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Der linkshändige Pfad im Norden
ОглавлениеDer germanische linkshändige Pfad
Während wichtige Wurzeln des westlichen linkshändigen Pfades sich im Mittelmeerraum aus einer philosophischen, nonkonformen Haltung heraus entwickelten, finden wir die Wurzeln des linkshändigen Pfades in den nördlichen Gefilden im Grunde der etablierten Kultur. Während Zeus/Jupiter, der indoeuropäische Gott von Gesetzes und Ordnung, im Süden herrschte, hatte Odin/Wodan, der Gott der Magie und des Todes, im Norden seine Macht inne. Die Gottheit desselben indoeuropäischen Ursprungs wird bei den Iren „Lugh“ (gesprochen „luh“) und bei den Walisern „Lleu“ (gesprochen „lai“) genannt. „Lugh/Lleu“ bedeutet wörtlich übersetzt „Licht“ – und der gebräuchliche walisische Name Llewellyn bedeutet „Lichtbringer“ (vgl. lat. „Lucifer“).
Wenn wir uns auf die Suche nach der dunklen Seite der nordischen Mythen machen, kommen wir an Odin nicht vorbei. Der Name „Odin“ bedeutet „Herr der Inspiration“.23 Die altnordische Form ist „Óðinn“. Der Schlüssel zu diesem Namen liegt in dem altnordischen Wort óðr, das „dichterische Inspiration“ bedeutet und von der urgermanischen Wurzel wōð- abgeleitet ist, was „Wut“ und „Inspiration“ gleichermaßen bedeutet. Der altnordische Name „Óðinn“ ist identisch mit dem altenglischen „Woden“ (es ist eine sprachliche Regel im Altnordischen, vor bestimmten Vokalen den Anfangsbuchstaben „W“ wegzulassen). Dies ist ein ausgesprochen „psychischer“ Gott, da sein Name und seine Funktion sich auf essentiell seelenbezogene oder psychologische Kräfte und Fähigkeiten beziehen. Häufig wird er als ein düsterer Gott der Intrigen und mysteriösen Ränke beschrieben.
Odins maßgebliche Rolle bei der Gestaltung der Welt und der Entstehung der Menschheit ist in der nordischen Mythologie klar umrissen. Mit seinen beiden Brüdern Vili (Wille) und Vé (Heiligtum) zusammen (die eigentlich Seinsstufen seiner selbst sind) vollbringt Odin das erste Opfer mit der Tötung des Riesen Ymir, aus dessen Körperteilen sie den materiellen Kosmos formen. Um universelles Wissen zu erlangen, gibt (opfert) sich Odin „sich selbst“ und empfängt die Runen, Symbole gegliederten universellen Wissens.24 Diese Runen teilt er mit bestimmten Menschen. Ferner opfert Odin eines seiner Augen – das darauf in Mimirs Brunnen (dem Brunnen der Erinnerung) versinkt –, um die seherische Gabe zu erlangen, die der Brunnen jenen zuteil werden lässt, die aus ihm trinken.25 Er (und mit ihm jeder seiner beiden anderen Aspekte) beschenkt die Menschen mit dreifachen spirituellen Qualitäten, die sie von da an mit den Göttern teilen.26 Was das Teilen des göttlichen Bewusstseins und der Runen mit den Menschen betrifft, ähnelt Odin sehr dem Prometheus der hellenischen Mythologie. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Odin mit seinem Handeln nicht gegen ein herrschendes Gesetz verstößt.
In Gestalt von Rig („König“) zeugt er mit drei verschiedenen Menschenfrauen die drei gesellschaftlichen Klassen: Bauern, Krieger und Könige.27 So ist er nicht nur für die seelischen Strukturen der Menschen verantwortlich, sondern ebenso für die gesellschaftlichen Strukturen – beide spiegeln die göttliche Ordnung wider. Aus diesem Grunde wird Odin auch Alfaðir oder Alföðr (Allvater) genannt. In der Gestalt des Bölverkr (Übeltäter) beschafft er den Göttern und den Menschen durch eine List den Skaldenmet der Inspiration.
Selbst in vorchristlicher Zeit hatte Odin bereits etwas „Düsteres“ an sich oder einen gefährlichen Ruf. Dies hat vielerlei Gründe, doch der Hauptgrund für seinen Ruf scheint, dass er in Dinge vertieft ist, die für Menschen nur schwer begreiflich sind und die sie deshalb fürchten und vor denen sie zurückschrecken. Dennoch gilt Odin als höchster Gott der germanischen Welt vom angelsächsischen England bis nach Deutschland und von Island bis Schweden. Zu seinem düsteren Ruf trägt auch bei, dass er in seinem Streben nach Wissen und Macht die zwei – ethisch betrachtet – größten Verbrechen beging: Um die Weltordnung zu errrichten, tötete er einen Verwandten (dieses Verbrechen hat er mit dem griechisch-römischen Zeus-Jupiter gemeinsam), und um den Skaldenmet zurückzuerlangen, bricht er einen Eid. Diese und andere Taten lassen Odin den meisten Menschen unzuverlässig erscheinen.
In der alten germanischen Überlieferung ist Odin beides: der Herr des Lichtes und der Fürst der Dunkelheit. Er ist der Gott der Elite und des Adels, daher der Gott des Königtums und der Herrschaft. Er ist der Vater der Magie und der Kraft, zu erschaffen und zu zerstören. Er ist der Gott der Dichtkunst: der Gott der Formulierungskunst und der Kodifizierung des Wissens. Sowohl seine magische Kraft als auch seine „gnostischen“ Formeln verkörpern sich in den Runen („Mysterien“). Schließlich ist er noch der Gott der Toten, der über den Tod gebietet, wie seine Herrschaft über alle Transformationsprozesse zeigt. Es sollte noch angemerkt werden, dass der keltische Lugh/Lleu nahezu all diese essentiellen Eigenschaften mit seinem germanischen Pendant teilt.28
Die Geschichte der Bekehrung der germanischen Stämme zum Christentum ist für das bessere Verständnis der späteren Entwicklungen in der germanischen Welt und unter den Nachkommen dieser Stämme in Richtung des linkshändigen Pfades bedeutsam.
Unter den germanischen Völkern, die als erste zum Christentum konvertierten, waren einige gotische Stämme, die der theologischen Schule des Arianismus anhingen. Der Arianismus ist nach Arius von Alexandria, einem Priester aus dem vierten Jahrhundert, benannt. Arius war der Meinung, dass der Sohn vom Vater erschaffen wurde und daher nicht mit ihm identisch sei. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Goten ihr eigenes, spezifisch germanisches Christentum entwickelt hatten, denn alle germanischen Stämme, die zum neuen Glauben übertraten, konvertierten gleichermaßen zu dieser „gotischen Kirche“. Die Goten trennten ihre Religion und ihr Volk von der römischen Kirche und den römischen Bürgern ab. Diese Art nationaler Selbstbestimmung ist jedoch dem universalistischen, imperialistischen römischen (katholischen) Geist ein Gräuel. Die gotische Form des Christentums ist durch den Willen gekennzeichnet, biblische Texte in der allgemein gebräuchlichen Sprache zugänglich zu machen (der gotische Bischof Wulfila übersetzte die Bibel um 350 u. Z.), weiterhin durch die Einbeziehung des Volkes in die Liturgie (die römischen Christen verachteten die gotische Praxis, traditionelle Volkslieder mit religiösen Texten umzuschreiben), durch den Glauben daran, dass der Mensch grundsätzlich frei von der Erbsünde geboren wird und Erlösung durch eigene gute Taten erlangt, und dadurch, dass Jesus ein Mensch war, der einen gottgleichen Status erreicht hat und anderen als Beispiel voranging, auf dass sie ihm folgen mögen. Wenn man diese Lehren mit dem römisch-orthodoxen System vergleicht, das weiter unten behandelt wird, sind die Unterschiede offensichtlich. In einer freien Welt – wie sie die germanischen Völker gewohnt waren – wären solche Unterschiede als Normalzustand betrachtet worden, doch der göttliche Plan der römisch-katholischen (= universalen) Kirche fordert: „Ein Gott, eine Kirche, ein Papst!“
Der historische Durchbruch des Universalismus erfolgte im Jahre 496 mit der Konversion des fränkischen („französischen“) Königs Chlodwig (Ludwig/Louis/Clovis) zum römischen Christentum. Chlodwig konvertierte, um von Rom militärische Unterstützung für seine Eroberungspläne in Südfrankreich zu bekommen, das bis dahin von den arianischen Westgoten dominiert wurde. Von da an war der Frankenkönig wichtigster militärischer Erfüllungsgehilfe des Papstes. Die Goten, und mit ihnen anscheinend auch ihr Glaube, wurden schließlich beseitigt, wobei es ein paar geheime Gruppierungen gibt, die behaupten, die gotische Tradition bis heute weiterzuführen. Die esoterischen Aspekte der gotischen Tradition habe ich in meinem Buch The Mysteries of the Goths (2007) aufgezeichnet.
Die Geschichte von der Bekehrung der Deutschen ist gemeinhin blutig. Nach der militärischen Eroberung durch fränkische Könige, die im Auftrag des römischen Papstes handelten, wurden die meisten Bekehrungen unter Todesandrohungen durchgeführt.
Um 597 u. Z. wurde eine römische Mission nach England gesandt, das zu der Zeit ein Bündnis von sieben unabhängigen Königreichen war. Æthelbert, der König von Kent, konvertierte unter dem Einfluss seiner Frau zum römischen Christentum und begann, wenn auch oft nur halbherzig, sowohl militärisch als auch ideologisch gegen die anderen Königreiche Krieg zu führen. Um die Mitte des achten Jahrhunderts war England dann schließlich – zumindest dem Namen nach – christianisiert.
In Skandinavien finden wir verschiedene Szenarien der Bekehrung zum Christentum. Dänemark wurde auf Betreiben der monarchischen Kräfte hin bekehrt, die dadurch ihre Kontrolle über das Land verstärken konnten. Norwegen, damals ein loses Bündnis freier Grundbesitzer, rückte ins Visier von Eroberern wie Olaf Tryggvason, der das ganze Land unter monarchische Kontrolle brachte. Während dieser Vorstöße verließen viele Freie die Region und siedelten auf der zuvor unbewohnten Insel Island. Im Jahre 1000 konvertierte Island friedlich durch ein Parlamentsvotum zum Christentum. Als letzte Region wurde das schwedische Uppland von christlichen Königen erobert, wo 1100 der letzte große Heidentempel von Uppsala niedergebrannt wurde. Doch auch, nachdem die Bekehrung offiziell vollzogen war, hielten sich die vorchristlichen Traditionen noch lange. Hunderte von Jahren existierte in Europa ein ähnlicher religiöser Synkretismus, wie er heute in der Karibik zu finden ist.
Aus der Perspektive des linkshändigen Pfades gesehen, erfuhr die außerordentlich wichtige Gestalt Wotans eine radikale, jedoch voraussehbare, Spaltung seines Persönlichkeitsbildes. Wie all die anderen Götter wurde er nun als Inbegriff des Bösen dargestellt. In manchen Teilen Deutschlands war es verboten, seinen Namen auszusprechen. Aus diesem Grunde wurde der einst nach ihm benannte Wochentag in „Mittwoch“ umbenannt, während Thor (der in Deutschland Donar hieß) den nach ihm benannten Donnerstag behielt. Der ursprüngliche Name des Mittwochs hat in einigen deutschen Dialekten als Wodenestag oder Godensdach überlebt.29 Doch auch nach der Bekehrung behielt Wotan seine Schutzherrschaft über die herrschende Elite. Alle angelsächsischen Könige beriefen sich weiterhin auf ihre Abstammung von Woden,30 und in der englischen Sprache behält er auch seinen Wochentag, Wednesday (Wodenstag).
In der spirituellen Praxis oder der Magie der altertümlichen germanischen Völker verwandelt sich der wotanistische Magier mittels Runenformeln in ein gottgleiches Wesen, entsprechend den charakteristischen Merkmalen des Gottes Wotan. In diesem transformierten Zustand setzt er – wieder, indem er die heiligen Runen anwendet, die sein Schutzgott Wotan erstmals empfing – seinen Willen über das Weltgefüge. In der ältesten Periode nannten sich diese Magier Heruler. Diese Stammesbezeichnung scheint zum Synonym für jene Runenmeister geworden zu sein, die durch ihre Fähigkeiten zu einem den Göttern ähnlichen Status „aufgestiegen“ sind.31
Wotans Vorbild eines beharrlich brütenden, unermüdlichen Suchers nach Wissen und Macht weist archetypisch bereits auf den frühmoderne Mythos von Doktor Faustus voraus, der auf seiner Suche nach diesen Qualitäten alle Hürden überwindet.
Was bezüglich des linkshändigen Pfades im altertümlichen Wotanismus festzuhalten bleibt, ist, dass er eine traditionelle, etablierte Methode der Selbsttransformation nach göttlichem Vorbild anwendete, ohne die Absicht, mit dem Gott zu verschmelzen. Der archaische Wotanismus, der sich letztlich von derselben religiösen Denkströmung ableitet, die wir in ostindoeuropäischen Formen des linkshändigen Pfades vorfinden, war ein Weg, das Selbst göttergleich im Sinne der mythisch-heroischen Vorbilder zu machen, die in den germanischen Überlieferungen gerühmt werden. In diesen religiösen Nährboden wurden die christlichen Vorstellungen eingesetzt – deshalb war das Aufkommen von Ideen des linkshändigen Pfades im kulturellen Kontext zu erwarten. Man bedenke außerdem, dass es der Form des Christentums, wie sie anfangs von den Goten angenommen wurde, selbst nicht an Qualitäten des linkshändigen Pfades mangelte!