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KAPITEL 1
Die Verrücktheit, dass wir
außerhalb unserer selbst leben
ОглавлениеIn gewisser Weise sind diejenigen von uns, die in den reichen Ländern der Welt wohnen – in Europa oder Nordamerika zum Beispiel –, die glücklichsten, die je gelebt haben. Noch vor wenigen Generationen lag die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen 30 und 40 Jahren. Fast ein Drittel aller Menschen starb, bevor es das Erwachsenenalter erreicht hatte. Und die, die das schafften, führten ein Leben in bitterer Armut, sie litten und starben an Hunger und Kälte und vielen Krankheiten und Gesundheitsproblemen, die heute praktisch alle ausgerottet sind: ständige Zahnschmerzen (im 19. Jahrhundert litt ein Drittel der Menschheit darunter), Skorbut, Pocken, Tuberkulose und so weiter. Versagten die Augen, war man zu einem Leben mit einer verschwommenen oder eingetrübten Sicht verdammt, brach man sich einen Knochen, blieb man den Rest seines Lebens ein Krüppel. Steckten sich Kinder mit den Masern oder Tuberkulose an, dann starben sie mit großer Wahrscheinlichkeit daran.
Aber jetzt, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, sind wir diese Sorgen größtenteils los. Unsere Lebenserwartung ist dramatisch gestiegen – in einigen Ländern auf 80 Jahre – und die meisten von uns verbringen diese zusätzlichen Jahrzehnte in relativem Luxus. Unsere Häuser sind geheizt, wir haben Nahrungsmittel im Schrank und können erstaunlich effektive Ärzte aufsuchen (zumindest in Europa und Kanada – die USA liegen bedauerlicherweise in dieser Hinsicht zurück).
Man kann sogar sagen, dass wir die ersten freien Menschen sind. Die meisten von uns sind im materiellen Sinne frei – frei von dem physischen Kampf, im Angesicht von Armut und Hunger am Leben zu bleiben. Wir sind ebenfalls in einem gesellschaftlichen Sinne frei – frei im Hinblick darauf, dass wir nicht mehr an die soziale Nische gebunden sind, in die wir hineingeboren wurden. Wir sind keine Bauern mehr, die kaum über den Rand ihres Dorfes hinauskommen, in dem sie geboren wurden. Wir besitzen einen hohen Grad an sozialer Mobilität. Man könnte sogar sagen, dass wir intellektuell frei sind: Waren Bildung und Wissen noch vor wenigen Jahrhunderten das Privileg einer winzigen Minderheit, sind sie nun für fast alle von uns erreichbar.
Wir sollten eigentlich die glücklichsten Menschen sein, die je gelebt haben. Wir sollten uns freuen, denn wir haben die Freiheit, das Vermögen und die Gesundheit erlangt, von denen unsere Vorfahren nur träumen konnten.
Aber so ist es natürlich nicht. Tatsächlich sind wir vermutlich weniger glücklich als unsere Vorfahren. Unsere Freiheit ist nicht der erwartete Segen geworden. Wir verbringen unsere zusätzlichen Jahrzehnte nicht in einem Zustand des Frohlockens. Viele von uns leiden an unterschiedlichen Formen psychischer Probleme, etwa Depressionen, Drogenmissbrauch oder Essstörungen, oder zumindest unter einer gewissen Lebensangst, Langeweile oder Unzufriedenheit. Es fühlt sich an, als „stimme etwas einfach nicht“. Wir empfinden unsere Freiheit als Last und lenken uns in unserer Freizeit beispielsweise mit Fernsehen ab.
Der Psychologe Abraham Maslow zeigte, dass unsere menschlichen Bedürfnisse hierarchisch geordnet sind. Wir haben bestimmte Grundbedürfnisse, die zuerst gestillt werden müssen, bevor wir nach den höheren streben können. Wir müssen also zuerst Essen und ein Dach über dem Kopf haben, bevor wir überhaupt daran denken können, höhere Bedürfnisse wie Liebe oder Selbstwert zu befriedigen. Das hat allerdings auch eine Schattenseite: Sobald wir erst einmal unsere grundlegenden physischen Bedürfnisse gestillt haben, stoßen wir auf emotionale und psychische Probleme, die uns vorher gar nicht bewusst waren. Wir waren zu stark mit dem Überleben beschäftigt, um unsere psychische Zerrissenheit zu bemerken – und diese bildet das größte Hindernis für unser Glück.
Es scheint so, als könnten wir nicht mit uns selbst leben. Nachdem wir jahrhundertelang unsere Aufmerksamkeit auf die Außenwelt konzentriert haben, stechen wir in ein Hornissennest – jetzt, da wir den Blick nach innen wenden und uns selbst betrachten.