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2.4. Totgesagte leben länger

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Die Versammlung der Fürsten des Hochlandbundes, die Angst der Menschen vor einem drohenden Krieg, sowie die Ungewissheit ob die erschreckenden Nachrichten aus dem Süden der Tatsache entsprach, ließen Vitras nicht mehr zur Ruhe kommen. Der Kriegszauberer hielt es im Augenblick nicht für sinnvoll, sein Wissen von der Prophezeiung „Der Zwei die Eins sein müssen“ weiterzugeben. Dass ein übermächtiger Dämon, in nicht allzu ferner Zeit, in der Lage wäre, die Welt der Lebenden zu betreten, würde ein unverantwortliches Chaos hervorrufen. Somit beschloss Vitras, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wie die Dinge im Süden zurzeit standen. Zudem war es notwendig, ein Treffen mit den führenden Mitgliedern der Handelsgilde in Diran zu arrangieren. Die neuen Modalitäten, die die vom Bund beschlossenen Verlegungen der Handelsrouten mit sich brachte, mussten dringend vor Ort erörtert werden. Nach reiflicher Überlegung, entschied sich Vitras dafür, Sanara mitzunehmen. Seine Enkeltochter hatte bisher eine durchweg glückliche und behütete Kindheit. Für diese Tatsache war er überaus dankbar. Doch in Anbetracht der Prophezeiung, hielt Vitras es nicht nur für wichtig, sondern auch die Zeit für gekommen, dass seine Enkeltochter eine wichtige Lektion lernte. Sie musste mit eigenen Augen erkennen, dass es sich in der Welt nicht überall so friedlich wie im Fürstentum verhielt. Als Fürstin Eldar erfuhr, dass Vitras vorhatte, Sanara auf die gefährliche Reise in die vom Krieg bedrohte Stadt Diran mitzunehmen, bekam sie einen Tobsuchtsanfall, der seinesgleichen suchte. Dem Kriegszauberer gelang es jedoch, Eldar von der Notwendigkeit seines Vorhabens, zumindest teilweise zu überzeugen. Sein Argument, dass es in der gesamten bekannten Welt keine vierzehnjährige gab, die dank ihrer magischen Fähigkeiten besser auf sich Acht geben konnte als Sanara, beruhigte die Fürstin. Am Tag ihrer Abreise warnte sie den Kriegszauberer allerdings, dass er es nicht wagen sollte ihr wieder vor die Augen zu treten, wenn das Mädchen auch nur einen Kratzer davontragen würde.

Die mehrwöchige Reise im Schutze einer großen Handelskarawane, führte sie durch Teile der Gillischen Wälder und den weiten Ebenen Umurs. Am späten Abend, des dritten Tages des großen Weinfestes, erreichten sie endlich die Stadt Diran. Vitras betrachtete mit Unbehagen die Wehranlagen der Stadt. Sie wirkten für ein ungeübtes Auge durchaus imposant. Sie standen jedoch in keiner Weise in Konkurrenz zu denen von Kushtur und schon gar nicht derer von Darkan. Dabei waren sie durchaus dazu angelegt, einem überlegendem Feind, längerfristig standzuhalten. Allerdings befanden sich die Mauern in einem erbärmlichen Zustand. Bei vielen Mauerabschnitten waren im Laufe der Zeit große Brocken herausgebrochen, und Risse zogen sich quer durch die gesamten Wehranlagen. Jetzt könnte es sich rächen, niemals auch nur eine Gold Sesterze in die Instandhaltung gesteckt zu haben. Nachdem die Zollmodalitäten erledigt waren, wurde die Karawane durch das große Haupttor gelassen. Eine breite Straße, die von fünf und sechsstöckigen Gebäuden gesäumt war, führte vom Tor zum Zentrum der Stadt, wo sich der große Basar befand. Menschen mit den verschiedensten Hautfarben schoben sich wie eine gewaltige Schlange voran und riefen, brüllten oder schrien in den unterschiedlichsten Sprachen. Starr vor Staunen ritt Sanara neben ihrem Großvater und sog die Eindrücke, die sie zu überwältigen drohten, wie ein nasser Schwamm in sich auf. Sie begleiteten die Karawane noch bis zum großen Basarplatz, wo der Warenaustausch seinen Anfang nahm. Vitras verabschiedete sich von dem Karawanenführer und brachte die Pferde zu einer naheliegenden Stallung. Anschließend ging er mit Sanara zu Fuß weiter. Der Geruch all der fremdländischen Gewürze, hing wie eine schwere Dunstglocke über dem Basar sowie den anliegenden Straßenzügen. Filou lag wie immer auf Sanaras Schultern und betrachtete das rege Treiben um sie herum mit großem Interesse. Vitras hatte ihm ein kleines Halsband angelegt, das mit einer dünnen ledernen Leine verbunden war, dessen Ende Sanara mit ihrer Hand fest umschlossen hielt. Sie hätten es beide nicht ertragen, wenn der kleine Nager hier verloren gegangen wäre. Vitras wollte so schnell wie möglich das Haupthaus der Händlergilde erreichen, wo man ihn schon erwartete. Auf ihrem Weg dorthin fielen dem Kriegszauberer immer wieder Priester mit langen schwarzen Kutten und spitzen Kapuzen auf, die scheinbar eine neue Religion predigten. Wild gestikulierend verkündeten sie die Ankunft einer neuen Gottheit namens ES. Der Kriegszauber, bekam das Gefühl als ob ihn jemand einen Dorn durchs Herz stieß, als er den Namen des Dämons wahrnahm. Die Gewaltbereitschaft seiner Priesterschaft war beklemmend. Ein junger Mann, der offensichtlich leicht angetrunken war, ließ bei einer Kundgebung anzügliche Bemerkungen über ES fallen. Sofort drängten sich mehrere dieser schwarz gekleideten Priester um den Mann und drängten ihn in eine enge Gasse, wo sie wie von Sinnen auf ihn einschlugen. Einige von ihnen bemerkten Vitras und warfen ihm warnende Blicke zu. Eilig schob er Sanara weiter durch die Menschenmengen.

„Hast du das nicht gesehen Großvater?“ erboste sich Sanara: „Wieso haben wir dem armen Mann denn nicht geholfen? Warum hat ihm überhaupt keiner geholfen?“

„Wir dürfen hier unter keinen Umständen auffallen Sanara. Das habe ich dir erklärt. Außerdem ist es zu gefährlich, bei solchen Menschenmassen Magie anzuwenden. Es gibt zu viele Variablen, die du nicht alle gleichzeitig bedenken kannst.“

Während sie weitergingen wurde es Vitras schlagartig klar, dass es keine innere Sicherheit in der Stadt mehr gab. Sie begegneten nicht einer einzigen Patrouille. Die einzigen Soldaten die sie zu Gesicht bekommen hatten, waren diejenigen, die am Haupttor den Zoll kassierten. Es war schon dunkel, als sie den Platz, an dem sich das Haupthaus der Händlergilde befand erreichten. Vitras blieb urplötzlich stehen und hielt seine Enkeltochter an der Schulter fest. Sanara blickte ihn nur fragend an, während sich das Gefühl eisiger Kälte in seinem Körper ausbreitete. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Das Haus der Gilde lag komplett im dunklen. Nicht ein Lichtschein drang aus einem der vielen Fenster des sonst so belebten Gebäudes. Die große Eingangstür stand sperrangelweit offen. Dem Kriegszauberer war auch nicht entgangen, dass ihnen in den letzten Minuten, je näher sie ihrem Ziel kamen, immer weniger Menschen über den Weg liefen. Der Platz auf dem sie sich jetzt befanden war sogar Menschenleer. Dann erkannte er den Grund. Überall aus den umliegenden Straßen und Gassen kamen jetzt dutzende diese schwarz gekleideten Priester hervor und kreisten sie ein. Allerdings blieben sie in sicherer Entfernung vor ihnen stehen. Vitras warf Sanara einen kurzen Blick zu. Es war offensichtlich, dass sie sehr überrascht war, doch sie zeigte nicht die geringste Spur von Furcht. Es kam ihm sogar so vor, als würde sie die Priester mit einem trotzigen Blick anschauen. Die Priester bildeten nun einen großen Kreis um sie herum. Dann traten einige zur Seite und bildeten eine Gasse, um einen Mann durchzulassen der ganz offensichtlich eine Art Oberpriester darstellte. Er trug das gleiche Gewand wie seine Glaubensbrüder, nur das auf seiner spitzen Kapuze, das Urunische Zeichen für Feuer goldfarben prangte. Mit einem unheimlichen und kalten Lächeln ging er auf Vitras und Sanara zu, bis er kurz vor ihnen stehen blieb. Seine Stimme klang hart und unnachgiebig:

„Meister Vitras nehme ich an – was für eine Überraschung! Harun ar Sabah wird hoch erfreut sein, dass wir ihm endlich euren Kopf überbringen können!“

Vitras zog die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen und ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, dass der Mann ganz offensichtlich wusste wer er war. Diese Priester stellten die Vorboten des Krieges dar, der bald auch über diese Stadt hereinbrechen würde. Dabei predigten sie in Haruns Namen das baldige Erscheinen des neuen Gottes. Somit war Diran schon längst von Haruns Häschern und Spionen durchdrungen. Zu spät bemerkte Vitras wie Sanara vor ihn huschte und dabei ihren Dolch in der Hand hielt. Drohend streckte sie die Waffe dem hageren Mann entgegen, der ihren Großvater bedrohte. Der Priester schaute belustigt zu ihr hinab:

„Der große Kriegszauberer Vitras!“ brüllte er spöttisch über den gesamten Platz: „Er versteckt sich hinter einem kleinen Mädchen!“

Schallendes Gelächter drang aus den Kehlen seiner Glaubensbrüder, als plötzlich bläuliche Blitze aus der gegenüberliegenden Gasse schossen und einen Priester nach dem anderen niederstreckten. Im gleichen Moment stürmte Sanara nach vorn und rammte den völlig überraschten Wortführer, ihren Dolch in die Brust. Bevor Vitras auch nur reagieren konnte, prasselte ein Pfeilhagel von den umliegenden Dächern auf die restlichen Priester nieder. Alles geschah innerhalb von Sekunden. Aus dem Dunkel der Gasse, aus der eben noch die Blitze hervorschossen, traten zwei Gestalten hervor, die sich ihnen rasch näherten. Vitras stockte der Atem. Es handelte sich um einen alten, gebrechlich wirkenden Mann der einen Stock als Gehhilfe verwendete, sowie eine fremdländisch aussehende Frau.

„Bei den Göttern!“ brachte Vitras nur fassungslos hervor, als er Meister Brehm und seine Meisterschülerin Mai erkannte. Dicht vor ihnen blieben sie stehen, wobei Mai Sanaras blutigen Dolch mit einem ernsten Blick bedachte. Dann legte sie ihre Hand auf Sanaras Schulter und lächelte sie an:

„Gut gemacht Mädchen!“

Sanara mochte die Fremde sofort. Ihr Erscheinungsbild überwältigte sie. Die Frau trug wie sie langes pechschwarzes Haar, das sie jedoch zu einem langen Zopf, streng zurück gebunden trug. Sie wies eine Hautfarbe auf, die Sanara noch nie zuvor sah. Ihre Augen waren schmal über denen dünne lange Augenbrauen lagen. Sie trug einen schwarzen Lederanzug, der von ihrem Hals bis zu den Knöcheln reichte. Hohe schwarze Stiefel betonten ihre langen, eleganten Beine. Über ihrem Anzug trug sie, aus hauchdünnem Stoff, die Robe der Kriegszauberer. Der ältere Mann trug die scharlachrote Robe. Der Zauberer und blieb dicht vor Vitras stehen:

„Es ist lange her alter Freund!“

Vitras glaubte zunächst weder seinen Augen noch seinen Ohren zu trauen:

„Meister Brehm! Guillaume hat mir vor Jahren erzählt, dass ihr und eure Schülerin gestorben wärt. Ertrunken im Haktur!“

Der ältere Mann hob seine Augenbrauen leicht an:

„Ertrunken? Im Haktur? Mai und ich? Das habt ihr tatsächlich geglaubt?“ schmunzelnd fuhr Meister Brehm fort: „Wichtig war, dass Harun uns diese Sharade abgenommen hat. Ansonsten hätte er mit Sicherheit einen Weg gefunden, Mai und mich zu töten. Nach eurer Verbannung überschlugen sich die Ereignisse in Kushtur. Ich sah keine andere Möglichkeit mehr, als unseren Tod vorzutäuschen und die Stadt zu verlassen.“

Vitras schloss den Mann, der noch wesentlich älter war als er selbst, in die Arme, während Sanara und Mai die beiden beobachteten. Plötzlich ertönte von den Dächern ein Pfiff, und die beiden Männer lösten sich voneinander:

„Wir müssen schleunigst hier verschwinden. Vor allem aber müssen wir von den Straßen runter.“ Brachte Brehm hervor. Vitras nickte ihm zustimmend zu, woraufhin die vier den Platz verließen und in die Dunkelheit einer kleineren Seitengasse eintauchten. Rund ein Dutzend Bogenschützen, folgten ihnen über die Dächer der Stadt, wobei diese darauf achteten, dass sie keiner neuen Gefahr in die Arme liefen. Brehm führte sie in die Viertel der Adligen. Die staubigen Straßen wurden durch feste Steinstraßen ersetzt, und die ärmlich wirkenden Häuser der unteren Viertel wichen immer mehr den Herrschaftlichen Gebäuden wohlhabender Bürger. Vitras drehte sich mehrmals nach Sanara um, die die ganze Zeit über neben Mai herlief. Es brach ihm beinahe das Herz zu sehen, das all ihre Unbekümmertheit mit einem Schlag von ihr gewichen war. Seine Enkeltochter hatte nicht nur mehrere Menschen sterben sehen, sie hatte selbst ein Leben genommen. Mai hatte schon seit geraumer Zeit ihren rechten Arm um Sanara gelegt, seit sie bemerkte, dass das Mädchen weinte. Zum ersten Mal verfluchte Vitras das Schicksal dafür, dass es an ihm lag, seine Enkeltochter auf die Prophezeiung vorzubereiten. Als sie eine prächtige Allee erreichten, die die Allee der Götter genannt wurde, bemerkte der Kriegszauberer das die Bogenschützen die Dächer verlassen hatten und hinter ihnen her gingen. Sie alle trugen rote Kleidung mit langen roten Umhängen. Wie er später erfahren sollte, gehörten die Männer dem Geheimbund der Roten Rose an. Ein Bund den Meister Brehm gegründet hatte. Die Allee der Götter war zu beiden Seiten mit Statuen, aller Götter der bekannten Welt gesäumt. Selbst Boron, der Göttervater der Barbaren aus dem hohen Norden, war hier vertreten. Vitras fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis man für ES hier ebenfalls eine Statue errichten würde. Als sie an Mirnas Statue vorbeikamen, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Es kam ihm vor, als würde sie mit einem unendlich traurigen Blick, auf ihn und Sanara hinab schauen. Endlich erreichten sie den Palast des Regenten von Diran. Hunderte von Soldaten hatten rund um das gesamte Palastgelände ihr Lager aufgeschlagen. Die rot gekleideten Bogenschützen wandten sich ab und verschwanden in verschiedene Richtungen. Als sie die ersten Zeltreihen erreichten, stellte sich ihnen sogleich ein wachhabender Leutnant mit mehreren Soldaten in den Weg. Als er jedoch Meister Brehm und Mai erkannte, drehte er sich wortlos um und winkte Brehm und sein Gefolge durch.

***

Vitras und Brehm befanden sich in einem geräumigen Arbeitszimmer des Palastes. Ein wuchtiger Schreibtisch stand seitlich eines Kamins, schräg vor einer der vier Ecken des Raumes. Durch ein riesiges Fenster aus buntem Glas, das vom Boden bis zur Decke reichte, konnte man den Schein der Lagerfeuer vor dem Palastgelände erkennen. In der gegenüberliegenden Wand war ein Kamin eingelassen, dessen Feuer eine wohlige Wärme spendete. Das gesamte Arbeitszimmer war mit schweren kostbaren Teppichen Umurs ausgelegt. Ein Diener betrat den Raum, stellte einen Krug Wein samt Bechern auf einen kleinen Beistelltisch, verbeugte sich und verließ wieder den Raum. Mai hatte es sich augenblicklich zur Aufgabe gemacht, Sanara in ihr Gemach zu bringen und sich eine Weile um das aufgewühlte Mädchen zu kümmern. Anschließend betrat auch sie das Arbeitszimmer und schloss die Tür.

„Eure Enkelin schläft jetzt Meister Vitras. Die lange Reise und die Ereignisse des heutigen Abends haben ihr ziemlich zugesetzt.“ plötzlich verzog Mai ihr Gesicht: „Man hätte mich aber gerne wegen des Raubtieres vorwarnen können!“ Dabei zeigte die Kriegszauberin, die in ihrer gesamten Aufmachung, wie ein menschlicher Dämon des Todes wirkte, ihren blutig zerkratzten Handrücken. Erst jetzt bemerkte Vitras das Sammelsurium verschiedenster Wurfwaffen, die sie über ihrer Lederkluft trug. Die aber von der dünnen Robe der Kriegszauberer verdeckt waren.

„Wenn man Sanara näherkommen möchte, muss man zuerst an Filou vorbei!“ erklärte er ihr schmunzelnd: „Das war schon immer so.“

Vitras war beinahe zum Lachen zumute, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Trotzdem hätte er es gern gesehen, wie der kleine Nager dieser Frau die Krallen zeigte. Mai gab nur ein Achselzucken von sich, und schenkte sich einen Becher Wein ein.

„Kriegszauberin Mai also?“ fuhr Vitras fort und blickte fragend zu Brehm. Dieser blickte voller Stolz auf seine Schülerin, die es weitergebracht hatte als ihr Meister.

„Sie hat alle Prüfungen bestanden Vitras. Alle Aufgaben gemeistert, die ein angehender Kriegszauberer zu bestehen hat. Das versichere ich euch. Selbst die letzte Prüfung.“

„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel mein Freund, nicht den geringsten.“

Daraufhin erhob Vitras seinen Becher in Richtung Mai:

„Es ist mir eine Ehre Meisterin Mai!“

Mai wirkte fast verlegen. Ihr bedeutete dies aus dem Mund eines der letzten lebenden Kriegszauberer sehr viel:

„Ich danke euch, Meister Vitras!“

„Nun denn,“ wandte sich Vitras wieder Brehm zu: „Ich habe eine Menge Fragen an euch. Diese neue Gottheit und ihre schwarz gewandte Priesterschaft. Was hat es damit genau auf sich. Und woher wussten sie von meiner Ankunft in Diran?“ Der alte Mann mit der roten Robe überging geschickt die Frage und zeigte auf einen der einladenden Sessel:

„Ihr solltet euch setzen Meister Vitras!“ Der Kriegszauberer kam Brehms Rat gerne nach. Ihm schmerzten inzwischen die Füße. Dann begann Brehm zu erzählen:

„Kurz nach eurer Verbannung, folgten heimlich fünf Mitglieder des Rates, Harun ar Sabah tief in die Gewölbe unterhalb des Palastes der Magier. Harun hätte sich ihrer niemals erwehren können. Nicht gegen alle fünf. Dennoch kehrte nur Harun lebend aus den Gewölben zurück. Die Wachmannschaften, die in den unteren Gewölben patrouillieren, jedoch nicht in den Tiefen in die Harun hinabsteigt, berichteten von grauenvollen Schreien, als die fünf Räte verschwanden. Daraufhin hat sich Mai heimlich in Haruns Gemächer geschlichen, um nach Antworten zu suchen. Dabei entdeckte sie uralte Papyrus Rollen, die seit Jahrhunderten als verschollen galten.“

Vitras blickte zu Mai, die nun fortfuhr:

„In den Papyrus Rollen ging es um einen längst vergessenen Gott aus dem Singarium, der zu seiner Zeit so unvorstellbar grausam war, dass die Götter ihn verbannten. Sie tilgten sogar seinen Namen.“

„Deswegen nennen sie ihn nur ES!“ brachte Vitras beinahe flüsternd hervor.

„Richtig!“ erklärte Mai weiter: „ES wurde zunächst ins große Sanktrum verbannt, wo er sich zum Herrscher der Dämonenwelt aufschwang. Wir alle kennen die uralten Geschichten, der legendären Schlacht der Götter gegen die Heerscharen der Dämonen. Im Verlaufe dieser Schlacht wurde ES von Astorius, dem Gott des Lebens besiegt und seiner Kräfte beraubt. Anschließend stieß man ihn ins große Nichts.“

Mai nahm einen kräftigen Schluck Wein und sog scharf die Luft ein:

„Offensichtlich ist es Harun gelungen ES aus dem großen Nichts zu befreien, ihn zu erwecken oder was auch immer. Nur wie er das angestellt hat... ist uns ein Rätsel!“

„Aus den Papyrus Rollen geht auch hervor,“ meldete sich nun Brehm wieder zu Wort:

„, dass ES ein Vierteljahrhundert benötigen wird, um seine ehemalige, volle Stärke zurück zu erlangen. Wir vermuten, dass davon schon fünfzehn Jahre vergangen sind. In dieser Zeit seines Erwachens, wird er von dem der ihn erweckt, erwarten, die Welt auf sein Kommen vorzubereiten. Mit Feuer und Schwert seinen Namen zu preisen!“

„Das große Übel!“ bemerkte Vitras: „Ein Dämonengott!“ brachte er noch fassungslos hervor.

„Wobei wir bei der Prophezeiung angelangt wären!“ ergriff Mai wieder das Wort: „Es gibt Gerüchte über eine alte Prophetie, der zufolge Die Zwei die Eins sein müssen das große Übel besiegen können!“

Meister Brehm wurde plötzlich ganz aufgeregt: „Die Zwei müssen schon längst geboren sein. Wir müssen sie finden!“

Urplötzlich musste Vitras laut auflachen und verschüttete dabei einen Teil seines Weins. Mai und Brehm blickten ihn nur verständnislos an.

„Was ist daran so lustig?“ fragte Brehm sichtlich irritiert.

„Nun ja,“ erwiderte Vitras: „Schon längst geboren ist gut. Ein Teil eurer Prophezeiung liegt dort oben mit einem Frettchen im Bett!“

Vitras schluckte den Rest des Weines der sich noch in seinem Becher befand herunter, und stand auf, um sich neu einzuschenken. Mai und Brehm waren absolut fassungslos. Keiner von beiden sagte ein Wort. Der Kriegszauberer ging mit seinem vollen Weinbecher wieder zu seinem Sessel, setzte sich und erzählte den beiden die ganze Geschichte. Als er geendet hatte, nahm er leicht amüsiert zur Kenntnis, dass Brehm und Mai leichenblass waren.

„Ihr... ihr habt mit einer Göttin...“ Mai wagte es nicht , die Frage zu beenden.

„Wenn ihr einmal den einen oder anderen Gott kennen lernen solltet Meisterin Mai, so werdet ihr feststellen, dass sie trotz ihrer unvorstellbaren Macht, verdammt menschlich sind.“ Daraufhin nahm Vitras wieder einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.

„Und ihr wisst nicht was aus eurem Enkel geworden ist?“ Fragte Brehm.

„Nein, verdammt nochmal!“ schrie Vitras ihn urplötzlich an: „Es gibt Momente, da möchte ich es auch gar nicht wissen. Habt ihr nicht gesehen, was mit Sanara heute Abend geschehen ist? Sie hat getötet. Sie hat ihre kindliche Unschuld verloren. Glaubt ihr ich wünsche mir das auch bei meinem Enkel zu erleben?“

Mai und Brehm brachten zunächst kein Wort mehr hervor. Vitras Ausführungen mussten sie erst noch verarbeiten. Sein überraschender Wutausbruch tat sein Übriges, dass sie erst einmal schwiegen. Vitras fing sich jedoch schnell wieder und bedauerte, seine Wut an den beiden ausgelassen zu haben:

„Verzeiht bitte, aber es ist einfach unerträglich für mich, die Kleine leiden zusehen.“

Brehm und Mai nickten ihm verständnisvoll zu, dann fuhr Vitras mit wesentlich ruhigerer Stimme fort. Dabei fuhr er mit seiner linken Hand über seinen Kopf und bemerkte wieder das leichte Pochen der eintätowierten Runen.

„Ich bin davon überzeugt, dass der Junge lebt. Dass die Götter selbst, mich damals im schwarzen Wald daran hinderten, auch ihn mitzunehmen. Vielleicht ist es sicherer für die beiden, wenn sie getrennt aufwachsen. Ich weiß es nicht!“ Die Augen des Kriegszauberers bekamen, je länger er von seinen Enkelkindern sprach, einen eigenartigen Glanz:

„Ich bin mir absolut sicher, dass die beiden eines Tages zueinander finden. Die Frage ist nur, was wir bis dahin tun können, um es Harun und den Plänen des Dämons so schwer wie möglich zu machen?“

Mit einem Mal bekam die Stimme des Kriegszauberers wieder ihren gewohnt festen Klang, mit dem es ihm stets gelang, andere zu überzeugen oder mitzureißen:

„Nicht nur so schwer wie möglich, sondern so schwer das ES wütend wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Dämon Harun auch nur die geringste Schlappe verzeihen wird.“

Brehm dachte so konzentriert nach, dass Vitras ihn mit einem Schnippen seiner Finger wieder ins Hier und Jetzt zurückholen musste.

„In den Papyrus Rollen steht doch geschrieben,“ erklärte Brehm: „Das der Dämon erwartet, dass sein Name, seine Ankunft mit Feuer und Schwert gepriesen werden soll!“

„Und?“ fragte Vitras.

„Das Ausheben der Armee Kushturs muss Unmengen an Gold gekostet haben. Soviel, dass Harun die Eroberungen vorantreiben muss, um an neues Gold zu gelangen. Womit er weitere Einheiten ausheben kann. Die Stadt Diran ist das letzte Bollwerk, dass Haruns Truppen auf ihrem Siegeszug in den Westen noch im Wege stehen. Wenn wir die Stadt halten. Wenn wir Haruns Armee hier und jetzt schlagen, diese verdammte Priesterschaft zum Teufel jagen, dann sind die Pläne Haruns und somit die des Dämons, auf Jahre hinaus vereitelt.“

Vitras stand auf, stellte seinen Weinbecher ab und ließ sich die Worte Brehms durch den Kopf gehen:

„Habt ihr euch die Verteidigungsanlagen der Stadt schon einmal genauer angesehen Meister Brehm? Sie befinden sich in einem erbärmlichen Zustand. Außerdem beschleicht mich das Gefühl, dass die Soldaten auf dem Platz vor dem Palast, das letzte Aufgebot darstellen. Auf wie viel Mann wird Haruns Armee eigentlich geschätzt?“

„Alles in allem, zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwa zwanzigtausend Mann!“ antwortete ihm Mai.

Vitras pfiff leise durch die Zähne, als ihm schon der nächste Gedanke durch den Kopf ging:

„Wo steckt eigentlich der Regent Dirans?“

„Geflohen! Mit seiner Familie, einigen hohen Beamten und Würdenträgern sowie mit dem gesamten Gold aus der Schatzkammer!“ antwortete ihm Mai erneut. Vitras warf ihr einen entgeisterten Blick zu:

„Und wer regiert die Stadt?“

Mai und Brehm schauten sich kurz an, bevor der alte Zauberer mit der roten Robe antwortete:

„Im Grunde genommen wird die Stadt von niemandem mehr regiert. Um eine Panik in der Bevölkerung und den verbliebenen Soldaten zu vermeiden, haben wir die Flucht des Regenten geheim gehalten!“

„Wir? Wer ist wir?“ hakte Vitras nach.

„General Kurz, Mai und ich! Der General ist neben uns der einzige, der von dem feigen Verhalten des Regenten weiß. Wir drei tun seitdem alles was in unserer Macht steht, hier in Diran alles am Laufen zu halten.“

Vitras Augen verengten sich, wodurch sich seine Augenbrauen zusammenzogen. Brehm erkannte diesen Ausdruck des Kriegszauberers sofort wieder. Vitras hatte einen Entschluss gefasst.

„Wir werden die Stadt verteidigen!“ stellte er kurz und knapp klar bevor er mit einem eisigen Tonfall fortfuhr:

„Wir werden dafür sorgen, dass Harun die schlimmste Niederlage seines Lebens zu schmecken bekommt.“

„Und... wie stellen wir das an?“ fragte ihn Mai sichtlich verwundert.

„Als erstes müssen wir die Ordnung in der Stadt wiederherstellen.“ antwortete ihr Vitras: „Über wie viele Soldaten verfügen wir noch?“

„Im Lager vor dem Palast halten sich gut vierhundert Mann auf.“ brachte Mai augenblicklich hervor: „Vielleicht noch einmal zweihundert Mann in den Kasernen und auf den Wehranlagen. Genaue Zahlen kann euch jedoch nur General Kurz liefern!“

„Also ungefähr sechshundert Soldaten auf maroden Mauern, gegen vielleicht zwanzigtausend gut ausgebildete Kämpfer Kushturs.“ Vitras blickte durch die große gläserne Fensterfront auf den Platz vor den Palast:

„Das hört sich nach einer Aufgabe an, die zwei Kriegszauberer eigentlich meistern müssten – oder was meint ihr Meisterin Mai?“

Die Augen der Kriegszauberin begannen vor Stolz beinahe zu leuchten, als ihr bewusst wurde, wie viel Vitras von ihren Fähigkeiten hielt:

„Das denke ich auch Meister Vitras. Ganz bestimmt sogar. Harun Ar Sabah wird den Tag verfluchen, an dem er versucht Diran zu nehmen.“

Vitras lächelte sie kurz an, dann wandte er sich an Brehm:

„Wir sollten uns jetzt zur Ruhe begeben und die ganze Sache morgen früh sofort angehen. Als erstes will ich diesen General Kurz sprechen.“

„Ich werde ihm noch heute Nacht Bescheid geben.“ versprach Mai.

Vitras verließ daraufhin das Arbeitszimmer und ging in Gedanken vertieft zu seinen Gemächern. Er öffnete leise die Tür zu Sanaras Zimmer und blickte eine Weile auf ihr schlafendes Gesicht. Filou öffnete kurz die Augen, gähnte und schlief sofort weiter, als er Vitras erkannte. Der Kriegszauberer verfluchte sich, dass er nicht auf Fürstin Eldar gehört hatte. Aber nun war es zu spät. Leise verließ er wieder das Zimmer, schloss die Tür und legte sich für wenige Stunden schlafen.

***

General Kurz war tatsächlich ein kleiner Mann, der mit seiner enormen Leibesfülle und der prunkvollen Uniform eine extrem unglückliche Erscheinung abgab. Vitras musste schlucken, als der Mann zu ihm ins Arbeitszimmer trat, in dem er am Abend zuvor mit Mai und Brehm zusammensaß. Wie so eine Figur es zum Rang eines Generals bringen konnte, war dem Kriegszauberer zunächst ein komplettes Rätsel. General Kurz punktete jedoch schnell, indem er sich von Vitras Erscheinungsbild und Auftreten in keiner Weise beeindrucken ließ. Als er begann, den Kriegszauberer über die Lage der Stadt, die Truppenstärke, die Moral der Bevölkerung sowie den erbärmlichen Zustand der Wehranlagen zu informieren, wurde Vitras schlagartig klar, dass der General ein äußerst fähiger Mann war. Er hatte bisher nur das Pech unter einem extrem unfähigen Regenten zu dienen. General Kurz hingegen war äußerst angetan von Vitras' Vorstellungen, wie die Dinge in Diran ab jetzt geregelt werden sollten.

Zunächst wurden die vierhundert Soldaten vorm Palast abkommandierst um die gesamte Stadt zu durchkämmen. Sie erhielten den Auftrag, die schwarz gewandete Priesterschaft aufzugreifen und aus der Stadt zu jagen. Danach sollte die Hälfte dieser Männer die Truppen auf den Wehranlagen verstärken, die andere Hälfte die öffentliche Ordnung Dirans wiederherstellen. Als nächstes ließ Vitras Boten in die Hafenstadt Keldan, mit der Bitte um die Bereitstellung von wenigstens viertausend Mann, schicken. In einem persönlichen Schreiben an den König Keldans, versuchte Vitras zu verdeutlichen, dass im Falle einer Niederlage Dirans, Keldan das nächste logische Ziel von Haruns Truppen darstellte.

Nachdem die Priesterschaft des Dämons aus der Stadt gejagt wurde, kehrten auch die Mitglieder der Handelsgilde in ihr Gebäude zurück. Vitras wollte sich so schnell wie möglich mit ihren wichtigsten Vertretern treffen. Inzwischen ging es längst um mehr, als nur um die Verlegung der Handelswege zum Hochlandbund.

Der Kriegszauberer war nun schon seit Tagen, beinahe rund um die Uhr damit beschäftigt, die Verteidigung der Stadt zu organisieren. Am heutigen Tag wollte er jedoch etwas Zeit mit seiner Enkeltochter verbringen. Auf der Suche nach Sanara, begegnete er Meister Brehm im Säulengang des Palastes. Der alte Zauberer wedelte aufgeregt mit einem Schwung von Papieren.

„Was stimmt euch heute Morgen denn so fröhlich alter Freund?“

„Soeben sind die Boten aus Keldan zurückgekehrt,“ brachte Brehm hervor. Der König von Keldan stellt uns die fünftausend Mann, um die wir baten, zur Verfügung. Außerdem bietet er uns an, die Nahrungsvorräte Dirans aufzustocken, falls es zu einer längeren Belagerung kommen sollte.“

Damit hatte Vitras nicht gerechnet:

„Er überlässt uns tatsächlich über dreiviertel seiner Armee!“

„Außerdem,“ fuhr Brehm fort: „hat der König durch unser Vorgehen ermutigt, die Priesterschaft des Dämons auch aus seiner Stadt gejagt. Sind das nicht hervorragende Neuigkeiten?“

Vitras musste schmunzeln und legte seine Hand auf die Schulter Brehms:

„Das sind sie. In der Tat. Allmählich nimmt die Sache tatsächlich an Fahrt auf.“

„Ich muss die guten Neuigkeiten sogleich dem General überbringen.“

Gerade als Brehm weiter gehen wollte, hielt Vitras ihn am Ärmel fest:

„Habt ihr irgendeine Idee, wo Sanara sich aufhält? Dabei fällt mir ein, Meisterin Mai habe ich ebenfalls seit Tagen nicht mehr gesehen.“

Der alte Zauberer lächelte Vitras verschwörerisch an:

„Ihr solltet einmal im großen Spiegelsaal, oberhalb der Terrassen vorbeischauen!“

Dann ging er auf seinen Gehstock gestützt weiter, um den General aufzusuchen. Vitras marschierte nun zum großen Spiegelsaal. Als er ihn betrat, fielen dem Kriegszauberer fast die Augen aus dem Kopf.

Mai hatte ihre Robe abgelegt und trug ihren schwarzen Lederanzug offen zur Schau. Sie vollführte unzählige Flic Flacs und wirbelte dabei immer wieder um und über Sanara herum. Sanara versuchte derweil ihr geschickt auszuweichen, und sie mit einem Kurzschwert zu erwischen. Vitras kannte seine Enkeltochter nur als sein kleines Mädchen, dass dank Eldars Einfluss, immer Kleider trug. Mai hatte ihr jedoch eine praktische braune Lederhose besorgt, die zu Sanaras Leidwesen nicht so schön schwarz war, wie die von Mai. Dazu trug Sanara eine weiße Bluse und schwarze Stiefel mit flachen Sohlen. Immer wieder rief Mai ihr zu, welche Schritte oder Bewegungen falsch waren. Urplötzlich wurde es Vitras bewusst, dass Sanara kurz davorstand, erwachsen zu werden.

Als die Kriegszauberin Vitras bemerkte, machte sie sicherheitshalber einige Flic Flacs zurück, um nicht doch noch von Sanaras Waffe erwischt zu werden. Dann gab sie dem Mädchen ein Zeichen sich umzudrehen.

„Großvater!“ strahlte Sanara fröhlich. Der Kriegszauberer stellte erleichtert fest, dass Sanaras melancholische Stimmung wieder ihrer fröhlichen Art gewichen war.

„Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse Meister Vitras. Aber ich dachte etwas Training könnte eurer Enkelin nicht schaden. Zumal sie Spaß daran hat.“

„Was soll daran spaßig sein, jeden Morgen zwei Stunden zu laufen und Dehnübungen zu machen?“ erboste sich Sanara.

„Das gehört eben dazu!“ stellte Mai trocken fest: „Und wenn du mir noch einmal mit deinem Drachen drohst...“ dabei zeigte Mai auf Filou: „dann laufen wir drei Stunden!“

Vitras gab seiner Enkeltochter, wie immer zur Begrüßung, einen Kuss auf die Stirn. Dann bat er sie, für einen Moment mit Filou nach draußen zu gehen.

Nachdem Sanara den Spiegelsaal verlassen hatte, schnippte Vitras mit den Fingern in Richtung der Schwingtüren, die sich daraufhin sofort schlossen. Der Kriegszauberer konzentrierte sich ganz leicht, bis er sicher war, dass sie von niemandem belauscht wurden. Mai, die sich mit einem kleinen Leinentuch den Schweiß von der Stirn tupfte, sah ihn besorgt an. Das Training mit Sanara war nicht nur anstrengend, sondern auch herausfordernd, da das Mädchen eine unglaubliche Auffassungsgabe besaß und sehr schnell lernte:

„Wir müssen reden Meisterin Mai!“ brachte Vitras schließlich hervor und ging gemächlich auf die Kriegszauberin zu.

„Wenn es euch missfällt, dass ich mit Sanara...“

Vitras ließ sie gar nicht erst ausreden indem er indem er einfach nur abwinkte:

„Nein, das ist es nicht. Macht euch darum keine Sorgen. Ganz im Gegenteil, ich begrüße es sehr wie ihr euch Sanara angenommen habt. Zumal ich gegenwärtig kaum Zeit für sie habe.“ Vitras lächelte die Kriegszauberin freundlich an, woraufhin sie betreten zu Boden blickte.

„Es ist ja auch kaum zu übersehen, dass die Kleine euch bewundert, ja geradezu anhimmelt. Nein! Ich will euch aus einem anderen Grund sprechen!“

Mai war einerseits froh, sich unbegründet Sorgen wegen ihres Trainings mit Sanara gemacht zu haben. Trotzdem beschlich sie auf einmal ein ungutes Gefühl.

„Was wisst ihr über den Geheimbund der Rosendiener?“ fragte Vitras, und schien sie diesmal mit seinen Augen fast zu durchbohren.

„Ihr meint die rot gekleidete Bruderschaft, die uns am Tag eurer Ankunft gegen diese

Priester beistand?“

Vitras nickte stumm, während Mai verlegen einen ihrer Wurfsterne der am Gürtel hing, aus seiner Schlaufe nahm um ihn erneut festzuziehen.

„Ich fürchte ich kann euch da nicht viel weiterhelfen Meister Vitras. Brehm gründete den Bund vor langer Zeit, kurz nachdem wir unseren Tod vorgetäuscht hatten. Viel mehr kann ich euch eigentlich nicht von der Bruderschaft erzählen.“

Vitras umschloss mit dem Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand sein Kinn und starrte Mai ungläubig an:

„Ihr wart nicht nur seine Schülerin und Vertraute, ihr seid die vergangenen Jahre gemeinsam untergetaucht. Ihr müsst doch wissen, warum er diesen Geheimbund ins Leben gerufen hat! Was das für Leute sind oder wie man mit ihnen in Kontakt tritt!“

Mai wurde das Gespräch mittlerweile äußerst unangenehm. Sie bekam das Gefühl, als ob der Kriegszauberer ihr Vorwürfe machen wollte, niemals Brehms Handlungen hinterfragt zu haben, oder zumindest über sie nachzudenken. Sie hatte blindes Vertrauen zu Meister Brehm. Vitras hingegen hatte ein unfehlbares Gespür dafür, ob man ihn anlog. Mai sagte ihm die Wahrheit. Der Kriegszauberer umrundete Mai, wobei die Absätze seiner Stiefel einen dumpfen Klang, auf dem geschliffenen Holzboden hinterließen. Mai starrte auf die riesige Spiegelwand, die sich vom Boden bis zur Decke über die gesamte Länge der Wand zog. Zögernd sprach sie weiter:

„Wann immer ich Meister Brehm auf die Rosendiener anspreche, wechselt er das Thema. Vor vielen Jahren erklärte er mir, dass wir ganz auf uns allein gestellt, es niemals überleben würden, sollte Harun Kenntnis von unserem vorgetäuschten Tod erhalten. Ganz davon zu schweigen, dass wir Unterstützung benötigen würden, um Harun Ar Sabahs Plänen entgegenzuwirken.“

„Das also war der Grund die Rosendiener ins Leben zu rufen? Brehm brauchte ein Netzwerk von Helfershelfern, um im Notfall euer Überleben zu sichern, sowie gegen Harun vorgehen zu können?“

„Meister Brehm war mein Lehrer!“ schrie Mai ihn unvermittelt an. Dabei liefen ihr Tränen über das Gesicht:

„Er ist für mich der Vater, den ich nie hatte. Ich vertraue ihm! Was hätte ich denn tun sollen? Wie hätte ich es wagen können irgendeine seiner Handlungen oder Entscheidungen zu hinterfragen?“

Vitras bedachte Mai mit einem harten Blick, wobei er mit den Schultern zuckte:

„Ich habe mir bisher von meinen Schülern immer gewünscht, es sogar erwartet, dass sie alles hinterfragen. Das stärkt nämlich die Auffassungsgabe sowie das Verständnis für vielerlei!“

Mai blickte verlegen zu Boden und wischte sich mit dem Leinentuch die Tränen aus dem Gesicht. Vitras war es plötzlich unangenehm, Mai derart zugesetzt zu haben. Er schritt auf sie zu und legte seinen Arm um sie:

„Es lag mir fern, euch dermaßen betrüblich zu stimmen. Ich werde Meister Brehm selbst auf diesen Geheimbund ansprechen.“

Mai atmete erleichtert auf und bedachte Vitras mit einem dankbaren Blick.

„Wie macht Sanara sich denn so als Kämpferin?“ wechselte er das Thema: „Glaubt ihr, wir können meiner Enkeltochter heute Abend die Robe der Kriegszauberer überreichen?“

Mai lachte schallend auf. Dann berichtete sie Vitras voller Stolz von ihren täglichen Kampftraining mit Sanara. Gemeinsam verließen sie den Spiegelsaal, dessen Türen sich nach einem erneuten Fingerschnippen Vitras wieder öffneten.

Andran und Sanara

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