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Zu nah an der Wirklichkeit

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Als ich etwa 14 Jahre alt war, erlitt einer unserer Nachbarn einen Nervenzusammenbruch. Er trank, hatte nie geheiratet und galt als Einzelgänger. Da er schon immer äußerst intelligent gewesen war, vermutete jeder, er würde eine akademische Karriere hinlegen, vielleicht als Professor an der Universität, aber stattdessen wurde er Lehrer und lebte in seinem Elternhaus bei seiner Mutter. Eines Morgens stellte er fest, dass er die Welt nicht mehr ertrug, und schloss sich in seinem Zimmer ein. Seine Mutter musste die Polizei verständigen. Er öffnete die Tür erst, als die damit drohte, sie einzutreten. Er ging danach nie mehr zur Arbeit und verließ praktisch kaum noch sein Haus. Wir sahen ihn nur noch gelegentlich, wenn er in den Laden ging, um Whiskey zu kaufen. Er wirkte ungepflegt und ängstlich.

Sein Zusammenbruch war wohl die Folge seiner Isolierung, seiner Frustration und seines Alkoholismus. Damals machten viele Leute aber auch Bemerkungen wie „Er ist intelligenter, als es ihm guttut“ oder „Er denkt zu viel“. Damit meinten sie, dass er aufgrund seines vielen Grübelns und seiner Intelligenz der Wirklichkeit zu nahe gekommen wäre und furchtbare Wahrheiten erblickt hätte, die Menschen besser niemals sehen sollten. Folglich ertrug er die Welt nicht mehr und konnte auch kein normales Leben mehr führen.

In unserer Kultur ist es weit verbreitet, das „Denken“ zu tabuisieren. Es gilt als gefährlich, zu „tiefgründig“ zu sein, die eigene Lage zu analysieren oder die Werte zu hinterfragen, nach denen man lebt. Man glaubt, je intelligenter und nachdenklicher jemand sei, desto anfälliger sei er für Depressionen oder sogar für Selbstmord. Das ist eng mit der Furcht vor dem Tod verknüpft – es gibt den Glauben, dass wir, sobald wir anfangen darüber nachzudenken, dass wir eines Tages sterben müssen oder noch heute sterben könnten, augenblicklich depressiv würden und nicht mehr wüssten, warum wir überhaupt noch etwas tun sollten. Das dient den Menschen als Rechtfertigung dafür, ihre freie Zeit mit Aktivitäten und Ablenkungen vollzustopfen – so müssen sie nicht über ihr schreckliches Schicksal nachdenken.

Es stimmt tatsächlich, dass die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel unseres normalen Seinszustands düster aussieht. Durch die Linse der Humanie betrachtet, erscheint die Welt als gleichgültiger und unbeseelter Ort, unser Leben scheint bedeutungslos. Wir werden nur zufällig geboren, wandern ein paar Jahrzehnte auf der Welt herum, versuchen, unsere Bedürfnisse zu decken, während unsere Körper allmählich verfallen, bis sie so hinfällig sind, dass sie ihre Arbeit einstellen. Dann vergehen wir, ohne eine Spur hinterlassen zu haben, so, als hätte es uns nie gegeben. (Natürlich glaube ich nicht, dass dies wirklich unser Schicksal ist, sondern ein falsches Bild, das von unserer Psyche erschaffen wird. Wie ich später noch ausführen werde, bin ich der Überzeugung, dass unser Schicksal viel wohlwollender ist.)

Gleichzeitig denken aber die meisten Menschen nicht wirklich über diese „Wahrheit“ nach, wenn ihr Geist nicht beschäftigt ist. Die meisten Menschen leben allerdings viel zu sehr in ihrem eigenen geistigen Mikrokosmos. Menschen, die „zu viel denken“, haben nicht deshalb Probleme, weil sie die schreckliche Wahrheit über das Leben herausgefunden hätten, sondern weil sie durch das Denken auf zu viel psychische Zerrissenheit stoßen. Wir benötigen die Zerstreuung weniger, um der Betrachtung unserer Wirklichkeit auszuweichen (wie Pascal glaubte), sondern weil wir die innere Zerrissenheit nicht erfahren wollen. Nicht die Wirklichkeit ist das Problem, unser Geist ist es. Nicht da draußen lauern Ungeheuer – sondern in uns selbst.

Verrückte Welt

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