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Der linkshändige Pfad und die griechischen Mysterien
ОглавлениеDie ganze Thematik der unterschiedlichen Mysteriensysteme – ihre Ursprünge, ihre Wechselbeziehungen, und besonders, was sie lehrten und wie sie es lehrten – bleibt, wie zu erwarten, mysteriös.4 Die initiatorische Funktion des Mysteriums (griech. Mysterion) ist in vielen religiösen oder magischen Systemen und Einweihungen kraftvoll und tiefgreifend, doch ihre volle Bedeutung ist bisher nicht aufgedeckt.5 Ebenso bleibt im Dunkeln, welche Aspekte der Mysterien dem rechtshändigen und welche dem linkshändigen Pfad zugerechnet wurden, doch hoffe ich, diese Frage etwas erhellen zu können.
Wie Nietzsche Jahrhunderte später ausführte, gab es in der hellenischen (und daraus folgernd in der indoeuropäischen) Kultur im Wesentlichen zwei geistige Vorgehensweisen: die dionysische und die apollinische. Natürlich besteht ein menschlicher, allzumenschlicher Drang, die eine mit dem Guten und die andere mit dem Bösen gleichzusetzen, doch ist dies stets kontraproduktiv. Tatsächlich kann jede philosophische Annäherung, die zur Erkenntnis führt, sowohl für die geistigen Ziele des rechtshändigen als auch für die des linkshändigen Pfades eingesetzt werden – und das Ideal ist vielleicht eine Synthese aus beiden.
Die dionysische Annäherung ist die der Orgia (Orgie), bei der sich das menschliche Bewusstsein mit dem göttlichen vereinigt, indem das alltägliche Bewusstsein soweit reduziert wird, dass das göttliche – oder „das andere“ – es subsumiert. Die dionysische spirituelle Technik nutzt Rhythmen (Trommeln, Tanz etc.), Drogen (z. B. Wein) und vielleicht auch Sex, um die normale Bewusstseinsschwelle mittels Überreizung der physischen Sinne zu senken und dadurch eine Vereinigung mit dem Göttlichen geschehen zu lassen.
Die apollinische Annäherung ist die der Katharsis (Reinigung), durch die das Bewusstsein geläutert wird und sich (mittels geistiger Disziplin und körperlicher Beschränkung) in solchem Maße von Unreinheiten entfernt, dass das Bewusstsein letztlich auf die göttliche Ebene erhoben wird. Die apollinische spirituelle Technik nutzt Verstand und körperliche Mäßigung (wie eine eingeschränkte Ernährung, Vegetarismus usw.), um mittels Unterdrückung der physischen Sinne die Bewusstseinsschwelle anzuheben und so der Seele die Vereinigung mit dem Göttlichen zu erlauben.
Orphismus oder die Orphischen Mysterien (nach dem Mythos von Orpheus benannt) verwenden beide Techniken, wobei anscheinend die apollinische überwiegt. Sowohl die orphische als auch die pythagoreische Mysterienschule – welche möglicherweise einen gemeinsamen Ursprung haben – praktizierten Vegetarismus. Was immer die historischen Ursprünge dieser Praxis waren, mythisch lässt sich ihre Spur zu jenem ersten Tieropfer zurückverfolgen, das Prometheus in Mekone darbrachte. Die gemeinschaftliche Beteiligung an solchen Opfern war geradezu eine Pflicht. In der indoeuropäischen Praxis wurde bei solchen Opferritualen ein Tier geschlachtet und dann mit den Göttern geteilt – die harten oder ungenießbaren Teile gingen an den Gott (oder die Götter), und die essbaren Teile wurden in einem Akt der Kommunion mit den Göttern von den Gläubigen verzehrt. Tiere wurden feierlich geschlachtet, wobei man darauf achtete, dem Tier so wenig Schmerz und Angst wie möglich zuzufügen, denn man glaubte, dass dem Tier ein göttliches Wesen innewohnt. Die Orphiker und Pythagoreer sahen im Verzehr von Fleisch als Zeichen der Präsenz des „titanischen“ (d. h. niederen oder unter-göttlichen) Elements im Menschentum und in der Praxis des Fleischessens eine Verstetigung dieses titanischen Elements. Ihre Ablehnung des Fleischverzehrs brachte auch die Absonderung von der Hauptströmung der hellenischen Gesellschaft mit sich. Sie wiesen die etablierten religiösen und gesellschaftlichen Praktiken ihrer Zeit zurück.6
Der Gesamtprozess der Initiation in diese Mysterien – die voraussetzten, dass der Mensch eine Mischung aus titanischer und göttlicher Natur ist, beinhaltete Läuterungen (katharmoi), gefolgt von Initiationsriten (teletai) und dem konstanten Führen eines „orphischen Lebens“. Mit diesen Methoden konnte man das titanische Element eliminieren und zu Bakkhos werden: „abgetrennt“ und in einer „göttlichen, dionysischen Verfassung“.7
Dieses Thema der „Abtrennung“ von der konventionellen gesellschaftlichen und der natürlichen kosmischen Ordnung ist eine Gemeinsamkeit mit dem linkshändigen Pfad. Eliade schlussfolgert, dass der Orphiker „in der Lage ist, sich selbst vom ‚dämonischen Element‘ freizumachen, das in jeglicher profanen Existenz sichtbar wird (Ignoranz, Fleisch, Ernährung etc.)“, und dass das letztendliche Ziel „die Absonderung des ‚Orphikers‘ von seinen Mitmenschen und schließlich die endgültige Trennung der Seele vom Kosmos“ ist.8 Dasselbe Thema wird auch in der Sethianischen Philosophie von Michael Aquino im Temple of Set hervorgehoben (siehe Kap. 10).
In den orphischen- oder Mysterientraditionen der Griechen gibt es auch einige ursprüngliche Beiträge zur Mythologie des rechtshändigen gegen den linkshändigen Pfad. Offenbar bezieht sich Platon auf mystische Traditionen, als er in seiner Politeia ausführt, dass die Toten auf zweierlei Wegen zum Gericht gelangen: die Gerechten „aufwärts zur Rechten durch den Himmel […], die Ungerechten waren dazu verdammt, den Weg abwärts zur Linken zu nehmen.“9 Dies ist keine literarische oder heuristische Erfindung des Philosophen, denn es gibt archäologische Belege in Gestalt von Grabkomplexen in Süditalien und auf Kreta, wo Gedenktafeln mit Inschriften gefunden wurden, die auf jene hinweisen, die „den Weg zur Rechten“ gehen, „zu den heiligen Feldern und dem Hain der Persephone.“10
In dieser orphischen Eschatologie scheint es so, dass die Guten und Gerechten den Pfad zur Rechten gehen und nicht wiedergeboren werden. Sie trinken vom Quellwasser der Mnemosyne (Erinnerung) und „herrschen mit den anderen Helden“. Doch die Verruchten müssen vom Quell trinken, der Lethe (Vergessen) genannt wird, so dass sie all ihre Erinnerungen an die Anderswelt verlieren, bevor sie sich in dieser Welt „zur Strafe“ reinkarnieren.11
Mit anderen Worten, es ging bei der orphischen Initiation für den Initianden darum, zu einem Gott – oder gottgleich – zu werden. In der Unterwelt wird dem orphischen Initianden gesagt: „O Glücklicher, o Glückseliger! Du bist ein Gott geworden, Mensch bist du gewesen.“12
Die Ansichten darüber, wie eine erstrebenswerte Existenz nach dem Tode aussehen sollte, veränderten sich über die Zeit hinweg. In der frühgeschichtlichen Phase sind die Guten und Tugendhaften anscheinend mit Wiedergeburt um Wiedergeburt auf der Welt belohnt worden, die als ein höchst erstrebenswerter Ort des Daseins galt. Dies lief auf eine irdische Unsterblichkeit in immer wieder verjüngten Körpern hinaus. Schließlich sollten diese tugendhaften Menschen zum Dienst bei den unsterblichen Göttern gerufen werden. Die Sündigen hingegen wurden in jenem frühen Stadium dieser Glaubensvorstellungen mit ewig währendem Tod oder Nichtexistenz „bestraft“. Später scheint es in einigen Kulturen (zum Beispiel bei den Griechen und Indern) eine Verschiebung der Vorstellungen vom Leben auf dieser Welt gegeben zu haben. In dieser späteren Phase besagte der Glaube, dass die Sündigen mit ständigen Wiedergeburtszyklen auf der Welt bestraft, die Tugendhaften hingegen mit einer ewigen Existenz unter den Göttern und Helden belohnt würden.