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2.2. Andran

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Zara blickte voller Stolz auf Andran, wobei sie jede seiner Bewegungen genauestens verfolgte. Der Knabe tänzelte elegant, mit dem schweren Langstock in den Händen, über den Balken und wich dabei immer wieder geschickt den Attacken seiner Gegnerin aus. Der Balken hing an langen Seilen gespannt, gut vier Fuß über dem Erdboden. Es war schwer, auch nur über den Balken zu balancieren. Dabei aber auch noch einen Kampf, mit einem gleichwertigen Gegner zu führen, zeugte nur von dem hohen Geschick, dass sich die Kriegerinnen durch jahrelanges, hartes Training erwarben. An der Tatsache, dass Andran ein Knabe war, störte sich schon lange kein Mitglied des Stammes mehr. Zara musste schmunzeln, als Andran zum Gegenangriff startete. Sein volles schwarzes Haar wirbelte im Wind, als er mit schnellen wuchtigen Schlägen sein Gegenüber in Schwierigkeiten brachte. Fast tat ihr seine Kontrahentin jetzt schon leid. Manith, seine Gegnerin, war im gleichen Alter wie Andran, und die Tochter der Königin des Stammes. Die beiden Jugendlichen waren längst durch eine tiefe Freundschaft verbunden, für die auf dem Balken jedoch keinerlei Platz war. Andran erwischte Manith mit seinem Langstock am rechten Bein, wodurch sie das Gleichgewicht verlor. Dabei ließ sie ihren Stab fallen, ruderte kurz hilflos mit den Armen in der Luft und plumpste zu Boden. Andran sprang ihr sofort hinterher und reichte dem Mädchen die Hand, um ihr hoch zu helfen. Bei jeder Schwester hätte sie die hilfreiche Hand wütend zur Seite geschlagen. Andrans Hand ergriff sie jedoch gern und der kräftige Junge half ihr mühelos auf die Beine.

„Nochmal!“ schrie sie ihn an, packte ihren Langstab und war lachend so schnell wieder auf dem Balken, dass es Zara schwindelig wurde.

Zara musste an den Tag zurückdenken, als sie Andran vor vierzehn Jahren, in den Armen seiner Hebamme Elze, im Wald fand. Umgeben von all den Tieren, die den Jungen zu beschützen schienen. Als die große weiße Wölfin auftauchte, die bis heute auf Andran aufpasste und ihm nicht von der Seite wich. Königin Rowena war zunächst außer sich vor Wut, als sie erfuhr, dass drei Kriegerinnen ihr Leben verloren und Zara mit einem männlichen Säugling zurückkehrte. Allerdings konnte die Königin auch nicht so einfach die göttlichen Zeichen missachten. Ein weißer Wolf mit stechend roten Augen war seit jeher das heilige Totem ihres Stammes. Obwohl keine Amazone jemals zuvor so ein Tier gesehen hatte, bis zu dem Tag als Zara von dem folgenschweren Jagdausflug zurückkehrte. Die Wölfin mit den glutroten Augen war nicht nur ein gewaltiges Tier, es war auch ganz offensichtlich, dass sie den Knaben beschützte. Nachdem Zara und Firsa der Königin auch von den anderen Tieren erzählten und ihr das prächtige Schwert zeigten, das laut Elze dem Jungen gehörte, konnte Rowena nicht anders, als dem Willen der Götter zu folgen. Der Rat der Ältesten, beschloss daraufhin den Jungen Andran zu nennen. In Anlehnung einer alten Sage, laut derer ein Held namens Andran, mit Hilfe der Götter, die Stämme der Amazonen vor der völligen Vernichtung bewahrte. Elze war mit ihrer hilfsbereiten und freundlichen Art in kürzester Zeit bei allen beliebt. Im Laufe der Zeit entwickelte sie sich sogar zur Heilerin des Stammes und genoss allerhöchstes Ansehen. Elze kümmerte sich zudem um Andran und zog ihn groß. Obwohl der Junge wusste, dass sie nicht seine leibliche Mutter war, betrachtete er sie als solche. Als Zara erfuhr, dass der Kriegszauberer Vitras Andrans Großvater war, übernahm sie sofort die Ausbildung des Jungen. Sie lehrte ihn das Jagen, das Überleben in der Wildnis und natürlich das Kämpfen. Dadurch hatte sie das Gefühl, Vitras der ihr einst das Leben rettete, etwas zurückzuzahlen. Darüber hinaus fing die rothaarige Amazone früh an, den Jungen aufgrund seiner ehrlichen und offenherzigen Art, aufrichtig zu mögen. Das großartige Schwert ließ Rowena, mit Elzes Erlaubnis, in der großen Ratshütte, die sich in der Mitte des Dorfes befand, über dem Altar anbringen. Die Königin bestand darauf, selbst zu entscheiden, wann Andran soweit wäre, diese Waffe zu führen.

Als Andran sprechen lernte, nannte er die riesige weiße Wölfin immer nur Rotauge. So kam das edle Tier zu einem Namen, von dem Zara sich gewünscht hätte, er wäre etwas würdevoller ausgefallen. Die Amazonen waren in den ersten Wochen irritiert und sehr unsicher, wie sie sich in der Gegenwart dieses Tieres, das ihnen heilig war, verhalten sollten. Als Andran, noch im Säuglingsalter, einmal in den Bach fiel, der sich am Rande des Dorfes entlang schlängelte, reagierte das Tier als erstes. Es sprang Andran hinterher, packte den Jungen an seiner Wickeldecke und trug ihn vom Fluss durchs gesamte Dorf, bis hin zu Elzes Hütte. Von dem Tag an war endgültig allen klar, dass das Schicksal des Jungen und der Wölfin eng miteinander verwoben war.

Das Dorf gehörte zu den größten der Amazonenstämme im Schwarzen Wald. Es lebten über dreihundert Kriegerinnen und noch einmal gut einhundertfünfzig ältere Frauen und Kinder hier. Das Dorf war von einem stark befestigten Palisadenzaun umgeben. Links und rechts vom Tor befanden sich hohe Wachtürme, die ständig von wachsamen Kriegerinnen besetzt waren. Es gab auch einige Dutzend Männer die hier lebten. Es war ihnen jedoch verboten, Waffen zu tragen und sie verrichteten harte körperliche Arbeit. Sie wurden allerdings gut behandelt und durften sich frei bewegen. Ab und an ergaben sich sogar kleinere Liebschaften zwischen einem Mann und einer der Kriegerinnen. Ein eheliches Zusammenleben jedoch, war strikt verboten. Wenn sich ein Paar fand und darauf nicht verzichten wollte, musste es den Stamm verlassen.

Zara beobachtete Andran und Manith noch eine ganze Weile, wie sie sich auf dem Balken bekriegten. Dann erhob sie sich, von dem großen Stein auf dem sie saß, und schickte sich an zur großen Ratshütte zu gehen. Der Tag der Prüfungen stand kurz bevor. Rotauge blickte Zara nur kurz gelangweilt hinterher, um sofort wieder Andran ins Auge zu fassen. Der kassierte gerade einen heftigen Stoß von Maniths Langstock und fiel nun seinerseits auf den weichen Erdboden. Sofort war die Wölfin über ihm und schleckte Andran quer durch das Gesicht. Manith sprang vom Balken, landete neben der Wölfin und streichelte ihren muskulösen Nacken. Die Tochter der Königin, war neben Zara und Elze die einzige, von der die Wölfin sich das gefallen ließ, wenn man selbstverständlich von Andran absah.

„Deine Beinarbeit ist einfach schlecht!“ spottete Manith. Dabei schüttelte sie lachend ihren Kopf wobei ihr langes braunes Haar durch die Luft wehte.

„Und du, du kämpfst mit unfairen Mitteln!“ protestierte Andran, während er verzweifelt versuchte, sich Rotauges fürsorglicher Behandlung zu entziehen.

„Unfair? Was bitte war denn unfair?“

„Du hast mich angelächelt, das hat mich verwirrt!“

„Du kannst dir ja nächstes Mal die Augen verbinden,“ ärgerte Manith ihn weiter: „Vielleicht triffst du dann ja auch besser!“ Daraufhin drehte sie sich um und ging zurück zu den Hütten. Ihr Herz hüpfte vor Freude, dass Andran ihr Lächeln bemerkt hatte.

Zara schob die Decken zur Seite, die der Ratshütte als Tür dienten und trat ein. Trotz ihrer inzwischen fünfundfünfzig Jahren, war sie das jüngste Mitglied des Rates.

Jedes Jahr wurden die vierzehnjährigen Jung Kriegerinnen einer Prüfung unterzogen, die den Übergang in ihr Erwachsenenalter symbolisierten. Fiel man durch, hatte man ein Jahr lang mit Hohn und Spott zu kämpfen, bis man die Prüfung wiederholen durfte. Zum ersten Mal in der Geschichte des Stammes, würde dieses Jahr mit Andran ein Junge an der Prüfung teilnehmen. Alle Teilnehmer dieser Prüfung mussten, bei einer feierlichen Zeremonie, einen Kieselstein aus dem Beutel der Schamanin ziehen. In dem Beutel befanden sich lauter weiße sowie ein schwarzer Kieselstein. Wer einen weißen Stein zog, hatte keine Prüfung zu erwarten die lebensbedrohlich war. Dies galt jedoch nicht für die Kandidatin, die den schwarzen Stein zog. Ihr wurde ausnahmslos eine nahezu unmöglich erscheinende Aufgabe zugetragen, die fast immer zum Tode führte. Nur sehr selten kam es vor, dass eine Jung Kriegerin diese Prüfung bestand. Aus den Kreisen derer, die diese Prüfung jedoch bestanden, wurde die zukünftige Königin gewählt. Seit Rowena als Königin über den Stamm herrschte, hatte niemand mehr diese Prüfung bestanden.

Als Zara die Hütte betrat, waren schon alle anderen Ratsmitglieder anwesend. Rowena bedeutete Zara mit einem strengen Blick, sich zu setzen. Aus dem Augenwinkel nahm die rothaarige Amazone wahr, dass auch Elze sich in der Hütte befand, und nickte ihr freundlich zu. Einer der Ratsplätze war leer. Die Amazone die diesen inne hatte, war vor wenigen Wochen verstorben. Rowena stand auf, blickte sich im Kreis der Anwesenden um und begann zu sprechen:

„Bevor wir über die anstehenden Prüfungen beraten, möchte ich euch eine Nachfolgerin für unsere verstorbene Schwester vorschlagen.“

Alle Augen richteten sich auf Rowena. Die Königin hatte das unumstößliche Sagen in Kriegszeiten. In Friedenszeiten jedoch, musste sie sich immer mit dem Rat absprechen.

„Ich möchte Schwester Elze vorschlagen, den Platz einzunehmen.“

Elze bekam vor Überraschung ganz große Augen. Sie ging davon aus, wegen Andrans Teilnahme an der Prüfung in die Ratshütte geladen worden zu sein. Zara hingegen hatte damit schon irgendwie gerechnet und freute sich für die alte Frau. Der Vorschlag der Königin wurde einstimmig angenommen. Daraufhin bat die Königin Elze, die ein wenig im Abseits stand, sich auf den leeren Platz direkt neben Zara zu setzen.

„Dieses Jahr haben wir fünf Prüflinge!“ fuhr die Königin fort, nachdem Elze sich auf den leeren Platz begeben hatte.

„Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass Andran seine Prüfung mit Bravour meistern wird,“ brachte Zara mit einem Mal hervor: „genauso wenig zweifelt irgendjemand daran, das Manith dich stolz machen wird.“

Rowena nickte Zara freundlich zu, bevor sie fortfuhr. Dabei bekam die Stimme der Königin plötzlich einen eisigen Klang:

„Die Prüfung des schwarzen Steines wird in diesem Jahr besonders herausfordernd sein!“

Während Elze schlagartig sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich, beugte sich Zara leicht vor:

„Was ist außer an Andrans und Maniths Teilnahme in diesem Jahr denn so Besonderes, dass diese Prüfung noch schwerer ausfallen muss?“

Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, biss sie sich vor Wut auf die Unterlippe. Ihr war schlagartig klar, um was es der Königin ging. Und Rowena hatte Recht.

„Seit vielen Jahren, ist es niemanden mehr gelungen diese Prüfung zu bestehen. Jedes Jahr haben wir eine junge Schwester verloren. Es dürfen keinerlei Zweifel aufkommen, dass die Prüfung in diesem Jahr weniger anspruchsvoll sein wird, nur weil meine Tochter oder Andran daran teilnehmen.“

„Und welche Art von Prüfung, hast du dieses Jahr für den schwarzen Stein im Sinn?“ fragte eine andere Rätin die Königin.

„Wer auch immer den schwarzen Stein zieht,“ erklärte Rowena und sog dabei scharf die Luft ein: „wird uns einen Reißzahn von Murlog bringen!“

Zara blickte die Königin an, als hätte diese den Verstand verloren:

„Einen Reißzahn von Murlog? Bist du wahnsinnig geworden? Das ist keine Prüfung, das ist ein Todesurteil!“

Murlog war eine schreckliche, mordlüsterne Kreatur, die hoch im Norden des Waldes, in einer Höhle am Rande des Drom Gebirges hauste. Etliche Amazonen Trupps hatten in der Vergangenheit versucht, dieses Wesen zu töten. Nie ist eine Kriegerin von diesem Vorhaben lebend zurückgekehrt. Selbst die Barbarenstämme, die jenseits des Gebirges ihre Heimat hatten, fürchteten Murlog. Sie behaupteten sogar, Murlog wäre ein Dämon.

Rowena schaute missbilligend auf Zara herab:

„Glaubst du etwa ich wünsche mir das Manith den schwarzen Stein zieht. Glaubst du etwa ich habe Freude daran eine der unseren in den Tod zu schicken, bevor ihr Leben überhaupt richtig begonnen hat? Viele der unseren haben durch diese Prüfung eine Tochter verloren. Wir müssen den Frieden unter unseren Schwestern bewahren. Was glaubt ihr alle denn, was geschehen würde, wenn die Prüfung in diesem Jahr leicht ausfällt. Ausgerechnet dann, wenn meine Tochter daran teilnimmt. Lasst uns abstimmen!“

Keine der anwesenden Frauen brachte noch irgendeinen Einwand hervor. Der Rat der Ältesten bestand aus acht Schwestern sowie der Königin. Rowena und sechs weitere Frauen stimmten für die Prüfung. Elze stimmte dagegen, währen Zara sich enthielt.

„Damit ist es beschlossen!“ erklärte Rowena: „Ich werde die Aufgabe für die Prüfung des schwarzen Steines direkt nach der Ziehung bekannt geben.“

Dann wandte sich die Königin an Elze: „Ich möchte dich bitten, dass du direkt nach der Ziehung mit Rotauge in deine Hütte gehst und das Tier irgendwie ablenkst. Ganz gleich welche Farbe Andrans Stein aufweist, er muss seine Prüfung alleine bestehen.“

Elze nickte nur geistesabwesend, während Zara ihr einen Arm um die Schultern legte:

„Verzweifle nicht Elze,“ versuchte sie ihr Trost zuzusprechen: „noch sind keine Steine gezogen worden!“

Der gesamte Stamm versammelte sich, kurz nach der Abenddämmerung, auf dem Platz vor der großen Ratshütte. Niemand wollte sich die Zeremonie, der Ziehung der Steine, entgehen lassen. Andran und Manith befanden sich mit ihren drei Mitprüflingen im Zentrum des Platzes. Vor jedem von ihnen wurde eine Decke ausgebreitet, auf denen mehrere Kriegerinnen die Dinge platzierten, die sie mitnehmen durften. Ein Messer, einen Bogen mitsamt einem vollen Köcher Pfeile, etwas Trockenfleisch und einen Beutel mit verschiedenen Kräutern, die bei Verletzungen hilfreich waren. Andran und Manith warfen sich immer wieder verstohlene Blicke zu. Sie freuten sich auf die Prüfung. Angst hatten sie beide nicht.

Nachdem die Königin ihre Rede über Traditionen und die Notwendigkeit dieser Prüfung beendet hatte, begann die Schamanin mit ihren Riten. Gleichzeitig begannen mehrere Kriegerinnen auf die mit Tierhäuten bespannten Trommeln zu schlagen. In wilden Rhythmen tanzte die Schamanin vor den fünf Jugendlichen. Dabei verfiel sie in eine Art Sprechgesang, dessen Sprache niemand verstand. Immer wieder berührte sie einen der Prüflinge an der Stirn oder bewarf ihn mit einem weißen Pulver, das sie aus einer Tasche nahm, die sie am Gürtel trug. Irgendwann begann der der Trommelschlag schneller zu werden, woraufhin die Schamanin den Beutel mit den fünf Steinen hervorholte und in die Luft hielt. Der Klang der Trommeln wurde leiser und eine fast greifbare Spannung breitete sich unter allen Anwesenden aus. Die vier jungen Amazonen und Andran standen der Größe nach nebeneinander. Die Kleinste durfte immer zuerst ziehen, die Größte zog stets zuletzt. Somit war in diesem Jahr Andran als letzter mit dem ziehen dran. Manith musste ihren Stein direkt vor ihm ziehen. Die Schamanin schritt auf die kleinste Amazone zu und forderte sie mit einem Kopfnicken auf, ihren Stein zu ziehen. Von den dumpfen leisen Trommelschlägen abgesehen, war es totenstill auf dem großen Platz. Die Amazone zog mit verschlossenen Augen einen Stein und hielt ihn weithin sichtbar in die Höhe. Er war weiß. Ein leises Gemurmel erhob sich, nur um sofort wieder zu ersterben. Die zweite Kandidatin zog ihren Stein und hielt ebenfalls einen weißen Kiesel in die Höhe. Elze fühlte sich einer Ohnmacht nahe, während Zara anfing sich vor Nervosität die Unterlippe blutig zu beißen. Als das dritte Mädchen ebenfalls einen weißen Stein in die Höhe hielt, wurde die Spannung unerträglich. Die Schamanin stellte sich vor Manith und hielt ihr den Beutel hin. Mit geschlossenen Augen zog das Mädchen ihren Stein und streckte ihn empor. Ein entsetztes Aufstöhnen fuhr durch die Reihen der Kriegerinnen und veranlasste Manith ihre Augen zu öffnen und zu ihrem Stein zu blicken. Sie hatte den schwarzen Stein gezogen. Elze hingegen fiel ein Stein vom Herzen, doch im nächsten Augenblick tat ihr Manith unendlich leid. Dann suchte sie mit ihren Augen nach Rotauge, um mit der Wölfin in ihre Hütte zu gehen, wie Rowena es von ihr verlangte. Obwohl sich Rotauge nie weit von Andran entfernt aufhielt, konnte sie das Tier nirgendwo entdecken. Die Königin hielt sich tapfer, aber Zara konnte ihr ansehen, dass sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nachdem Andran den letzten verbliebenen weißen Stein zog, wandte sich die Königin an den Stamm, um die Aufgaben zu verkünden. Ihrem Volk stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als es die Aufgabe vernahm, die Manith zuteilwurde. Aber als ob Rowena es geahnt hatte, sah sie auch in einige zufriedene Gesichter. Ausnahmslos Schwestern, die ihre Töchter bei vorherigen Prüfungen des schwarzen Steins verloren hatten. Andran schaute zu Manith herüber, die seinen Blick trotzig erwiderte.

„Ich werde dieses verdammte Biest erwischen Andran!“ flüsterte sie ihm wütend zu: „Das schwöre ich dir. Ich werde mit diesem verdammten Reißzahn in meinen Händen zurückkehren.“

Andran wurde zum ersten Mal die Ungerechtigkeit dieses Rituals so richtig bewusst. Er hatte vorher einfach nie darüber nachgedacht. Während er sowie die anderen drei Mädchen lediglich eine Woche allein in der Wildnis klarkommen mussten, stand Manith vor einer Aufgabe, die einer vierzehnjährigen nur den Tod bescheren konnte. Amazone hin oder her. Die fünf wurden nun einzeln, jeweils von zwei Kriegerinnen begleitet, in verschiedene Richtungen des Waldes geführt. Während sich die Menge auf dem Platz allmählich auflöste, blickte Rowena ihnen hinterher. Nachdem Manith nicht mehr zu sehen war, wandte sie sich um und sah Elze, die wild gestikulierend auf Zara einredete. Die Königin schritt zu den Frauen und bedachte Elze mit einem verwunderten Blick:

„Du solltest dich doch mit Rotauge in deine Hütte zurückziehen!“

Elze zuckte nur hilflos mit ihren Schultern:

„Ich suche das Tier seit Manith ihren Stein gezogen hat. Doch ich kann Rotauge beim besten Willen nicht finden.“

„Ich kann mir kaum vorstellen,“ brachte Zara trocken hervor: „Das es für Andrans Prüfung von Bedeutung ist, ob sich Rotauge in seiner Nähe aufhält oder nicht.“

Rowena nickte geistesabwesend. Sie wusste genau, dass Zara Recht hatte. Im Geheimen wünschte sie sich mit einem Mal, das die Wölfin auf Manith dermaßen Acht geben würde, wie sie es bei Andran tat. Das Schwindelgefühl, das die Königin seit einigen Minuten fest gepackt hielt, drohte schlimmer zu werden. Sie ließ Elze und Zara wortlos stehen und wollte nur noch ihre Hütte erreichen. Als sie die Decken des Eingangs zur Seite schob, konnte sie gerade noch eintreten, bevor sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt zusammenbrach.

***

Die beiden Kriegerinnen führten Andran eine gefühlte Ewigkeit in eine bestimmte Richtung des Waldes. Andran kannte die Umgebung des Dorfes in und auswendig, aber bei der Dunkelheit befürchtete, er die Orientierung zu verlieren, je weiter sie marschierten. Endlich war es soweit. Die beiden Kriegerinnen bedeuteten ihm allein weiterzugehen. Mit ihren typischen, fließenden Bewegungen verschwanden sie urplötzlich im Unterholz und entfernten sich. Andran wartete eine Weile ab und starrte zum Himmel. Unwillkürlich musste er lächeln. Zara brachte ihm früh bei, sich an den Gestirnen zu orientieren. Dann sprintete er los. Er musste so schnell wie möglich in Richtung des Dorfes zurück rennen, und es dann weitläufig umrunden, wenn er Manith einholen wollte. Dabei war höllische Vorsicht geboten, damit er nicht die Kriegerinnen auf sich aufmerksam machte, die ihn in die Wildnis führten. Obwohl er sich sicher war, dass die beiden sich so schnell wie möglich wieder ins Dorf begeben würden, wollte er nichts dem Zufall überlassen. Er konnte die Zeit schlecht einschätzen, vermutete aber, dass es ihn zwei Stunden kosten würde, bis er Maniths Spur aufnehmen konnte. Andran rannte wie ein Teufel. Dabei sprang er elegant über Hindernisse, wie umgestürzte Bäume oder kleinere Flussläufe, die sich in großer Anzahl durch den Schwarzen Wald schlängelten. Zara hatte ihm stets eingeschärft, sich in der Wildnis niemals zu verausgaben. Somit hielt er gelegentlich an und ging kurz in die Hocke, um sich seine Kräfte besser einzuteilen. Bei einer dieser kurzen Pausen ließ ihn ein Rascheln im Gebüsch direkt neben ihn zusammenfahren. Er spannte jeden Muskel seines Körpers an und lauschte. Dabei ließ er das Gebüsch nicht aus den Augen. Erleichtert stieß er den Atem aus den er anhielt, als die Zweige der Büsche auseinander fuhren und Rotauge aus dem Dickicht schritt. Sofort legte er seine Arme um den kräftigen Nacken der Wölfin und liebkoste sie.

„Nun sind wir beide in Schwierigkeiten!“ sprach er zu ihr und kraulte jetzt ihr linkes Ohr. Einer Eingebung folgend blickte er dem Tier direkt in die Augen:

„Manith!“ flüsterte er Rotauge zu: „Wir müssen Manith finden! Manith!“

Die Wölfin, die den Namen natürlich kannte, spitzte ihre Ohren. Andran wiederholte Maniths Namen noch mehrere Male, und bedeutete dem Tier zu suchen. Rotauge begann zu wittern und schlug plötzlich eine bestimmte Richtung ein. Andran lobte das Tier überschwänglich, dann rannte die Wölfin los. Das Tempo des Tieres konnte Andran unmöglich mithalten. Zuerst blieb Rotauge öfter stehen und wartete auf ihn, dann passte sich das kluge Tier seiner Geschwindigkeit an. Als die Morgendämmerung anbrach, fand er zu seiner großen Erleichterung schnell die ersten Spuren von Manith. Die Wölfin hatte ihn in genau die richtige Richtung geführt. Das Tier schnupperte aufgeregt an den Spuren, und sie liefen sofort weiter. Als sie erneut an einen schmalen Wasserlauf kamen, beschloss Andran, sich für einen Moment auszuruhen und etwas von dem Trockenfleisch zu essen, das er mitbekommen hatte. Er setzte sich auf einen Stein und beobachtete wie Rotauge zum Wasser trottete, um zu trinken, als er eine Pfeilspitze in seinem Nacken spürte.

„Bist du eigentlich wahnsinnig?“ hörte er Maniths vertraute Stimme. Andran erhob sich und drehte sich zu dem Mädchen um, das den Pfeil gerade wieder in ihrem Köcher verschwinden ließ.

„Meine Mutter wird uns beide umbringen, sobald sie erfährt, dass du mir gefolgt bist!“

„Da muss sie sich jetzt wohl hinten anstellen!“ brachte Andran süffisant hervor: „Dieser Murlog hat da ja wohl das Vorrecht!“

Manith schaute ihn mit großen Augen an. Sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass sie ihn von seinem Vorhaben, sie zu begleiten, nicht abbringen konnte.

„Die Aufgabe die man dir auferlegt hat,“ fuhr Andran fort: „ist unmöglich zu bewerkstelligen. Das weiß deine Mutter – das weiß der gesamte Stamm.“

„Und wem nützt es, wenn wir beide draufgehen?“ fragte Manith, wobei ihre Stimme einen traurigen Klang bekam. Zum ersten Mal glaubte Andran, in ihren Augen so etwas wie Hoffnungslosigkeit zu erkennen. Von ihrem Stolz, als sie ihm auf dem Platz vor der Ratshütte noch schwor lebend wieder zurückzukehren, war nicht mehr viel zu erkennen.

„Ich habe nicht vor, mich von diesem Biest zerlegen zu lassen,“ begann Andran ihre Frage zu beantworten:

„Gemeinsam haben wir eine Chance. Stell dir doch nur die Gesichter unserer Schwestern vor, wenn wir gemeinsam zurückkehren. Wenn jeder von uns einen Reißzahn von diesem Biest bei sich trägt. Außerdem vergisst du da noch eine Kleinigkeit!“

Manith blickte ihn nur fragend an.

„Wir sind jetzt zu dritt!“ Dabei zeigte er auf Rotauge, die sich unweit von ihnen hingelegt hatte und sie neugierig beobachtete.

„Also gut!“ brachte Manith endlich ihr Einverständnis hervor: „Die Kriegerinnen die mich aus dem Dorf herausgeführt haben, erklärten mir genau wie ich Murlogs Höhle finden kann.“

„Worauf warten wir dann noch?“ fragte Andran und deutete ein verständnisloses Schulterzucken an.

Manith zeigte nach Westen: „Wir müssen dort entlang!“

Sie drehte sich und marschierte augenblicklich vorweg. Ein Lächeln huschte mit urplötzlich über ihre Lippen. Zum ersten Mal, seitdem ihr bewusst wurde, dass sie den schwarzen Stein gezogen hatte und die damit verbundene Aufgabe erfuhr, schöpfte sie wieder Hoffnung. Sie war unendlich dankbar dafür, dass Andran ihr mit Rotauge gefolgt war. Doch das würde sie niemals zugeben.

Andran und Sanara

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