Читать книгу Verrückte Welt - Steve Taylor - Страница 6

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EINLEITUNG

Seit die Europäer im 16. Jahrhundert damit begannen, die Welt zu erforschen und zu kolonisieren, haben sie mit Neugier die „eingeborenen“ Völker beobachtet und Berichte über ihre Kultur verfasst. Noch heute reisen moderne Anthropologen regelmäßig in abgelegene Ecken der Welt, um Völker zu studieren und zu beschreiben, die noch nicht in Kontakt mit der globalisierten Welt gekommen sind und noch immer ihr traditionelles Leben führen.

Aber wie verhält es sich umgekehrt? Was hielten die eingeborenen Völker von den „entwickelten“ Menschen, die sie studierten und deren Kultur sie schließlich unterjochte? Oder, um es abstrakter zu sagen: Was würde ein Mitglied eines isolierten Volkes wohl in einer anthropologischen Studie über uns sagen?

Carl Gustav Jung traf 1932 in New Mexico auf den Indianerhäuptling Mountain Lake. Als Jung ihn nach seiner Meinung über die Europäer fragte, die sein Land erobert hatten, war seine Einschätzung vernichtend: „Die Weißen wollen immer etwas. Sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir denken, dass sie verrückt sind.“

Andere Eingeborene waren ebenso verblüfft wie Mountain Lake. Viele hielten die europäische Gier nach Besitz für eine Art des Wahnsinns. Sitting Bull, der Häuptling der Sioux, meinte: „Die Liebe zum Besitztum ist eine ihrer Krankheiten. … Sie beanspruchen unsere Mutter, die Erde, für sich und bauen Zäune gegen ihre Nachbarn.“

In gleicher Weise schockierte sie der europäische Mangel an Verbundenheit mit und Ehrfurcht vor der Natur. Einer der scharfsinnigsten Beobachter in Bezug auf die Unterschiede zwischen der europäischen und indianischen Weltsicht, der Häuptling Luther Standing Bear, schrieb:

Der Glaube der Indianer suchte nach dem Einklang zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, der andere wollte seine Umwelt beherrschen … Für [den Indianer] war die Welt voll Schönheit, für [den Weißen] ein Ort der Sünde und Hässlichkeit, die er ertragen musste, bis er in eine bessere Welt kam.

(Chief Luther Standing Bear, 2011)

Anders ausgedrückt: Eingeborene glauben, dass etwas mit uns nicht stimmt, dass wir sogar wahnsinnig sind. Ein eingeborener Anthropologe, der unsere Geschichte erforscht, würde wohl zahllose weitere Indizien dafür entdecken: Tausende von Jahren fortdauernder Kriege, eine gewaltige Unausgewogenenheit bei der Verteilung von Wohlstand und Macht, die brutale Unterdrückung der Frau, anderer Klassen und Kasten, schier endlose Brutalität, Gewalt und Gier – und dann, in den jüngsten Jahrzehnten, die selbstmörderische Zerstörung der Ökosysteme unseres Heimatplaneten. Er oder sie würde ebenfalls die gewaltige Ungleichheit untersuchen, die heute die Welt zunichtemacht, in der die drei reichsten Menschen mehr besitzen als die 48 ärmsten Länder zusammen und in der fast 800 Millionen Menschen an Unterernährung leiden und gleichzeitig Millionen Menschen fett sind, weil sie viel zu viel essen.

Was könnte verrückter sein?

Unsere psychische Störung

Dieses Buch ist mein Versuch, diese Verrücktheit des Menschen zu begreifen. Warum können wir nicht in Einklang miteinander, mit der Natur oder zumindest mit uns selbst leben? Warum liest sich die Geschichte der Menschheit wie eine endlose, enttäuschende Saga von Krieg, Konflikt und Unterdrückung? Was treibt uns an, unsere Umwelt und damit uns selbst als Spezies zu zerstören? Oder, auf einer psychischen Ebene, warum leiden wir ununterbrochen unter der Rastlosigkeit und dem Unbehagen, von dem Mountain Lake sprach? Was bringt viele von uns dazu, immer größere Berge an Vermögen, Status und Erfolg anzuhäufen, ohne einen Beweis dafür, dass diese uns zufrieden und glücklich machen? Warum empfinden wir, wenn wir unsere Ziele erst einmal erreicht haben, nur für so kurze Zeit Genugtuung, um dann doch wieder rastlos nach noch größeren Zielen zu streben?

Unser Grundproblem, so behaupte ich in diesem Buch, besteht darin, dass mit unserem Geist tatsächlich etwas nicht stimmt. Wir leiden an einer grundlegenden geistigen Störung, die unser dysfunktionales Verhalten erzeugt, und zwar sowohl als Individuen als auch als Spezies. Wir sind alle leicht irre – aber weil dieser Irrsinn ein uns wesenhafter ist, bemerken wir ihn nicht. Ich nenne diese Störung „Humanie“. (Manchmal bezeichne ich sie aber auch als „Ego-Verrücktheit“, weil es sich – wie wir später noch sehen werden – um das Ergebnis einer Fehlfunktion und einer Fehlentwicklung des Egos handelt. Mit Ego meine ich unser Gefühl, ein „Ich“ in einer eigenen geistigen Sphäre zu sein, ein „Selbst-System“, das uns das Gefühl vermittelt, als Individuum zu existieren, mit eigenen Gedanken und Erfahrungen.)

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders oder DSM, das grundlegende Handbuch für amerikanische Psychiater, definiert eine psychische oder geistige Störung als ein „klinisch relevantes Verhaltensmuster oder psychologisches Syndrom, das mit Belastung einhergeht ... oder mit einem signifikant gesteigerten Leidensrisiko“.

Humanie ist so allgegenwärtig und wird als so gegeben hingenommen, dass sie nicht als klinisch relevant betrachtet wird, dennoch erzeugt sie Stress und Leiden. Das heißt, dass unser gewöhnlicher Geisteszustand einer der Zerrissenheit ist. Die erste der edlen Wahrheiten des Buddhismus lautet, dass „Leben ist Leiden“ – und dieses innere Leiden beginnt in unserem Geist. Dieses innere Leiden – oder diese Zerrissenheit, wie ich sie nenne – ist für uns so normal geworden, dass wir es nicht einmal mehr bemerken, so wie ein Hintergrundgeräusch, an das wir uns so gewöhnt haben, dass wir es nicht mehr wahrnehmen. Und doch hat es massive Auswirkungen. Es bedeutet, dass wir unsere Aufmerksamkeit beständig auf unsere Außenwelt richten und unser Leben permanent mit Aktivitäten und Ablenkungen vollstopfen müssen, wie Süchtige, die immer neue Dosen einer Droge brauchen. Dieses Leiden verhindert, dass wir zufrieden sind, und stiftet Zwietracht in unseren Beziehungen. Es treibt uns an, Erfüllung und Wohlbefinden außerhalb von uns selbst zu suchen, in Reichtum, Erfolg und Macht. Es ist sogar verantwortlich für die Konflikte, die Unterdrückung und Brutalität, an denen die Geschichte der Menschheit so reich ist. Die Gründe dafür erläutere ich später.

Doch trotz dieser zerstörerischen Auswirkungen ist die Humanie weder tief in uns verwurzelt noch unauflösbar. Sie existiert tatsächlich nur in einer Oberflächenschicht unseres Geistes. Wir alle kennen die Augenblicke, in denen unsere gewöhnliche innere Zerrissenheit verblasst und wir plötzlich ein Gefühl der Einfachheit, des Wohlbefindens und der Harmonie spüren. In solchen Augenblicken sind wir von dem Druck befreit, ständig beschäftigt zu sein, von dem Bedürfnis, stimuliert zu werden oder Besitz anzuhäufen – wir ruhen in uns und im gegenwärtigen Augenblick.

Diese Augenblicke des „harmonischen Seins“ – wie ich sie nenne – ereignen sich gewöhnlich, wenn wir uns ruhig und entspannt fühlen und wenn uns Stille umgibt, beispielsweise wenn wir durch die Natur wandern, uns in aller Ruhe handwerklich betätigen, Musik hören oder machen, nach einer Meditation, nach Yoga oder nach dem Sex. Das Geschwätz in unserem Geist, das uns unentwegt umgibt, verstummt. Jetzt fühlen wir uns nicht länger abgetrennt, sondern mit uns selbst, unserer Umgebung oder unseren Mitmenschen in einem natürlichen Fluss verbunden. In solchen Augenblicken werden wir – zumindest für eine kurze Zeit – geistig gesund.

Diese Harmonie und Gesundheit tragen wir jedoch immer in uns, in der gleichen Weise, wie der große, stille Ozean beständig unter dem lauten Toben der Wogen ruht. Das Problem liegt darin, dass uns die oberflächliche Zerrissenheit unseres Geistes den Zugang dazu verstellt. Statt in uns zu gehen und die Harmonie unseres essenziellen Wesens zu erfahren, werden wir aus uns herausgezwungen, hinein in Ablenkungen und Aktivitäten. Wir sind nicht imstande, im gegenwärtigen Augenblick zu leben, unfähig, zufrieden zu sein.

Was dieses Buch will

Dieses Buch verfolgt zwei Ziele. Als Erstes untersuchen wir unsere psychische Störung, wir forschen nach ihren Symptomen und versuchen, die Ursachen zu verstehen, ungefähr so wie ein Arzt, der eine Krankheit untersucht und diagnostiziert. Wir betrachten die unterschiedlichen Arten des verrückten Verhaltens, die uns als menschliche Wesen ausmachen: zuerst unser pathologisches Verhalten als Individuen, etwa unsere ununterbrochene Aktivität und Ablenkung, den Materialismus und das Streben nach Status, dann unser kollektives pathologisches Verhalten, wie beispielsweise Krieg, Umweltzerstörung und dogmatische Religion. Dann nehmen wir unter die Lupe, wie die Humanie all diese Verhaltensweisen verursacht. Dieser Abschnitt des Buchs wirkt vermutlich manchmal recht trostlos. Bedenken Sie aber, dass man eine Krankheit notwendigerweise in allen Einzelheiten betrachten muss, um sie behandeln und heilen zu können.

Diese Heilung bildet die zweite Zielsetzung dieses Buchs. In den letzten vier Kapiteln werden wir untersuchen, wie wir unsere innere Zerrissenheit transzendieren können. Ich schlage verschiedene Methoden und Lebensweisen vor – ebenso wie ein paar praktische Übungen –, die uns helfen werden, unseren verwirrten Geist zu heilen und einen harmonischeren inneren Zustand zu erzeugen, damit wir endlich beginnen können, in uns selbst zu leben und in der Gegenwart. So können wir den Zustand echter Gesundheit erreichen.

Wenn Sie weder Glück noch Erfüllung finden, wenn Sie sich verwirrt fühlen, von Sorgen geplagt werden, verbittert oder voller Selbstvorwürfe sind, wenn Sie denken, das Leben sei so voller Leiden, dass (wie ein Freund kürzlich zu mir meinte) es besser wäre, nie geboren worden zu sein – dann mag Sie die Tatsache etwas trösten, dass es sich größtenteils nur um die Symptome eines psychischen Zustandes handelt – und dass dieser Zustand geheilt werden kann.

Es geht aber nicht nur darum, unser Leben zu verbessern oder zufriedenere Individuen zu werden, es geht letzten Endes darum, dass unsere Verrücktheit es uns unmöglich macht, in einer angemessenen und nachhaltigen Weise auf der Erde zu leben. Wie viele Eingeborenenvölker bereits festgestellt haben, steht am Ende unserer chronischen Rastlosigkeit und unseres zügellosen Materialismus die Selbstzerstörung. Wir können nur dann im Einklang mit unserer Erde, anderen Spezies und miteinander leben, wenn wir in der Lage sind, im Einklang mit uns selbst zu leben.

Verrückte Welt

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