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1.6. Begegnungen
ОглавлениеWährend die Dämmerung schleichend einsetze, erreichte Vitras die Hauptstadt des Darkanischen Reiches. Das strahlende Leuchten der Sonne wich mehr und mehr einem dunklen satten Orange, welches Darkan und seine Umgebung in ein atemberaubendes Licht tauchte. Die Reise hatte mehrere Tage gedauert, dennoch war er sich sicher, dass außer den Göttern, niemand zuvor diese Wegstrecke schneller zurückgelegt hatte. Der Kriegszauberer lenkte Audris, die kaum Ermüdungserscheinungen zeigte, eine Hügelkette empor, welche einen grandiosen Ausblick über die Stadt offenbarte. Vitras ließ seinen Blick über Darkan schweifen und konnte, wie schon vor etlichen Jahren, nur staunen.
Die Befestigungsanlagen waren wahrhaftig gigantisch. Der erste Wall, der die Stadt umgab, war schräg angesetzt und stieg erst ab seiner Mitte steil empor. Ein ganzes Stück hinter dem Wall, erhob sich eine weitere Mauer, die wesentlich höher war als die erste. Wenn es einer feindlichen Armee tatsächlich gelingen sollte, die erste Mauer zu nehmen, wären dessen Soldaten einem tödlichen Hagel der Bogenschützen der zweiten Mauer ausgesetzt, ohne die geringste Deckung zu haben. Hinzu kamen die gewaltigen Wehrtürme, die in regelmäßigen Abständen im hinteren Wall eingefügt waren. Die Wehrgänge auf beiden Wällen, waren immer wieder von breiteren Plattformen unterbrochen, auf denen mächtige Katapulte standen. Ähnlich wie in Kushtur, befand sich der Palast des Herrschers ziemlich mittig in der Stadt. Anders als der Palast der Magier, war der Palast des Herrschers jedoch auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel errichtet worden. Dafür war er von nahezu unüberwindbaren Befestigungsanlagen umgeben.
Während Vitras die Hügelkette wieder hinab ritt, sann er darüber nach, durch welches der drei großen Tore er Darkan betreten sollte. Vitras verließ den schmalen Weg, der die Hügelkette hinunterführte und fand schnell das kleine Wäldchen, welches vielleicht zwei Meilen vor der Stadt lag und dass er mit vielen Erinnerungen verband. Er stieg vom Pferd und führte Audris bis zu einem kleinen Bach. Dies war der perfekte Ort, wo Audris grasen und sich ausruhen konnte. Es widerstrebte den Kriegszauberer, das edle Tier mit in die Stadt zu nehmen um es dort in die Obhut irgendeines Stallburschen zu geben. Zumal er das Gefühl hatte, Darkan nicht auf die Weise verlassen zu können, wie er es betreten würde. Auch Filou, wäre hier wesentlich besser aufgehoben. Es stellte nie ein Problem dar, den Nager alleine zu lassen, solange er einen Bezugspunkt hatte. Bisher war dies stets seine inzwischen zerstörte Hütte in den Doronischen Wäldern, einmal aber auch Hegren und ihr Vater in Dormal gewesen. Nun hoffte Vitras, dass Filou sich an Audris halten würde und hatte keinen Zweifel mehr daran, als er das Frettchen aus der Satteltasche ließ. Als ob Filou seinen Herrn verstand, kletterte er auf den Sattel den Vitras unter eine große Eiche gelegt hatte und blickte sich neugierig um.
Vitras packte jetzt die andere Satteltasche aus und kleidete sich um. Neben der Robe der Kriegszauberer hatte Mirna ihn mit komplett neuer Kleidung versorgt. Eine Hose die extrem leicht aber dennoch warm und robust erschien. Schwarze Stiefel aus einem Material das er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie passten wie angegossen und Vitras bekam den Verdacht, dass sie unverwüstlich waren. Ein mit feinsten Kettengliedern gefüttertes Leinenhemd sowie ein breiter schwarzer Gürtel. Zum Schluss streifte sich Vitras die Robe über und legte den Gürtel an. Dann nahm er das Stirnband mit dem magischen Rubin aus der Schachtel und streifte es sich über seinen kahlen Schädel. Nach einem kurzen Schnippen seiner Finger entrollte sich die Sattelpacktasche und die Zwillingsschwerter von Asylya schwebten samt dem Schwert Gehänge zu ihm herüber. Er legte sich die Riemen um und trug nun beide Schwerter auf dem Rücken. Noch einmal ging er zu Audris und streichelte den Nacken der edlen Stute. Während ihrer Reise hatte Vitras festgestellt, das Audris ihn verstehen konnte. Er konnte sich zunächst nicht erklären, wie das möglich war, aber Audris war weit davon entfernt ein normales Pferd zu sein.
„Warte hier auf mich und achte gut auf Filou!“ Flüsterte er dem Tier ins Ohr: „Wenn du Menschen witterst versteckt euch im Wald!“ Als ob das Pferd ihn verstand, wieherte es kurz auf und drückte seine Stirn beinahe zärtlich gegen die Brust des Kriegszauberers. Vitras lächelte kurz, drehte sich um und marschierte auf die Stadt zu. Er hatte sich entschieden, Darkan durch das Südtor zu betreten, da hier stets der größte Betrieb herrschte und er somit hoffte, dort am wenigsten aufzufallen. Die Luft um den Kriegszauberer begann kurz zu flimmern und er veränderte seine Gestalt. Anstatt des furchterregenden Kämpfers sah er nun wie ein verhärmter Bauer aus, dessen zerrissener grauer Umhang kaum genug Wärme für die kommende Nacht versprach.
Am Südtor herrschte ständig reges Treiben. Ganze Handelskarawanen aber auch einzelne Händler mit ihren Karren, Bauern die ihre Waren von den umliegenden Gehöften zu den Markthäusern schafften, sowie Gaukler, Wanderer, Priester und allerlei zwielichtige Gestalten, die nicht selten von den Wachen aufgegriffen wurden, strömten in die Stadt herein als auch heraus. Die Wachmannschaft würdigte ihn kaum eines Blickes. Vom Tor des ersten Walls führte eine breite gepflasterte Straße zum Tor des zweiten Walls. Die Straße war links und rechts von einer vier Fuß hohen Mauer eingebettet, auf der ebenfalls Soldaten patrouillierten. Beim zweiten Tor angekommen, wurde Vitras von den Wachen überhaupt nicht mehr beachtet.
Zielstrebig hielt der Kriegszauberer auf das Hafenviertel Darkans zu. Die Stadt wurde an einer der breitesten Stelle des Doran errichtet. Der mächtige Fluss mündete im Ulrunischen Meer. Daher machte es für die Erbauer Darkans durchaus Sinn, die Stadt mit einer Hafenanlage zu versehen.
Obwohl der Herrscher dafür bekannt war, nicht viel auf Magie zu geben, musste Vitras davon ausgehen, dass es magische Vorkehrungen und Schutzzauber gab, falls jemand versuchen sollte, mit Hilfe von Magie in den Herrscherpalast einzudringen. Mit Hilfe eines Diebes, eines ganz bestimmten Diebes, so der Plan des Kriegszauberers sollte es jedoch gelingen, auch ohne Magie in den Palast einzudringen. Als Vitras im Hafenviertel ankam, veränderte sich das prachtvolle Darkan schlagartig. Die breit ausgelegten Straßen wichen engen Gassen. Die großenteils prunkvollen Gebäude sowie die wunderschönen Fachwerkshäuser wichen heruntergekommenen Gebäuden und Baracken. Ein fauliger Geruch hing in der Luft, der dem großen Fluss geschuldet war, wenn er Tiefwasser führte. Die Straßenlaternen wurden nur hier und da entzündet, da die Leuchtmacher sich nicht trauten, viele der engen Gassen zu betreten. Selbst die Wachmannschaften die hier ihren Dienst taten, um die öffentliche Ordnung zu bewahren, wirkten wenig vertrauensvoll auf Vitras. Viel zu oft hielten sie ihre Hände auf, um anschließend wegzuschauen. Ganz gleich ob eine Leiche im Doran versenkt oder auch nur Diebesgut illegal in einem der vielen Schuppen gelagert wurde. Vitras blieb stehen und betrachtete die Taverne, Zur Lachenden Meerjungfrau, nach der er gesucht hatte. Die Huren vor dem Gebäude würdigten ihn genauso wenig irgendeines Blickes, wie die Wachen am Südtor. Trotzdem betrat der Kriegszauberer die Spelunke mit äußerster Wachsamkeit. Der Gestank, der ihm beim Eintreten entgegenschlug, ließ ihn zunächst schwer atmen. Das übelste Gesindel, das man sich in dieser Gegend vorstellen konnte, traf sich hier, um seinen zwielichtigen Geschäften nachzugehen. Die Taverne galt zudem als heimliches Hauptquartier der Diebesgilde von Darkan. Vitras war auf der Suche nach Alteres Delvoran, ein Meisterdieb der seines gleichen suchte. In der Spelunke herrschte reges Treiben. Betrunkene, die nicht mehr wussten wer oder wo sie waren, lagen auf dem Boden, und Vitras musste über sie hinweg steigen. Mehrmals konnte er sich gerade noch unauffällig ducken, um Wurfgeschossen in Flaschenform, die nicht ihm galten, auszuweichen. Eine füllige Frau mit entblößtem Oberkörper stolperte ihm in den Weg und bedachte Vitras mit einem abfälligen Blick. Sein Zauber tat seinen Dienst. Mühsam kämpfte er sich zur Theke durch und wartete geduldig bis den Wirt ihm einen fragenden Blick zuwarf. Der Mann war gerade dabei, einem schlaksigen Jungen, den Vitras auf vielleicht acht Jahre schätzte, kräftig durchzuschütteln.
„Was willst du – Bauer?“ Brüllte der Wirt von dem Vitras wusste, dass er ein wichtiger Hehler war, den Kriegszauberer an. Dabei verpasste der überaus kräftige Kerl, der von allen nur der Grobe Johann genannt wurde, dem Jungen eine Ohrfeige, dass diesem die Tränen über die Wangen liefen. In Vitras kochte die Wut hoch, aber er beschloss ruhig zu bleiben:
„Ich suche Alteres Delvoron. Ich hörte, dass man ihn hier finden kann.“
Der grobe Johann ließ von dem Jungen ab und bedachte Vitras mit einem Blick, als ob er einen Schwachsinnigen vor sich hätte. Vitras bemerkte, dass der Junge ihn mit dem gleichen Blick bedachte.
„Bist du besoffen du Bauerntölpel?“ blaffte der Grobe Johann Vitras an: „Alteres Delvoron haben sie vor einem Jahr geschnappt und auf dem unteren Marktplatz aufgeknüpft. Der Drecksack hatte es auch nicht anders verdient. Der hat ja selbst seine Brüder von der Gilde beschissen.“
Die Nachricht musste der Kriegszauberer erst einmal verdauen. Was jedoch als nächstes geschah, ließ selbst ihn nach Luft schnappen.
Der Junge riss sich mit einer ungeheuerlichen Kraftanstrengung von seinem Peiniger los. Im nächsten Moment hielt er einen Dolch in seinen Händen, der eines Königs würdig gewesen wäre.
„Du schimpfst meinen Bruder nie wieder einen Drecksack.“ brüllte der Knabe aus Leibeskräften, wobei ihm die Tränen jetzt wie ein Schwall Wasser übers Gesicht liefen. Dann stach er zu. Blitzschnell. Mehrmals stach er dem groben Johann in den rechten Oberarm und in die Seite. Der Mann holte zu einem Schlag aus, doch der Junge rollte sich zu Boden, unter den Beinen des Wirtes hindurch und stach erneut von hinten zu. Keiner der Gäste schien sich um den Tumult hinter der Theke zu kümmern. Hier war man offenbar ganz anderes gewohnt. Der Grobe Johann blutete inzwischen wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Ein kräftiger Tritt jedoch, zu dem er noch in der Lage war, streckte den tapferen Burschen nieder. Schwankend hielt Johann sich an der Theke fest und blickte auf sein Opfer herab:
„Nun reicht es mir endgültig! Jetzt schlachte ich dich ab du kleine Drecksau!“
Johann griff nach einem großen Messer, als Vitras plötzlich über den Tresen sprang und sich schützend vor den Jungen stellte.
„Ach...“ tönte Johann: „Du willst dem Bastard Gesellschaft leisten? Das kannst ...“
Entsetzt riss Johann die Augen auf. Vollkommen geschockt, brachte er den Rest des Satzes nicht mehr über die Lippen. Das Flimmern in der Luft nahm er gar nicht war, aber die Verwandlung schon. Von einer Sekunde zur anderen wurde aus dem heruntergekommenen Bauern ein Krieger, dem er nicht in seinen finstersten Alpträumen begegnen wollte. Schlagartig wurde es still in der Taverne. Ungläubig starrten die Anwesenden auf den kräftigen Zauberer im schwarzen Gewand, mit zwei Schwertern von deren Erlös man wahrscheinlich ein ganzes Königreich kaufen konnte. Die tätowierten Runen auf dem kahlen Schädel des Mannes begannen rötlich zu leuchten. Ein Nicken des Kriegszauberers reichte aus, und der Grobe Johann wurde von einer unsichtbaren Macht gepackt, die ihn quer durch die gesamte Taverne schleuderte. Dabei wurde er gegen etliche Besucher geworfen, die er allesamt mit zu Boden riss. Vitras blickte zu Boden, wo noch immer der Junge lag und ihn mit großen Augen anstarrte.
„Bist... bist du der Zauberer von dem mein Bruder mir immer erzählte?“
„Alteres Delvoron war wirklich dein Bruder?“ Überging Vitras die Frage des Jungen mit einer Gegenfrage. Der Junge nickte nur, hielt aber immer noch den prächtigen Dolch mit einer Hand fest umschlossen. Vitras lächelte:
„Bleib unten Junge!“
Mehrere Männer mit Leder beschlagenen Knüppeln und schlecht verarbeiteten Schwertern, näherten sich unsicher der Theke. Vitras verzichtete darauf, die Zwillingsschwerter zu ziehen. Stattdessen vollführte er eine kreisrunde Bewegung seines Armes von links nach rechts. Im nächsten Moment schoss eine Druckwelle, von Vitras ausgehend, durch die Taverne. Sie riss alles mit, was sich im Weg befand. Menschen, Mobiliar und selbst nahezu die komplette Wand, die zur Gasse nach draußen führte. Putz, Staub und Holzspäne wirbelten durch die Gegend. Vitras überlegte für einen kurzen Moment, doch zu den Waffen zu greifen, als er den Groben Johann wahrnahm. Der Mann hatte tatsächlich überlebt und erhob sich zwischen all den Trümmern. Er warf Vitras einen Blick gemischt aus Wut, Hass und tödlicher Angst zu. Dann drehte er sich um und wankte davon.
„Du bist es!“ Brachte der Knabe mit einem Mal lauthals hervor und rappelte sich hoch: „Du bist Vitras! Alteres hat mir so viel von dir erzählt.“
„Komm Junge, wir müssen hier weg!“
„Gleich!“
Fassungslos beobachtete Vitras, wie der kleine Bursche eine Metallschachtel unter den Überresten des Tresens hervorzog und dessen gesamten Inhalt, der aus Gold und Silbermünzen bestand, in seinen Rucksack schüttelte. Zweifelsohne die Kasse des Groben Johann.
„Da muss noch eine sein. Die mit den Kupfermünzen.“ Brachte er aufgeregt hervor und suchte ganz offensichtlich nach der zweiten Schachtel.
„Wie heißt du Bursche?“ Fragte Vitras: „Wie wirst du genannt?“
„Devon!“ Antwortete er ihm: „Devon Delvoran, aber ich mag den Namen nicht. Niemand soll mich so nennen. Er erinnert mich nur daran, dass meine ganze Familie tot ist!“
„Das wirst du ebenfalls schneller sein als dir lieb ist, wenn wir hier nicht sofort verschwinden.“
Devon blickte zu dem Kriegszauberer empor und griff widerwillig nach der Hand, die die Vitras ihm reichte.
„Und jetzt raus hier!“
Die beiden wateten durch die Trümmer der Taverne und stiegen dabei über jede Menge regloser Körper. Der Lärm der zerborstenen Außenwand und das Geschrei der Verwundeten musste für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Als sie die Gasse betraten, war von weitem auch schon das Gebrüll der Hafenwache zu hören, das rasch lauter wurde.
„Hier entlang!“ Flüsterte der Junge und zog Vitras am Ärmel: „Die Watschelgänger sind gleich hier!“
„Die Watschelgänger?“
„So nennen wir die Soldaten der Hafenwache. Sie watscheln immer so komisch mit ihren großen Stiefeln.“ Der Kriegszauberer war davon überzeugt, das Devon sich in Darkan wie kein zweiter auskannte. Also gab er dem Jungen ein Zeichen, voraus zu laufen und folgte ihm. Zuerst kam es Vitras so vor, als rannte der Junge planlos mal nach rechts, mal nach links abbiegend, durch die teilweise finsteren Gassen. Doch je weiter sie kamen, desto mehr wurde ihm bewusst, dass Devon sie ganz gezielt aus dem Hafenviertel herausführte, ohne dass sie auch nur einen einzelnen Soldaten der Wache begegneten. Die engen Gassen wichen schon bald wieder den breiten ausgebauten Straßen, an denen jede Laterne brannte, als Devon direkt auf ein großes weißes Gebäude zuhielt. Deutlich waren die billigen roten Vorhänge durch die erleuchteten Fenster zu erkennen. Das fröhliche Gelächter und die ausgelassene Stimmung die aus dem Inneren des Hauses kam, sowie all die bunten Papierlaternen, die an der Vorderfront befestigt waren, ließen in Vitras einen Verdacht aufkommen. Als er nach oben blickte und in einem der Fensterrahmen eine halb nackte Frau wahrnahm, die ihnen zuwinkte, sah er seinen Verdacht bestätigt. Devon führte sie direkt in ein Bordell. Vitras legte seine Hand auf die Schulter des Jungen, und veranlasste ihn stehen zu bleiben:
„Kannst du mir einmal erklären was wir dort sollen? Erwartest du von mir, dass ich in einem Freudenhaus untertauche?“
„Wir brauchen uns nicht mehr zu verstecken.“ Antwortete ihm Devon: „Die Hafenwache verlässt während ihres Dienstes, niemals das Hafenviertel. Außerdem, die Leistungen die hier angeboten werden, könnten die Watschelgänger mit einem ganzen Monatslohn nicht bezahlen!“
Vitras blickte den Bruder des toten Meisterdiebes ungläubig an:
„Und was wollen wir... ich meine was willst du in diesem Haus?“
„Na ich wohne da!“
Fast verschlug es Vitras die Sprache:
„Du wohnst in einem solchen Haus?“ Der Kriegszauberer musste tief durchatmen: „Wieso lässt man dich überhaupt dort wohnen?“
„Na, weil ich ihnen Miete bezahle!“ Lächelnd hielt Devon ihm den prächtigen Dolch hin: „Was denkst du? Sollte der für zwei oder drei Monatsmieten reichen?“
Schlagartig wurde Vitras klar, dass der kleine Kerl, längst in die Fußstapfen seines toten Bruders getreten war. Zum ersten Mal betrachtete er die Waffe, die Devon in der Hand hielt genauer. Augenblicklich erkannte er das Darkanische Herrschaftswappen, das in die schmale Klinge eingraviert war. Der Kriegszauberer führte den Jungen bedächtig vom Schein der nahen Straßenlaterne weg in den Schatten einer hohen Mauer. Dann ging er in die Knie und legte seine Hände auf die Schultern des Jungen:
„Erkläre mir bitte ganz genau, wie du an den Dolch gelangt bist!“ Vitras ließ seine Augen für einen Sekundenbruchteil rot aufleuchten, während er Devon anschaute: „Und vergiss dabei nicht, dass ich es sofort bemerke, wenn man mich anlügt.“
„Ich habe ihn gestohlen.“ antwortete Devon frei heraus, als ob er über das normalste der Welt sprach: „Ich habe mich in den Palast des Herrschers geschlichen. Der Trottel war sogar dabei als ich ihn im Thronsaal geklaut habe. Und er hat nichts gemerkt.“
„Bei den Göttern!“ Schoss es Vitras durch den Kopf. Es hätte ihm schon auffallen müssen, als Devon ihn aus dem Gassengewirr des Hafenviertels herausführte und dabei der gesamten Hafenwache aus dem Weg ging. Die Art wie der Knabe sich bewegte. Er hatte das einzigartige Talent, sich nahezu unsichtbar zu machen ohne Magie anwenden zu müssen. Auch die Art, wie er in seinem Alter schon zu kämpfen vermochte. Der Knabe bewegte sich wie ein Schatten.
„Kannst du mich in den Palast des Herrschers bringen, ohne dass irgendjemand, irgendetwas davon mitbekommt?“
„Na klar!“ Antwortete Devon: „Aber muss das sofort sein? Seitdem die Kinder des Herrschers weg sind, wimmelt es da nur so von Soldaten.“
Vitras glaubte seinen Ohren nicht zu trauen: „Die Kinder des Herrschers – die Zwillinge wurden entführt?“ Seine Stimme bekam einen ängstlichen Unterton, den der Junge nicht einordnen konnte.
„Das weiß doch jeder hier,“ erklärte ihm Devon: „Bis vor kurzem haben die Soldaten jeden Stein in der ganzen Stadt zweimal umgedreht. Außerdem sind mir die beiden Frauen in den geheimen Gängen nicht ganz geheuer. Aber... du bist doch ein Zauberer, kannst du dich nicht einfach in den Palast zaubern?“
„Frauen? Geheime Gänge?“ Platzte es aus Vitras heraus.
„Der Palast ist von einem Wirrwarr aus Geheimgängen durchzogen.“ begann der kleine Dieb zu erklären: „Ich kenne zwar nur ein paar von ihnen. Aber immerhin so viele, um ungesehen hinein und wieder heraus zu kommen. Ich dachte immer das niemand darüber Bescheid weiß. Bis ich die beiden Frauen dort längs schleichen sah. Ich habe ein bisschen was mitbekommen, als sie sich unterhielten. Sie suchen auch nach den Kindern des Herrschers. Aber weißt du was komisch ist, eine von ihnen ist aus dem Kerker ausgebrochen.“
Vitras stand auf, ließ den Jungen los und stützte sich an der Wand ab. Seine Gedanken überschlugen sich. War es tatsächlich möglich, dass seine Tochter aus dem Kerker entkommen war und Devon sie gesehen hatte. Waren Haruns Häscher tatsächlich schon erfolgreich, indem sie sich der Zwillinge bemächtigen konnten. Er musste handeln – und zwar schnell. Dabei war er jetzt von einem Kind abhängig.
„Geht es dir nicht gut Vitras?“ Fragte Devon besorgt.
Vitras kniete erneut vor dem Jungen nieder: „Hör mir gut zu Devon...“
„Nenn mich nicht so...“brachte der Knabe ungehalten hervor: „Ich habe dir doch gesagt, dass ich meinen Namen nicht leiden kann... und auch warum!“
„Wie möchtest du denn genannt werden?“ Fragte Vitras beinahe hilflos. Devon zuckte mit den Schultern:
„Egal wie, nur nicht Devon Delvoran.“
„Also gut,“ fuhr Vitras fort: „Ich kann mich nicht einfach in den Palast zaubern, so funktioniert das nicht. Außerdem könnte es im Palast magische Vorkehrungen geben, die mich daran hindern ihn mit Hilfe von Magie zu betreten. Verstehst du das?“
Devon nickte und hörte dem Kriegszauberer aufmerksam zu.
„Dein Bruder hat mir vor langer Zeit einen Gefallen getan.“
„Also hat er etwas für dich geklaut.“ Unterbrach ihn der Knabe. Vitras musste schmunzeln:
„Es war etwas komplizierter. Und nun muss ich dich um einen Gefallen bitten. Bring mich so schnell es geht ungesehen in den Palast. Wenn es möglich ist, muss ich obendrein mit den beiden Frauen sprechen, von denen du mir erzählt hast.“
Devon blickte ihn nachdenklich an: „Es wird gefährlich werden nicht wahr? Und du wirst wieder töten müssen, wie vorhin in der Taverne?“
„Ich will dich nicht anlügen. Du hast recht. Es wird gefährlich werden, und wahrscheinlich werde ich töten müssen.“
„Wird man mich jagen, wenn das ganze schief geht? Werde ich in Darkan bleiben können?“
„Man wird dich nicht jagen, egal was passiert. Dafür sorge ich. Und NEIN! Du wirst nicht in Darkan bleiben und weiterhin in einem Hurenhaus leben. Aber darüber sprechen wir später!“
Devon betrachtete den prächtigen Dolch in seiner Hand und überlegte:
„Es wäre eigentlich auch zu schade gewesen, den für zwei Monatsmieten rausrücken zu müssen.“
Flink ließ er die Waffe in seinem Rucksack verschwinden.
„Wir müssen zur Großen Eichen Allee. Sie führt zum Platz der Götter hinter dem die Mauern des Palastes beginnen. Dort gibt es den Geheimen Eingang, den ich immer benutze.“
***
Elze presste ihren Zeigefinger vor die Lippen und bedeutete Morna erneut leise zu sein. Unzählige Male hatte sie nun schon die Schiebetür betätigt und heimlich auf den Korridor geblickt. Endlich schienen sie Glück zu haben. Der große Trubel war vorüber und Elze erblickte lediglich noch eine Dienstmagd, die gerade am Ende des Flures um eine Ecke bog und somit auch aus dem Blickfeld verschwand. Die alte Dienerin winkte Morna heran und sie betraten hastig den langen Flur. Als die beiden Frauen sich gerade ein paar Schritte vom schweren Samtvorhang entfernt hatten, hinter dem sich die geheime Schiebetür verbarg, tauchte am Ende des Korridors ein Trupp Soldaten auf, die direkt auf sie zu marschierten. Ein scheinbar äußerst gereizter Unteroffizier führte das Kommando. Augenblicklich verfielen Elze und die Halbgöttin in einen gemächlichen Gang, um auf gar keinen Fall aufzufallen. Morna ging, wie Elze ihr geraten hatte, mit gesenktem Haupt dicht hinter ihr. In Anbetracht der schwer bewaffneten Männer, die immer näherkamen, benötigte Morna keinerlei schauspielerisches Talent mehr, um eingeschüchtert zu wirken. Erleichtert atmeten beide Frauen tief aus, als die Männer an ihnen vorbei schritten, ohne sie überhaupt zu beachten. Als die Wachen um die nächste Ecke bogen, bewegte sich Elze wesentlich schneller dem Ende des Korridors zu. Hier öffnete sie eine Tür, hinter der sich eine geräumige Besenkammer befand. Schnell huschten sie in den Raum, indem sich ein weiterer Zugang zu den Geheimgängen des Palastes befand.
„Nun ist es wirklich nicht mehr weit,“ flüsterte Elze. Dann entzündete sie eine der Fackeln, die in der Wandhalterung nahe der Schiebetür steckten und ging wieder vorneweg. Morna tastete nach dem Dolch den sie unter ihrer Schürze versteckt hielt. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto aufgewühlter wurde sie. Dabei schwor sie sich die Waffe zu benutzen, wenn es um ihr Leben oder das ihrer Kinder ging. Die alte Dienerin blieb immer öfter stehen und betrachtete prüfend die Mauern oder die Decke. Daher nahm Morna an, dass Elze sich nicht mehr sicher war, ob sie sich noch in den richtigen Gängen bewegten:
„Haben wir uns verlaufen Elze?“
„Nein!“ Flüsterte sie und zeigte auf einen Mauervorsprung: „Wir sind da! Aber...“
„Aber was?“
„Fällt dir nicht auf das überall die Spinnweben zerrissen sind!“ Elze bückte sich und leuchtete mit der Fackel den Boden aus: „Verflixt, ich habe es geahnt!“
„Was hast du denn?“ Die Halbgöttin war bis aufs äußerste angespannt.
„Fußspuren! Hier sind überall Fußspuren. Wir sind nicht die einzigen, die diesen Gang benutzen.“ Elze erhob sich wieder und schlich auf Zehenspitzen bis zum Mauervorsprung. Dort löschte sie die Fackel und steckte sie in eine der leeren Wandhalterungen.
„Ich kann Stimmen hören!“ Raunte Elze ihr zu: „Die Wände sind hier sehr hellhörig. Morna tastete mit ihren Händen die Wand ab, bis sie die Geheimtür erfühlte die zu Lord Reichels Gemächern führte. Dann presste sie ihr rechtes Ohr gegen das Holz der Tür und konzentrierte sich auf die Stimmen. Sie konnte hören, wie sich zwei Männer unterhielten. Einer von ihnen war Reichel, den sie sofort an seiner piepsigen Stimme erkannte. Die Stimme des anderen Mannes konnte sie niemandem zuordnen, den sie kannte. Nach einer kurzen Weile war sie in der Lage, nahezu jedes Wort des Gespräches zu verstehen.
„Euer Plan hatte durchaus etwas geniales an sich Reichel. Eure Räumlichkeiten waren tatsächlich die einzigen im gesamten Palast, von denen Gariens einmal abgesehen, die von den Wachmannschaften nicht durchsucht wurden. Die Zwillinge von den Gemächern des Herrschers, durch die Geheimen Flure zu euch zu bringen, wo sie niemand vermuten würde... ich bin beeindruckt.“
Morna vergaß vor Aufregung beinahe zu atmen. War es tatsächlich möglich, dass sich ihre Kinder, nur wenige Meter von ihr entfernt, hinter dieser Tür befanden. Elze, die ebenfalls mit einem Ohr an der Tür lauschte, bekam große Augen, als ihr bewusst wurde, dass tatsächlich der Minister hinter der Entführung steckte.
„Ich würde mich jedenfalls wesentlich wohler fühlen,“ antwortete Reichel dem anderen Mann: „Wenn ihr wie abgemacht, sobald wie möglich Darkan mit den Bälgern verlassen würdet. Selbstverständlich nicht, ohne mich vorher entsprechend zu entlohnen.“
„Reichel! Mein guter Reichel,“ antwortete der andere: „Ohne euch, werden wir Darkan nicht verlassen!“
„Was? Wie war das?“ Erboste sich der Minister.
„Ihr werdet mich und meine Männer begleiten, bis wir alle in Sicherheit sind. Es ist ja wohl anzunehmen, dass der Herrscher die Suche nach seinen Kindern über die Stadtgrenzen hinaus ausdehnen wird. Da werdet ihr doch gewiss Verständnis, für besondere Sicherheitsvorkehrungen haben. Vor allem, da euer Herrscher sich weigert die Verträge zu unterzeichnen und wir hier keine gern gesehenen Gäste mehr sind.“
„Ich habe genug getan!“ Erboste sich Reichel: „Außerdem habt ihr von mir die Karten erhalten, die euch sicher durch die Geheimgänge des Palastes bis zu der Kanalisation hinter der Stadtgrenze führen. Von dort braucht ihr euch nur noch bis zum Schwarzen Wald durchschlagen. Kein Darkanischer Soldat, der bei Verstand ist, wird euch dorthin folgen. Also was wollt ihr noch von mir?“ Reichels Stimme begann verzweifelt zu klingen.
Plötzlich riss Elze erschrocken die Augen auf. Hinter Morna erschienen wie aus heiterem Himmel drei der Gesandten Kushturs. Der vordere Mann hielt eine gespannte Armbrust im Anschlag und zielte mit dem Bolzen auf Mornas Hinterkopf.
„Irgendeine Bewegung,“ brachte er mit dem gleichen fremdartigen Akzent hervor, wie der Mann mit dem sich Reichel unterhielt: „... und ich schicke euch innerhalb eines Wimpernschlages zu euren Göttern.“
Morna erschrak fast zu Tode, doch Elze drückte ihre Hand wodurch sie sich soweit in der Gewalt hatte, absolut regungslos zu verharren. Die Männer hinter dem Armbrustschützen hatten inzwischen ihre Krummsäbel gezogen. Einer von ihnen beugte sich vor und betätigte den Hebel, der die Geheimtür öffnete. Mit einer Kopfbewegung bedeutete der Schütze den beiden Frauen die Gemächer zu betreten. Reichel und sein Gesprächspartner blickten sofort zum Bücherregal, das die Rückseite der Schiebetür bildete, als es zur Seite glitt. Reichel fielen fast die Augen aus dem Kopf und er war einem Herzschlag nahe, als die beiden Frauen eintraten und er Morna erkannte:
„Was, was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“ brachte er stotternd hervor.
Ohne den Minister auch nur eines Blickes zu würdigen, wandte sich der Armbrustschütze an den anderen Mann:
„Wir haben diese beiden hier dabei erwischt, wie sie euer Gespräch belauschten, Meister Baldaar.“
Baldaar war ein großer hagerer Mann, mit einem kurzen schwarzen Bart, sowie lange schwarze Haare. Er trug eine scharlachrote Robe, welche ihm bis zum Boden reichte und ihn als Magier auswies. Nur die Kriegszauberer, die eine schwarze Robe trugen, waren mächtiger als ein Magier mit einer scharlachroten Robe. Seine Augen waren schmal und wirkten bösartig.
„Kennt ihr etwa die beiden Weibsbilder?“ schrie der Magier den Minister an. Reichel zeigte zitternd auf die Halbgöttin:
„Das, das ist die Hexe die den Herrscher verführt hat. Die Mutter der Zwillinge.“ Reichel warf Elze lediglich einen flüchtigen Blick zu. Er gehörte nicht zu den Männern die sich Gesichter merkten, die ihm unwichtig erschienen. Die andere kenne ich nicht, vermutlich ist sie ihre Dienerin.“ Dann blickte er panisch zu Baldaar: „Wir sind aufgeflogen!“
„Haltet den Mund!“ Fuhr Baldaar ihn an und wandte sich Morna zu: „Sieh an, sieh an,“ begann er zu spotten: „Die Hure des Herrschers!“ Der Magier schritt gemächlich auf sie zu, als plötzlich aus einem der Nebenzimmer leises Babyweinen zu hören war. Ohne nachzudenken zog Morna den Dolch unter ihrer Schürze hervor und stürzte sich auf den Mann mit der dunkelroten Robe. Bevor der Armbrustschütze reagieren konnte, schlug ihr der Magier so heftig ins Gesicht, dass sie bewusstlos zu Boden stürzte. Der Dolch, der ihr dabei aus der Hand glitt, landete klirrend vor Baldaars Füßen. Elze schrie entsetzt auf und warf sich augenblicklich schützend über Mornas Körper. Der Magier funkelte Reichel wutentbrannt an:
„Habt ihr nicht behauptet, dass die Geheimgänge niemandem bekannt wären?“
„Ich, ich kann mir das nicht erklären.“ stammelte der Minister. Baldaar starrte auf Mornas Dolch und ließ seinen Willen freien Lauf. Augenblicklich schnellte die Waffe vom Boden in seine rechte Hand. Lord Reichel war fassungslos. Er glaubte weder an die Götter noch an Magie. Sicher, es war ihm bekannt, dass die ferne Stadt Kushtur als Stadt der Magier galt. Dennoch hielt er sämtliche Geschichten, die sich um diesen Ort rankten, schlichtweg für absurd. Diese simple kleine Zurschaustellung von Magie, brachte sein Weltbild innerhalb von wenigen Augenblicken ins Wanken. Der Magier wandte sich jetzt an den Armbrustschützen, der seine Waffe auf Elze gerichtet hielt:
„Habt ihr alles vorbereitet?“
„Die anderen warten schon vor der Stadt, dicht beim Ausgang der Kanalisation, auf uns.“ gab er sofort zur Antwort: „Die Pferde stehen dort ebenfalls für uns bereit. Wir können in kürzester Zeit den Schwarzen Wald erreichen.“
„Sehr gut!“ brummte der Magier: „Dieser verfluchte Wald stellt zwar einen enormen Umweg für uns dar, aber so kommen wir wenigstens sicher an diesem Darkanischen Pack vorbei.“ Er blickte auf die beiden am Boden liegenden Frauen und ließ den Dolch über seiner Handfläche schwebend kreisen:
„Je schneller wir jetzt verschwinden, desto besser. Das Ganze beginnt für meinen Geschmack, zu unübersichtlich zu werden. Holt die Kinder her!“
Der Armbrustschütze gab den anderen beiden Männern ein Zeichen, woraufhin sie sich sofort ins Nebenzimmer begaben, aus dem inzwischen das Weinen zweier Säuglinge zu hören war.
„Was soll mit den Frauen geschehen?“ fragte Reichel im unterwürfigen Tonfall, wobei er seine Augen nicht vom Dolch, der noch immer über der Hand des Magiers schwebte, abwenden konnte. Baldaar begann nahezu diabolisch zu grinsen:
„Die zwei werden ein hervorragendes Ablenkungsmanöver für unsere Flucht abgeben. Da der Herrscher davon überzeugt zu sein scheint, dass diese Frau für die Entführung verantwortlich ist, wird er keinen Gedanken an uns verschwenden, sobald man sie in Ketten vor ihn führt.“ Der Magier brach in ein gehässiges Gelächter aus:
„Wie wunderbar sich doch immer wieder alles für die wahren Gläubigen fügt!“
Elze begann unaufhörlich zu schluchzen, während sie Mornas regungslosen Körper fest an sich drückte. Die treue Dienerin befand sich in einem absolut geschockten Zustand und realisierte kaum, wie die Zwillinge von den fremden Männern weggetragen wurden. Baldaar nickte Lord Reichel plötzlich freundlich zu:
„Ich denke, wir können doch darauf verzichten, dass ihr uns begleitet. Was haltet ihr davon, augenblicklich euer Gemach zu verlassen und auf den Fluren lauthals nach den Wachen zu rufen. Immerhin habt ihr diese Verräterin hier aufgegriffen.“ Dabei zeigte er lächelnd auf Morna. Der Minister, schöpfte mit einem Mal die Hoffnung, doch noch heil aus der ganzen Situation herauszukommen. Augenblicklich riss er seinen Blick von dem inzwischen tanzenden Dolch, drehte sich herum, sprintete zur Tür und riss sie auf. Mit einem Satz befand er sich auf dem breiten Korridor und brüllte, wieder mit etwas mehr Selbstsicherheit in der Stimme, nach den Wachen. Baldaar blickte derweil auf den Dolch wobei sich die Mundwinkel des Magiers teuflisch grinsend nach oben zogen. Der Zauberer ließ seinen Willen erneut frei und der Dolch beendete abrupt seine kreisenden Bewegungen. Im nächsten Moment schoss er auf Reichel zu, der sich direkt außerhalb des Zimmers vor der offenen Tür befand und lauthals nach den Wachen schrie. Der Dolch traf den Minister mit ungeheurer Wucht und drang dabei tief in seinen Rücken ein. Ungläubig drehte sich Reichel herum, dessen Rufen augenblicklich erstarb. Blut lief ihm aus dem Mund wobei er ungläubig ins Zimmer blickte. Er sah noch kurz die scharlachrote Robe des Magiers, als sich hinter Baldaar auch schon die als Bücherregal getarnte Geheimtür schloss.
***
Vitras schlich schon eine ganze Weile mit dem kleinen Dieb durch das Labyrinth artigen Gänge. Es beeindruckte den Kriegszauberer ungemein, wie der Junge sich vollkommen furchtlos in der Dunkelheit bewegte. Immer wenn Licht durch Mauerrisse oder den Spalten schlecht gesetzter Holzbalken fiel, und die Gänge somit schwach beleuchtete, wich der Knabe diesem sofort aus, indem er in den Schatten der nächsten Wand huschte. Sie kamen schnell voran, und Vitras hatte keinerlei Zweifel daran, das Devon wusste wohin er sie führte. Mit einem Mal blieb der Junge stehen:
„Wir sollten umkehren!“
Vitras lauschte angestrengt und hörte beständig lauter werdendes Brüllen vieler Männer. Offensichtlich Soldaten, die völlig konfuse Befehle brüllten. Als ob sie nicht wussten, was zu tun war.
„Das sind die Wachmannschaften!“ Flüsterte Devon: „Denen sollten wir wirklich aus dem Weg gehen!“ Sie konnten hören, wie die Soldaten auf dem Flur hinter der Wand wo sie sich gerade aufhielten, entlang rannten. Der Name seiner Tochter fiel. Vitras verpasste Devon einen Schubs, das dieser sofort zu Boden ging:
„Geh in Deckung!“ Brüllte der Kriegszauberer ihn an und entfesselte auch schon seinen Willen. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schoss eine Druckwelle durch die Mauer, die ihn von den Soldaten trennte und schlug ein mannshohes und mehrere Schritte breites Loch in die Wand. Mauersteine, Geröll, Teile zerfetzter Holzbalken schossen über den Korridor und prallten an die gegenüberliegende Wand. Gefolgt von einer dichten Wolke aus Rauch und Staub. Mit einem Schritt stieg Vitras durch die Öffnung und blickte sich um. Direkt neben ihm stand Dilder, ein junger Diener in seiner jetzt völlig verdreckten Dienst Uniform. Wie durch ein Wunder wurde er von keinem der eben noch herumfliegenden Trümmerteile getroffen. Als er Vitras mit seiner wehenden schwarzen Robe erblickte, den schwach pulsierenden Rubin in dessen Stirnband, die Runen Tattoos auf dem kahlen Schädel und den mörderischen Blick in dessen Augen wahrnahm, verdrehten sich seine Augen und er fiel ohnmächtig zu Boden. Am Ende des Korridors zu seiner linken, befanden sich mehrere Soldaten die ihn mit einem Blick bedachten, als wäre er Tantras persönlich. Vitras lächelte sie grimmig an und zog die Zwillingsschwerter aus ihren Scheiden, die er auf dem Rücken trug. Langsam schritt er auf die Wachen zu. Die Männer wichen vor ihm zurück, als sie die feinen Blitze wahrnahmen, die zwischen den Schwertern hin und her sprangen. Vitras erblickte jetzt eine Leiche vor den Bewaffneten. Offensichtlich ein hoher Würdenträger und der Anlass des Aufruhrs, bevor er die Mauer zerstörte. Aus dem Zimmer, vor dem die Soldaten standen, hörte man inzwischen wieder laute Stimmen, die Befehle schrien oder sich wegen des ohrenbetäubenden Knalls erkundigten. Zwei Frauen, die man in Ketten gelegt hatte, wurden unsanft hinaus auf den Flur gestoßen. Die Halbgöttin hob leicht ihr Gesicht an und erblickte Vitras. Der Kriegszauberer glaubte für einen Moment, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die junge Frau hatte ein starkes, blutunterlaufenes Auge und sah stark mitgenommen aus. Trotzdem erkannte er in ihr, die edlen Gesichtszüge ihrer Mutter wieder. Das musste Morna sein. Die Gardisten, die seine Tochter und die andere Frau abführen wollten, trauten ihren Augen nicht, als sie den Flur betraten und ihn erblickten. Einen Fremden derart schwer bewaffnet in diesem Teil des Palastes anzutreffen, war einfach undenkbar. Vitras schritt weiterhin auf die Männer zu. Irgendein Offizier fasste sich als erster und donnerte einen unmissverständlichen Befehl. Durch ihre schiere Übermacht ermutigt, stürmten die Wachen nun mit Schwertern oder Hellebarden bewaffnet auf den Kriegszauberer zu. Devon krabbelte gerade aus dem Loch in der Mauer und sah fassungslos auf das Spektakel, das sich ihm bot. Der Rubin im Stirnband des Zauberers begann kräftig zu leuchten. Vitras Wille ließ die ersten Soldaten die ihn fast erreicht hatten durch die Luft schleudern. Hart prallten sie gegen die Wände, die Decke oder ihren hinterher stürmenden Kameraden. Mit einer tödlichen Eleganz ließ er anschließend die Schwerter durch die Körper seiner Angreifer kreisen. Mühelos fuhren sie durch die Rüstungen und Kettenhemden seiner Gegner, drangen in Fleisch ein, zerstörten Knochen oder trennten Gliedmaßen von ihren Körpern. Innerhalb von Sekunden war der ungleiche Kampf beendet. Zwei Dutzend tote oder schwer verletzte Männer säumten den Korridor, während Vitras unbeirrt auf seine Tochter zu schritt. Obwohl im Wald der Götter aufgewachsen und selbst Tochter einer Göttin, starrte Morna den Fremden wie ein Fabelwesen aus längst vergessenen Zeiten an. Das pechschwarze Gewand mit den goldenen und roten Symbolen, dass er trug, reichte von seinen breiten Schultern bis kurz über den Boden. Der Kämpfer trug einen kahlen Kopf voller mystischer Tattoos. Der perfekt sitzende Schnauzer und der halblange schwarze Bart mit den weißen Strähnen, verliehen dem Mann trotz seines nicht mehr ganz jungen Alters, ein attraktives Aussehen. Seine Gesichtszüge waren jedoch so sehr vom Zorn verzerrt, dass die wenigen verbliebenen Gardisten, die nicht in den Kampf eingegriffen hatten, entsetzt vor ihm zurückwichen.
Elze blickte ihn ebenfalls entgeistert an. Die Halbgöttin konnte es sich nicht erklären, aber sie verspürte absolut keine Furcht vor diesem Mann. Aus ihr völlig unerklärlichen Gründen, kam der Fremde ihr seltsam vertraut vor. Vitras musste sich beherrschen, damit seine Stimme nicht brüchig klang:
„Hebt ein wenig eure Hände empor!“ bat er beide Frauen in einem sanften Tonfall. Die Frauen hoben nahezu gleichzeitig ihre Hände an und streckten sie Vitras entgegen. Durch ein Schnippen seiner Finger sprangen die Schlösser auf, und die schweren Ketten fielen klirrend zu Boden. Die überlebenden Gardisten, die sich noch im Flur befanden, schauten sich kurz an, ließen ihre Schwerter fallen und rannten davon. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis ein Heer von Wachmannschaften den Korridor stürmen würde. Vitras drehte sich herum und sah wie Devon die toten Gardisten um ihre Geldbörsen erleichterte.
„Schatten!“ Brüllte Vitras so wütend, dass der kleine Dieb regelrecht zusammenzuckte.
„Wie hast du mich genannt Vitras?“
Der Kriegszauberer biss sich auf die Unterlippe. Unüberlegt hatte er dem Jungen nun einen Namen verpasst, von dem er wusste, dass er an ihm wachsen würde.
„Schatten!“ Wiederholte der kleine Dieb, stand auf, ließ die Geldbörsen wieder fallen und kam auf Vitras zu: „Schatten! Der Name gefällt mir!“
Als sich der Kriegszauberer wieder den beiden Frauen zu wandte, entging ihm zunächst der absolut fassungslose Blick seiner Tochter.
„Was ist mit den Kindern? Fragte Vitras: „Wo sind die Zwillinge?“
In Mornas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ihr wurde schwindelig und alles um sie herum begann sich leicht zu kreisen. Sofort stützte Vitras sie ab, während Elze in das Zimmer des toten Reichel zeigte:
„Die Gesandten Kushturs haben die Kleinen entführt. Sie sind mit ihnen durch die Geheimgänge geflohen und sind jetzt auf dem Weg zur Kanalisation, die bis außerhalb der Stadtgrenze führt.“
„Kommt,“ brachte Vitras nur hervor und bedeutete den beiden Frauen wieder Reichels Gemächer zu betreten.
„Du auch!“ Befahl er dem Jungen, der sofort und ohne Widerrede ebenfalls die Gemächer betrat. Als sich alle vier mitten im großen Zimmer befanden drehte Vitras sich zur Tür herum. Morna hätte schwören können, dass die Luft um den Zauberer herum zu schwirren und zu flirren begann. Seine Hände vollführten blitzschnell einige Gesten in der Luft und mit einem lauten Knall schlug die Tür ins Schloss. Im nächsten Moment begann sich sämtliches Mobiliar im Zimmer wie von Geisterhand selbst zu bewegen. Tische, Stühle und Schränke schwebten zur Tür, um sie zu verbarrikadieren.
„Wer seid ihr eigentlich?“ Stammelte Elze plötzlich, die sich von all den Ereignissen mittlerweile schlichtweg überfordert fühlte.
„Der, der Junge nannte ihn Vitras!“ stotterte Morna: „Elze! Ich glaube, dass, dass ist mein Vater!“
Seit der Knabe, den er Schatten nannte, ihn mit Vitras ansprach, fing Morna allmählich an zu begreifen. Immer wieder, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab, fragte sie Mirna nach ihrem Vater aus. Die Göttin versuchte stets das Thema zu wechseln und gab ihrer Tochter somit nie allzu viel preis. Aber Morna merkte sich jedes Detail, ganz besonders seinen Namen. In den seltenen Momenten in denen Mirna über ihn sprach, wurde es Morna bewusst, wie sehr ihre Mutter Vitras lieben musste, obwohl er ein Sterblicher war. Der Gefühlsausbruch, den Vitras vor wenigen Augenblicken noch unterdrücken konnte, drohte ihn zu übermannen. Eine Träne lief ihm über die Wange:
„Deine Mutter schickt mich!“ Brachte er schluckend hervor: „Du weißt bestimmt wie überzeugend sie sein kann!“
Morna ging auf ihren Vater zu bis sie dicht vor ihm stand. Sie hob ihre linke Hand und wischte ihm zärtlich die Träne von der Wange. Dann schloss sie ihn fest in ihre Arme. Elze beobachtete Vater und Tochter, die sich nie zuvor begegnet waren und war sichtlich bewegt. Immer wieder wischte sie sich mit einem Tuch, das sie aus ihrer Schürze gezogen hatte, die Augen trocken. Vitras hielt seine Tochter jetzt ebenfalls fest umschlungen und kümmerte sich in diesem Augenblick keinen Deut um den erneuten Lärm auf dem Korridor. Er wollte nur diesen Moment genießen. Das Dröhnen schwerer Stiefel sowie die Gebrülle wachhabender Offiziere wurde immer lauter. Der kleine Dieb hingegen, kümmerte sich herzlich wenig um die Wiedersehenszeremonie zwischen Vater und Tochter. Er inspizierte aufs gründlichste die Räumlichkeiten des toten Ministers, wobei er das eine oder andere Kleinod in seinem Rucksack verschwinden ließ. In einem der Nebenzimmer war er gerade damit beschäftigt, eines der Schlösser von Lord Reichels Schreibtischschubladen zu knacken, als ihn der aufkommende Lärm aufschreckte. Die ersten Gardisten begannen inzwischen gegen die verbarrikadierte Tür zu schlagen. Entsetzt blickte er durch die offene Tür zu Vitras, dem die neue Gefahr völlig gleichgültig zu sein schien.
„Vitras!“ Brüllte er lautstark, rannte um den Tisch herum und eilte zu dem Kriegszauberer. Sofort zog er ihm an seinen Ärmel, um ihn auf die neue Gefahr aufmerksam zu machen. Morna blickte zu ihm herunter.
„Habe ich einen Bruder, von dem ich nichts weiß, Vater?“ Daraufhin musste Vitras laut auflachen. Das Hämmern an der Tür wurde immer heftiger. Der junge Dieb schaute die beiden an, als hätten sie ihren Verstand verloren.
„Nein!“ Antwortete ihr Vater: „Der kleine Schatten ist nicht dein Bruder. Aber ich werde mich von nun an auch um ihn kümmern.“
„Vielleicht fängst du am besten gleich damit an, indem du dir schnell etwas einfallen lässt.“ Brachte der Schatten hilflos hervor und deutete zur Tür. Elze ließ das Bücherregal zur Seite gleiten und winkte den anderen zu. Der Dieb rannte als erster ins Dunkel der Geheimgänge, woraufhin Vitras und die beiden Frauen ihm augenblicklich folgten. Elze schloss die Geheimtür und blickte den Kriegszauberer fragend an, als er anfing monoton in einer Sprache zu flüstern, die sie nicht kannte. Staunend beobachtete sie, wie das Holz der geheimen Tür sich in festes Mauerwerk verwandelte. So schnell würde ihnen auf diesem Weg niemand mehr folgen.
„Wenn wir den Zwillingen folgen wollen, müssen wir hier entlang.“ erklärte Elze und zeigte in eine bestimmte Richtung, als ihnen ein triumphierendes Geschrei verriet, dass die Wachmannschaften es geschafft hatten, in die Gemächer einzudringen.
„Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren!“ antwortete Vitras, woraufhin Elze ihren Arm um die Schultern des Jungen legte und mit ihm vorausging. Vitras und Morna folgten den beiden.
„Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Name, den der Junge trägt?“ Flüsterte Morna ihrem Vater zu.
„Das ist nicht so ganz einfach zu erklären.“ Erwiderte der Kriegszauberer: „Beobachte ihn einfach eine Weile, dann wirst du es schon verstehen.“
„Aus irgendeinem Grund überkommt mich das Gefühl, dass man seinen Namen in einigen Jahren nur mit Ehrfurcht aussprechen wird.“ Brachte Morna plötzlich in einem Tonfall tiefster Überzeugung hervor.
„Und irgendwie ist das mit eine meiner schlimmsten Befürchtungen.“ Erwiderte Vitras trocken.