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Kognitive Zerrissenheit
ОглавлениеÜber kurze Zeiträume kann das Gedankengeschwätz ganz angenehm sein, besonders bei Tagträumen. Es tut gut, sich an den Strand oder aufs Sofa zu legen und sich vorzustellen, wie die eigenen Wünsche und Ambitionen wahr werden, schöne Stunden aus der Vergangenheit noch einmal vorbeiziehen zu lassen oder sich auf zukünftige Ereignisse zu freuen.
Aber bei dem meisten Gedankengeschwätz dauert es gemeinhin nicht lange, bis Sie sich unwohl fühlen und den Drang spüren, ihm zu entgehen, indem Sie sich auf etwas außerhalb von Ihnen konzentrieren. Das zeigte eine Untersuchung der Universität Harvard aus dem Jahre 2010 recht deutlich, bei der die Forscher eine iPhone-App einsetzten, um die Stimmungen der Menschen zu erfassen. Die Wissenschaftler Matthew Killingsworth und Dan Gilbert befragten rund 2250 Testpersonen nach dem Zufallsprinzip, was sie gerade taten und an was sie gerade dachten. Die Untersuchung ergab, dass die Versuchspersonen etwa die Hälfte ihrer Zeit mit einem „umherschweifenden Geist“ verbrachten: Sie dachten in diesen Momenten nicht an das, was sie gerade taten. Die Untersuchung verdeutlichte die negativen Folgen des Gedankengeschwätzes: Menschen, die mehr Zeit mit einem umherschweifenden Geist verbrachten, zeigten sich auch anfälliger für Depressionen und fanden es schwer, sich zu entspannen. Killingsworth und Gilbert folgerten:
Diese Studie zeigt, dass unser geistiges Leben zu einem bemerkenswert hohen Grad von dem Nichtgegenwärtigen durchdrungen ist. Der menschliche Geist wandert umher, aber ein umherschweifender Geist ist ein unglücklicher Geist ... Die Fähigkeit, über das nachzudenken, was gerade nicht geschieht, ist eine kognitive Errungenschaft, die uns teuer zu stehen kommt.
(Killingworth, M.A., Gilbert, 2010)
Einer der Gründe dafür ist ganz einfach, dass das Gedankengeschwätz in uns für beständige Unruhe sorgt. Mit den Worten des deutschen Mystikers Meister Eckart erleben wir den „Sturm inwendiger Gedanken“. Unser Geist ist voller rasender Gedanken, die wir kaum oder gar nicht kontrollieren können. Und deshalb werden wir unruhig und fühlen uns unwohl – so, als ob außerhalb von uns lauter Lärm und Unruhe herrschten. Sie erzeugen, was Csikszentmihalyi „psychische Entropie“ nennt – mangelnde Kontrolle über unseren eigenen Geist. Das löst Beunruhigung aus, weil es zufällig geschieht und (praktisch) nicht zu kontrollieren ist.
Wie die angeführten Beispiele zeigen, errichtet das Gedankengeschwätz zudem eine Barriere zwischen uns und unseren Erfahrungen. Es hält uns davon ab, die Welt unmittelbar zu erleben. Es erzeugt eine nebulöse Abstraktheit, die unsere gesamten Erfahrungen verwässert und verschleiert – alles, was wir sehen, hören, riechen, fühlen oder berühren. Auf diese Weise wird die Realität zu einem Schatten ihrer selbst. Sie kann sogar unwirklich wirken, wenn die Erinnerungen, Bilder und Ereignisse unseres Geistes echter erscheinen als unsere tatsächlichen Erfahrungen.
Das vielleicht größte Problem des Gedankengeschwätzes ist jedoch häufig seine Negativität. Gedanken über die Zukunft sind häufig von Ängsten und Sorgen gekennzeichnet, Gedanken über die Vergangenheit haben einen Anflug von Bedauern und Bitterkeit, Gedanken über die aktuelle Lebenssituation sind mit einem Hauch von Unzufriedenheit verbunden.
Das hat massive Auswirkungen auf unser Leben, weil negative Gedanken zu negativen Gemütszuständen führen. Wenn ein Freund oder Arbeitskollege etwas Negatives zu Ihnen sagt, werden Sie wütend oder depressiv; in genau dieser Weise reagieren wir auch auf das Gedankengeschwätz. Einige negative Gedanken sind uns so zur Gewohnheit geworden, dass sie fest in uns verankert sind. Sie schreiben das Drehbuch unserer Sorgen und selbstkritischen Einwände, das ständig in unserem Kopf abläuft. Dieses Drehbuch wiederholt zum Beispiel immer wieder: „Ich verdiene das nicht – ich soll einfach nicht glücklich sein“, „Ich kann das nicht machen – es ist falsch“ oder „Sie ist viel attraktiver/erfolgreicher/glücklicher als ich – warum bin ich nicht wie sie?“ Das Drehbuch sorgt für ein Gefühl der Angst und der Unzufriedenheit und erzeugt mangelndes Selbstvertrauen und ein geringschätziges Selbstbild.
Deshalb können kognitive Therapien wie etwa die kognitive Verhaltenstherapie wirksam sein. Diese geht davon aus, dass unsere Gedanken unsere Stimmungen und Gefühle bestimmen. Die kognitive Verhaltenstherapie zielt darauf ab, gewohnheitsmäßige negative Gedankenmuster zu erkennen und sie dann durch objektivere oder positive Gedanken zu ersetzen. Anders gesagt, die Therapie will die zugrunde liegenden Drehbücher unseres Gedankengeschwätzes neu programmieren. Zumindest kurzfristig kann sich das durchaus positiv auswirken. Untersuchungen haben beispielsweise gezeigt, dass die kognitive Verhaltenstherapie bei der Behandlung von Depressionen und Angstzuständen ebenso effektiv ist wie Meditation. Sie kann sogar die körperlichen Symptome von Krankheiten wie Krebs oder rheumatoide Arthritis mildern.
Warum aber, fragen Sie sich, sind unsere Gedanken so negativ? Warum versteifen wir uns so oft auf das Negative und nicht auf das Positive? Warum blicken wir pessimistisch in die Zukunft und nicht optimistisch, befassen uns mit den Dingen, mit denen wir gegenwärtig unzufrieden sind, anstatt mit solchen, für die wir dankbar sein könnten? Warum erinnern wir uns immer wieder an schlechte Erfahrungen statt an all das Gute, das wir erlebt haben?
Ich denke, der Grund dafür liegt einfach darin, dass die Atmosphäre unserer Psyche aufgrund unserer Ego-Isolation negativ aufgeladen ist. Es herrscht eine Atmosphäre des leichten Unwohlseins und der Angst, die all unsere Gedanken negativ einfärbt.
Auch die Formbarkeit unseres Geistes ist ein Teil des Problems. Besonders in der Kindheit ist die Psyche des Menschen auffällig wandelbar und anpassungsfähig. Deshalb ist es auch so schwierig, Überzeugungen, die von unseren Eltern an uns weitergegeben wurden, später infrage zu stellen oder abzuschütteln. Werden sie in der Kindheit erlernt, können selbst die seltsamsten Überzeugungen Teil der Tiefenstruktur unserer Psyche werden und bleiben uns das ganze restliche Leben lang erhalten. Sie sind dann so tief verwurzelt, dass wir sie als selbstverständlich betrachten. Auf diese Art werden häufig auch religiöse Überzeugungen überliefert. Daher das alte Jesuiten-Sprichwort: „Gib mir das Kind während seiner ersten sieben Lebensjahre und ich gebe dir den Menschen.“
Das trifft auch auf Traumata zu. Erfahren wir – besonders in unserer Kindheit – Missbrauch oder Vernachlässigung, kann unsere Psyche für den Rest unseres Lebens Schaden nehmen (es sei denn, wir unterziehen uns einer Psychotherapie). Bei negativen Gedankenmustern handelt es sich um einen vergleichbaren Vorgang. Wenn unsere Eltern uns negative Gedankenmuster vermitteln, entweder indem sie ihre negative Einstellung in Worte fassen oder indem sie uns behandeln, als seien wir wertlos oder nicht liebenswert, verfestigen sich diese negativen Gedanken zu einem „Drehbuch“ oder „Schema“. Dies wird zu etwas, das man eine „kognitive Gewohnheit“ nennen könnte, die die Einstellung und Stimmung unserer Gedanken bestimmt, was wiederum zu mangelndem Selbstwertgefühl und fehlendem Selbstvertrauen führt.
Aber all das ereignet sich nicht ausschließlich in unserer Kindheit. Auch im Erwachsenenalter können sich sehr schnell „kognitive Gewohnheiten“ bilden und in unserem Geist festsetzen. Wird eine negative Erfahrung mehrmals wiederholt, kann sie sich schnell zu einer Neurose oder Phobie verfestigen. Jemand, der zwei- oder dreimal eine turbulente Bootsfahrt erlebt hat, entwickelt möglicherweise eine dauernde Phobie vor dem Segeln und der Schifffahrt. Jemand, der zweimal von verschiedenen Partnern verlassen wurde, kann eine beständige Unsicherheit und Angst davor entwickeln, sitzen gelassen zu werden. Jemand, der ein paar Monate neben lärmenden Nachbarn gewohnt hat, entwickelt vielleicht eine lebenslange Überempfindlichkeit gegenüber Lärm und Geräuschen.
Es hat jedoch auch eine gute Seite: Weil unser Geist so formbar ist, kann er auch positiv umgeformt werden. Kognitive Gewohnheiten lassen sich leicht verändern – tatsächlich ist dies das Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie. Selbst tiefsitzende strukturelle Traumata aus unserer Kindheit können durch eine Psychotherapie geheilt werden.
Das Gedankengeschwätz wäre nicht ein solch großes Problem, wenn wir uns nicht damit identifizierten. Wenn wir einen Schritt zurücktreten und unsere Gedanken lediglich beim Vorbeiströmen betrachten, nehmen sie nicht mehr so stark Einfluss auf uns. (Das machen wir häufig bei Tagträumen, auch deshalb unterscheidet sich ein Tagtraum vom Gedankengeschwätz.) Wir sind dann in der Lage zu sagen: Schau mal, schon wieder ein negativer Gedanke – ich muss ihm keine Aufmerksamkeit schenken. Dennoch ist unsere Identität die meiste Zeit über an unsere Gedanken geknüpft. Wir können uns nicht als getrennt von ihnen betrachten. Wir halten uns für diesen verrückten, zufälligen Gedankengenerator mit dem negativen Drehbuch – deshalb ist er mächtiger als wir, und wir lassen es zu, dass er unsere Stimmungen und unser Selbstwertgefühl bestimmt.
Ich betone erneut, dass ich das Gedankengeschwätz nicht für völlig negativ halte. Es ermöglicht uns hin und wieder, uns zurückzulehnen und unseren abschweifenden Gedanken nachzugehen. Einige Psychologen vermuten, dass Tagträume die Aufgabe haben, soziale Situationen einzuüben, damit wir auf zukünftige Ereignisse besser vorbereitet sind – ein Art „gesellschaftlicher Probelauf“. Ein Tagtraum kann aber auch ein „Füllhorn der Kreativität“ sein, das uns Einsichten und neue Ideen schenkt. Einstein zum Beispiel hat die Relativitätstheorie während eines Tagtraums erstellt, als er in einem Patentamt arbeitete. Komponisten wie Brahms und Debussy setzten Tagträume ganz aktiv als Hilfe zum Komponieren ein. Der amerikanische Philosoph John Dewey stellte fest, dass es häufig dann zu kreativen Erleuchtungen kommt, wenn Menschen „entspannt bis zur Träumerei“ sind.
Leider ist jedoch unser Gedankengeschwätz, anders als ein Tagtraum, hauptsächlich negativ. Ganz allgemein liegen die Probleme beim Gedankengeschwätz darin, dass es zu wenig kontrolliert werden kann, zu negativ ist und wir uns zu sehr mit ihm identifizieren.