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Griechenland Die Archonten – zehn „Herrscher“ aus älterer Zeit
ОглавлениеIn vielen griechischen Poleis war das Archontat jahrhundertelang das höchste politische Amt. Es war aus der königlichen Gewalt hervorgegangen, die in Athen im Verlauf der sogenannten dark ages, vielleicht im 11./10. Jahrhundert v. Chr., abgeschafft worden war. Hier verteilten sich die umfassenden Kompetenzen erst auf einen, später auf drei archontes aus dem Geburtsadel (die Eupatriden), die für zehn Jahre gewählt wurden und in einem eigenen Gebäude tagten. Um deren Macht weiter einzudämmen, konnten sie ihr Amt – folgt man der erhaltenen, wenn auch unvollständigen Archontenliste Athens – ab dem Jahr 683 v. Chr. nur noch für ein Jahr ausüben. Man durfte das Amt prinzipiell nur einmal innehaben. Solon, der Archon des Jahres 594/93 v. Chr., der selbst den Eupatriden angehörte, teilte die Bürger in vier Vermögensklassen ein – das Archontat blieb zunächst der ersten Klasse vorbehalten. Dennoch war die bisherige Macht des Geburtsadels stark beschnitten worden.
Vorsitzender war der archon (eponymos), nach dem etwa seit klassischer Zeit datiert wurde. Er klärte Familien- und Erbschaftsangelegenheiten, organisierte religiöse Feste und empfing Gesandte. Der archon basileus führte den Titel des Königs fort und hatte dessen einstige religiöse Macht inne; er entschied über Morde und Fälle, in denen dem Angeklagten Gotteslästerung vorgeworfen wurde. Der archon polemarchos war ursprünglich der militärische Oberbefehlshaber, war für andere Feste verantwortlich, entschied unter anderem auch über Streitigkeiten mit Nichtbürgern, vor allem Metöken. Sie alle hatten eigene Gehilfen.
Infolge massiver Unruhen – in der Archontenliste ist zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. von anarchia die Rede – wurde das Amt, um eine noch abwechslungsreichere Besetzung zu gewährleisten und als wirksames Mittel gegen Korruption, etwa zu jener Zeit auf neun bzw. zehn Köpfe verteilt. Dazu gehörten die Thesmotheten, die „Gesetzeshüter“. Sie schrieben Gesetze nieder und bewahrten sie auf, informierten die Öffentlichkeit über ergangene Gesetzesvorschläge und hatten umfassenden Einfluss auf Gerichtszeiten und -beschlüsse, die komplizierte Auswahl der Richter und Geschworenen. Der ihnen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. vom Staatsmann Kleisthenes zugeteilte Sekretär, der grammateus, unterstützte sie bei schriftlichen Formalitäten. Für die Zeit der Peisistratiden, der Tyrannen Athens (546–510 v. Chr.), sind zwar Archonten nachgewiesen; sie entstammten jedoch Familien, die den Peisistratiden ergeben waren, oder dem Tyrannengeschlecht selbst.
Die insgesamt zehn „Herrschenden“ kamen ansonsten aus allen zehn Bezirken (Phylen) Attikas, die Kleisthenes eingerichtet hatte – erst Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden zwölf festgelegt. Sie legten zu Beginn ihrer Amtszeit einen Eid ab und mussten am Ende einen Rechenschaftsbericht vorlegen. Als Zeichen ihrer altehrwürdigen umfassenden politischen Gewalt trugen sie eine Art Krone. Nichtsdestotrotz verlor das Gremium in klassischer Zeit weiter an Einfluss. Staatsmänner der demokratischen Partei übertrugen viele Kompetenzen wie das militärische Oberkommando nach und nach auf die Strategen. Diese wurden fortan gewählt, während die Archonten spätestens seit 487 v. Chr. ausgelost wurden. Den hippeis („Rittern“), den Bürgern der zweiten Zensusklasse, stand das Amt seit etwa dieser Zeit offen. Die Staatsmänner Perikles und Ephialtes bewirkten 457 v. Chr., dass auch Angehörige der dritten Zensusklasse – der Zeugiten, die ein kleines Grundstück besaßen und zu denen die meisten Hopliten zählten –, diesem Rat beitreten durften. Insgesamt stand also wahrscheinlich mindestens der Hälfte aller athenischen Bürger das einst mächtige Kollegium offen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Themistokles, der Sieger über die Perser in der Schlacht von Salamis 480 v. Chr., der letzte namhafte Archon war. Er amtierte 493 v. Chr. Das Hauptaugenmerk der Athener lag nunmehr auf den Strategen.
Dass viele politische Ämter seit Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen, das auf dem Höhepunkt seiner Macht war, vergütet wurden, wird ein weiterer Dämpfer für die Aristokraten gewesen sein: Mittellose konnten es sich nun finanziell erlauben, ein öffentliches Amt zu besetzen! Dieses demokratische Standbein überdauerte ungefähr zwei Jahrhunderte. Im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurde festgelegt, dass schließlich auch die Theten, die besitzlosen Bürger, als Archon wirken durften.
Orthagoras von Sikyon war der Sohn eines Opferschlachters. Er wurde Polemarch und schwang sich dadurch zum Tyrannen – einem gesetzlich nicht anerkannten Gewaltherrscher – auf. Sein Bruder Myron, Olympiasieger von 648 v. Chr. im Wagenrennen, wurde sein Nachfolger. Die Tyrannis der Orthagoriden hielt sich erstaunliche hundert Jahre. Der letzte ihrer Tyrannen war Kleisthenes, Großvater des bekannten Reformpolitikers. Er siegte 572 v. Chr. ebenfalls im olympischen Wagenrennen.
Seit Solon konnten die Archonten nach ihrer Amtszeit lebenslanges Mitglied im Areopag, dem Altenrat, der auf dem „Areshügel“ gegenüber der Akropolis tagte, werden. Diesem altehrwürdigen Rat hatten zuvor nur Eupatriden angehört. Sie hatten den Beraterstab des Königs gebildet, sollen als das älteste Gericht schon in mythischer Zeit aktiv gewesen sein und waren bald mit vielen Verwaltungsangelegenheiten betraut worden. Im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. bestimmten die Areopagiten im Wesentlichen die Staatsgeschäfte, wachten über die Einhaltung der Sitten, die politischen Ämter oder prüften die Qualifikation von Bewerbern.
In klassischer Zeit büßten sie wie zuvor als Archonten zahlreiche ihrer alten Funktionen ein. Der radikale Demokrat Ephialtes bewog die Volksversammlung zur Verabschiedung von Gesetzen, die dazu führten, dass viele Kompetenzen auf andere Gremien wie die Boulé, den Rat der 500, übertragen wurden. Etwa hundert Jahre lang beschränkten sich die Debatten der geschwächten, aber immer noch geachteten Areopagiten, die bei der damaligen geringen Lebenserwartung höchstens 150 Mann gewesen sein können, auf Mordfälle und solche mit religiösem Hintergrund wie vielleicht den der Phryne. Danach sprach man ihnen wieder einige Funktionen zu, vor allem in Sachen Sittengesetzgebung. Der Areopag blieb auch in der Kaiserzeit eines der wichtigsten Gremien im alten Athen.
Der erste, wenn auch mythische Archon Athens regierte Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr., der letzte bekannte „herrschte“ im Jahr 484/85 n. Chr. Das Amt hatte somit – mit Unterbrechungen – das Weströmische Reich mit dessen Königen, Konsuln, Diktatoren und Kaisern überdauert. Auch in Ostrom (Byzanz) wurde es bis zu dessen Untergang abgewandelt beibehalten.