, er wäre hier! Ich habe all seine Ratschläge, die er uns jahrelang erteilt hat, befolgt und verbessert. Und dennoch: Diesmal …‘

Erst nach einer Weile erhebt sich der 72-jährige Vorsitzende des Areopags. Er wendet sich dem Redner zu und spricht in tiefem Bass: „Ich danke Euch, Hypereides. Für diese – nun ja – wie erwartet beeindruckende Rede, dieses Mal nicht als Ankläger, sondern als Verteidiger. Ich kann Euch versichern, dass Ihr auch darin dem hohen Gericht glaubwürdig erscheint. Zu glaubhaft diesmal, fürchte ich. Ihr macht selbst kein Geheimnis aus Eurer Beziehung zur Angeklagten. Doch das ist nicht der einzige Grund dafür, weshalb Euer Erfolgskurs in Gefahr ist.“

Mehrere Mitglieder des Areopags stimmen lauthals zu. Aristomenes genügt ein kurzes Handzeichen, um sie zur Ruhe zu bringen.

„Bevor wir abstimmen, frage ich, ob sich jemand zur Rede des Hypereides äußern möchte.“

Prompt erhebt sich ein etwa Fünfzigjähriger mit Glatze und grauem Vollbart. Hypereides, etwa gleichen Alters, nur etwas fülliger, knirscht leise: „Alexias. Kein Wunder.“

Der hagere Athener schaut zum Vorsitzenden und sagt auf dessen Zeichen hin: „Ich teile Eure Meinung, ehrwürdiger Aristomenes. Hypereides hat auch mich erneut davon überzeugt, bei Isokrates durch eine hohe Schule gegangen zu sein. Und gerade hier liegt das Problem! Wie wir alle wissen, äußert sich der alte Lehrmeister seit Längerem öffentlich im Sinne der Makedonier! Er scheint Philippos regelrecht zu bewundern! Das sollte Euch doch genauso stören wie viele andere auch, da Ihr wie sie und ich die Gefahr erkannt habt, die über uns schwebt. Wir alle spüren doch, wie Philipp, der große Retter Delphis, immer weiter nach Griechenland ausgreift. Und alles nur wegen der verräterischen Bundesgenossen, die wir so entbehrungsreich bekämpfen mussten. Wir können uns ganz besonders jetzt Skandale wie um diese Frau in unserer Stadt nicht leisten. Der Areopag muss durchgreifen, um seinen uralten Einfluss zu bewahren, und die Position aller künftigen Archonten stärken!“

„Der Krieg war nicht der einzige Grund, das weißt du, Alexias!“, platzt sein Rivale Pytheas in die Rede. Andere unterstützen ihn lauthals: „Du begehrst sie doch selbst! Das weiß die ganze Stadt!“

Alexias schnaubt.

„Um mich geht es hier nicht, sondern einzig und allein um die Angeklagte. Sie hat die Götter beleidigt. Diesen Frevel zu verzeihen heißt, selbst zu freveln!“ Seine Sympathisanten brüllen, die Situation scheint zu eskalieren. Aristomenes eilt in die Mitte des Saals. Der Schein der Öllampen lässt sein erregtes Gesicht streng und alt erscheinen; seine Augen treten hervor. Er dreht sich mehrere Male behäbig um sich selbst und hält dabei seinen Gehstock in die Höhe. Diesmal kehrt erst Ruhe ein, als die Gerichtsdiener hereinstürmen, die nur selten auf dem Areshügel zum Einsatz kommen. Die prekäre Situation vorausschauend, hat er sie beim Rat der 500 für den Prozess beantragt. Sie stellen sich zwischen die beiden Lager, die sich im Lauf des Wortgefechts formiert haben. Er ermahnt seine Kollegen immer wieder zur Ruhe. Erstaunt richten die Areopagiten ihre Gewänder und setzen sich. Der Alte tritt auf Hypereides zu.

„Geht bitte einen Moment hinaus, Hypereides.“

Der Redner nickt; er geht auf die Tür zu. Ein Diener öffnet und schließt sie hinter ihm. Hypereides stellt sich an die kleine Mauer, die den Areshügel begrenzt, und schaut hinüber zur Akropolis. An der mehr als hundertjährigen Athena, die oben schwer bewaffnet über die Stadt wacht finden Ausbesserungsarbeiten statt. Der gewaltige Bronzekörper ist bis zur Hüfte von einem Gerüst bedeckt, auf dem einige Handwerker arbeiten. Von unten scheinen sie Anweisungen zu erhalten, vielleicht vom Baumeister. Hypereides genießt es, sich in Gedanken über die Geschichte seiner Heimatstadt zu verlieren, um von seinem momentanen Kummer Abstand zu nehmen. Zumindest für einige Momente. Er wird jedoch eher als gewollt zurückgeholt: Sie sagt nichts, doch er weiß, was sie sagen würde – wenn sie wollte. Dass es keinen Ausweg gibt. Nicht in dieser von Männern bestimmten Welt.

„Wenn sie Sokrates verurteilt haben, dann mich erst recht“, sagt Phryne trocken, die mit ihren Sklaven neben dem Gebäude gewartet hat und leise an ihren Liebhaber herangetreten ist. Sie trägt einen feinen Chiton, darüber einen Mantel, im Haar ein Band – keine Schuhe und keinen Schmuck. Hypereides schaut zum Parthenontempel, dreht sich dann langsam um. Er weiß nicht, ob er ihren Anblick heute verkraften kann. Es verbindet ihn mehr mit ihr als bezahlte Erotik und anspruchsvolle Konversation, wie sie typisch für Hetären sind. Zumindest gilt das für ihn. Was sie fühlt, hat er nie erkennen können. Doch ist er sich sicher – genau deshalb liebt er sie.

„Was kann ich nur tun? Ich habe auf Praxiteles verwiesen, deinen Einfluss, deine großzügigen Weihungen und Spenden. – Sie reden nur von Gottlosigkeit. Ich weiß nicht, was passiert.“

Sein Blick streift die vier Leichtbewaffneten, die den Weg hinab in die Stadt – die Fluchtmöglichkeit – blockieren. Den Felsen hinabklettern? Würde zu lange dauern … Hypereides hört nicht, wie Phryne seinen Namen wiederholt, merkt aber ihren festen Griff an seinen Schultern. Er blickt sie verstört an; sie nickt in Richtung Gebäude. In der Tür steht sein Freund Skamandrios und winkt ihn heran, kommt Hypereides aber auch entgegen.

Leicht geduckt flüstert er: „Es ist noch nicht entschieden. Ihr könnt wirklich froh sein, dass der Fall von der Heliaia hierher verlegt worden ist – vor dem Volk wäre das Urteil längst gefallen. Du kannst sie noch retten, aber gib acht, was du sagst. Die Mehrheit scheint Alexias zu folgen!“

„Richtig.“ Alexias steht plötzlich hinter ihm. Er schaut argwöhnisch zu Phryne und ruft: „Das Gericht hat tatsächlich entschieden, die Angeklagte selbst vorzuladen – an deiner Seite, Hypereides.“

Grinsend fügt er hinzu: „Wollen wir sehen, ob Tugend oder Laster überwiegen. Das wird entscheidend sein.“

Hypereides folgt zögernd den festen Schritten Phrynes. Sie stellt sich mitten in den Saal.

Aristomenes fährt fort: „Also, Hypereides. Wir stimmen dir zu, dass Praxiteles ein großartiger Künstler ist. Ganz gewiss hat er hervorragende Werke geschaffen, doch zeigen sie nicht das, was Athen jetzt braucht: Stärke und Gemeinschaftsdenken. Und wo ist Praxiteles? Warum weilt er nicht unter uns? Weiß jemand, wo er sich aufhält?“

„Wie ich hörte, in Megara oder Korinth.“

„Ach was, er ist in Thespiai, wo er die Hetäre in Gold verewigen soll! Wie die Göttin selbst!“

„Sie hätte in Böotien weiter Gemüse verkaufen sollen!“

„Ruhe!“, wiederholt Aristomenes. „Das geht zu weit, Alexias!“ Der Vorsitzende wendet sich Phryne zu und ruft: „Jedoch – in der Tat lautet die von mehreren Bürgern bestätigte Anklage, die hier Vorgeladene habe mehrfach geäußert, sie sei mindestens genauso schön wie Aphrodite selbst, also könne Praxiteles die Göttin auch nach ihrem Abbild schaffen – noch dazu völlig nackt! Entspricht dies der Wahrheit? Ich gebe Euch, Hypereides, nun eine letzte Möglichkeit, diesen ungeheuren Vorwurf zu entkräften.“

Phryne schaut Hypereides an: Was wird er antworten? Welches Argument bleibt noch? Er selbst ist wie gelähmt, starrt erneut in die Runde. Ein Blick zu seiner Geliebten … Sie scheint sich ihm zuzuwenden und einen Arm zu heben! Will sie ihn berühren? Ihm etwas zeigen? Er denkt nicht weiter nach – er handelt. Blitzschnell fliegt ihr Mantel vom Körper, Hypereides springt geradezu vor Phryne hin, schaut ihr tief in die Augen – und zerreißt ihren Chiton in zwei Zügen. Bis auf einen kleinen Schurz bekleidet, steht sie regungslos vor der entsetzten Versammlung. Erst verschränkt sie die Arme, dann senkt sie sie, atmet entspannt aus und schaut geradeaus an die Wand.

Die einstigen Archonten springen auf, wenden sich beschämt ab, um im nächsten Moment doch hinzuschauen, trauen ihren Augen nicht oder wollen ihre Erregung nicht wahrhaben. Der Körper der über vierzigjährigen Hetäre ist, wie sie finden, makellos; ihre Haut marmorglatt. Es ist ein Rätsel, warum sie ihren eigentlichen Namen, den keiner hier kennt, abgelegt hat und sich „Kröte“ nennt oder nennen lässt.

Als sich der Tumult etwas gelegt hat, beschwört Hypereides die gelähmte Menge. „Seht selbst, warum Praxiteles sie als Modell gewählt hat! Phryne steht unter Aphrodites Schutz höchstpersönlich. Nicht wer sie verteidigt – wer sie verurteilt, der frevelt, der kränkt die Göttin! Ich fordere Freispruch! Freispruch!“

Die überwiegende Mehrheit beginnt tatsächlich zu jubeln. Alexias tobt und brüllt dazwischen, doch nur seine direkten Nachbarn können ihn verstehen. Er drängt sich aus dem Gemenge und verlässt das Gebäude. Aristomenes und Hypereides schauen sich stumm an – ihre Blicke schweifen vorbei an der nackten Phryne, die nicht aufhört, in Bewegungslosigkeit zu verharren. Nur ein kurzes, kaum erkennbares Augenzwinkern zeigt Hypereides ihr ungebrochenes Selbstbewusstsein.


Vorkoster gesucht!

Подняться наверх