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1.2. Mirna

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Vierzehn Tage waren seit den Ereignissen in Dormal vergangen. Vitras beschloss, zu seiner Hütte in den Wäldern zurückzukehren und fürs erste dort zu bleiben. Die Ausführungen des Kriegsgottes hatten den Kriegszauberer zutiefst erschüttert. Es war schwer genug mit der Tatsache umzugehen, dass die Götter ihm den Kontakt mit seiner Tochter Morna untersagten. Ein Verbot, gegen das selbst ihre Mutter nichts ausrichten konnte. Alles was er von seiner Tochter wusste, war das sie im Schwarzen Wald aufwuchs. Ein verwunschener Ort westlich des Darkanischen Herrschaftsgebietes, der die magischen Kräfte eines jeden Zauberers blockierte. Ihre Mutter erzählte Vitras, dass die göttliche Macht seiner Tochter erdgebunden war. Lediglich im schwarzen Wald, der sich immerhin vom Hohen Norden bis in den Süden Darkans zog, besaß sie göttliche Macht. Sollte sie den Wald verlassen, wäre sie eine normale Sterbliche, bis sie den Wald wieder betreten würde. Vitras versuchte sich abzulenken, indem er das Dach seiner Hütte reparierte und verschiedene Ausbesserungsarbeiten, die nicht unbedingt nötig waren, ausführte. Seinen Kampfstab allerdings, immer in der unmittelbaren Nähe liegend. Doch seine Gedanken wollten nicht aufhören, sich um seine Enkelkinder zu sorgen. Würden die Götter ebenfalls verhindern, dass er auch sie jemals zu Gesicht bekommen würde? Wer war der Vater – der ganz offensichtlich von königlichem Blut sein musste. Harun Ar Sabah, der den Dämon ES erweckt hatte, wusste mit Sicherheit von der Prophezeiung der Zwei die Eins sein müssen. Daher lag es auf der Hand, dass Harun alles versuchen würde, der Zwillinge habhaft zu werden. Das Gefühl der Hilflosigkeit machte den Kriegszauberer rasend vor Wut.

Wieder und wieder, ließ er die Axt auf einen frischen Holzschacht niederfahren, obwohl sein Vorrat an Brennmaterial für den Kamin inzwischen auf Wochen im Voraus gesichert war. Irgendwann bemerkte Vitras die ersten dicken Tropfen auf seinem kahlen Kopf und blickte zum Himmel. Die Doronischen Wälder waren für ihre launigen Wetterumschwünge durchaus bekannt. Aber in der letzten Zeit waren diese äußerst übellaunig. Vor wenigen Augenblicken tauchte das warme Sonnenlicht die Lichtung, auf der sich seine Hütte befand, noch in die schönsten Farbtöne. Die erneut heranziehenden schweren Wolken nahmen den Farben jetzt jeglichen Glanz. Vitras blieb gerade noch genug Zeit, das frisch geschlagene Holz auf seiner Veranda in Sicherheit zu bringen, als von neuem ein schwerer Regenguss losbrach. In dieser Gegend war es jedoch nicht unüblich, dass solch ein Unwetter genauso schnell verschwand wie es gekommen war. Vitras betrat seine Hütte, schloss die Tür und wurde augenblicklich mit einer stürmischen Attacke von Filou begrüßt. Der kleine Nager tat seiner Freude kund, indem er zunächst einmal kreuz und quer durch den geräumigen Vorraum flitzte, bevor er sich dem Hindernisparcours über sämtliche Möbel widmete, von wo aus er zum finalen Sprung auf die Schultern seines Herrn ansetzte. Als nächstes zog er ausgiebig am sorgfältig gepflegten Bart des Kriegszauberers, bis er beschloss, dessen Ohren einer ausgiebigen Wäsche zu unterziehen. Erst als es eine Nuss zur Belohnung gab, ließ Filou von seinem Opfer ab. Vitras musste schmunzeln, als ihm wieder bewusst wurde, dass der kleine Kerl es immer wieder schaffte, ihn von seinen bedrückenden Gedanken zumindest kurzfristig abzulenken. Nach dieser Attacke hing Vitras seine nasse Weste an einen der Haken neben der Eingangstür, nahm die Öllampe von einem Haken, der an der Decke angebracht war, entzündete sie und hing sie zurück. Ein weiches, warmes, gemütliches Licht durchflutete den gesamten Raum nachdem er zwei weitere Lampen entzündete. Filou beobachtete Vitras neugierig, als dieser sich einen Kräutertee auf der Kochstelle zubereitete. Dann setzte sich der Kriegszauberer in einen seiner beschaulichen Sessel, die mit den verschiedensten Fellen überzogen waren und zog sich einen ebenfalls mit Fell überzogenen Schemel heran, auf den er seine Füße legte. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er seine geliebte Pfeife samt Tabak auf dem Kaminsims liegen gelassen hatte. Seine braun grünen Augen begannen zu funkeln. Wieso ließ er eigentlich noch immer solche Vorsicht walten? Erst recht nachdem was in Dormal geschah. Wenn er schon nichts unternehmen konnte, sollten doch andere den ersten Schritt wagen. Ein schnippen seiner Finger genügte und die Pfeife schwebte samt Tabakbeutel vom Kaminsims in seine Hand. Eine weitere Geste sorgte dafür das der Feuerscheit im Kamin augenblicklich zu brennen anfing. Vitras stopfte seine Pfeife, entzündete sie mit Kraft eines Gedankens und inhalierte tief vom Rauch des aromatischen Kirschtabaks. Seine Gedanken begannen sich nun um Kushtur zu kreisen. Er schloss die Augen und rief sich Bilder dieser fantastischen Stadt vor sein geistiges Auge, während das Kaminfeuer, eine wohlige Wärme verbreitend, angenehm vor sich hin prasselte.

Kushtur – die Stadt der Magier, seine Heimatstadt und das letzte Bollwerk der Menschheit an der Grenze zur unbekannten Welt.

Vor etlichen Jahrhunderten erbauten die Vorfahren, der mit der Magie Begnadeten, den Palast der Magier auf einem Felsplateau, nahe der Wüste der Tränen. Arbeiter, Handwerker, Tagelöhner, Künstler und Kaufleute aus aller Herren Länder, siedelten sich während des gewaltigen Baus rund um das Bergmassiv an. So entstand im Laufe der Jahre eine einmalige Stadt. Im Kern dieser Stadt thronte der Palast der Magier auf seinem Plateau. Schnell wurde den ersten Magiern der Vorteil einer ganzen Stadt, mit all ihren Werktätigen gegenüber einem einsamen Refugium klar. Es wurden Strukturen geschaffen und Gesetzte verfasst. Kushtur wurde zur einzigen Stadt in der gesamten bekannten Welt, die nicht von einem einzelnen Regenten, sondern von einem Rat – dem Magischen Rat regiert wurde. Der Rat bestand aus dreizehn Mitgliedern und wurde stets vom mächtigsten Zauberer geführt. Kushtur entwickelte sich schnell zu einer wahren Metropole, da den Menschen Freiheiten gestattet wurden, die zur damaligen Zeit revolutionär waren. Es stand jedem Bürger frei, sich an den magischen Rat zu wenden, um Veränderungen vorzuschlagen. Die Menschen durften ebenfalls zu allen Gottheiten beten, was selbst heute nicht überall gestattet war. Eine Tatsache, die besonders Tantras oftmals übellaunig aufstieß. Ebenso wenig wurden die Menschen nach ihrer Herkunft beurteilt. Kushtur harmonierte zudem hervorragend mit den anliegenden Königreichen und Fürstentümern. Dadurch entwickelten sich hervorragende Handelsbeziehungen, die zur weiteren Blüte der Stadt beitrugen.

In all den Jahrhunderten, wurde Kushtur nur ein einziges Mal ernsthaft bedroht. Ein gewaltiges Heer wilder Horden aus der Unbekannten Welt, hatte es irgendwie geschafft, sich durch die Wüste der Tränen zu kämpfen und zog gegen die Stadt. Die Kämpfe stellten sich jedoch schnell als sehr ungleich heraus, da die wilden Horden der geballten Magie des Rates nichts entgegenzusetzen hatten. Trotzdem beschloss der Rat daraufhin, Befestigungsanlagen zu errichten, die alsbald zu den mächtigsten der Bekannten Welt zählten. Wenn man von denen Darkans, der Hauptstadt des Darkanischen Reiches einmal absah.

Vitras nippte an seinem Tee und inhalierte erneut einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, als er an den Tag denken musste, an dem all seine Arbeit, sein Kampftraining, seine Studien und Mühen belohnt wurden. Als seine Ausbildung abgeschlossen und er auch die letzte und schwierigste Prüfung bestanden hatte. Der Tag, an dem er in der großen Halle, feierlich die schwarze Robe der Kriegszauberer überreicht bekam. Seit über hundert Jahren hatte es kein Novize mehr geschafft, in den höchsten Rang der Zauberer aufzusteigen. Nicht seit Harun Ar Sabah seine Robe erhielt. Vitras war nun der erste lebende Magier, der es ihm gleichtat. Der mächtig genug war, ihm die Stirn zu bieten. Dadurch hatte sich Vitras an diesem Tag einen mächtigen Feind geschaffen.

Allmählich ließ der Regen nach. Die dunklen Wolken verzogen sich und helles, freundlicheres Licht schien wieder durch die Fenster ins Innere der Hütte. Vitras erhob sich von seinem Sessel und beschloss, wieder hinaus zu gehen, da es noch einiges an Arbeit zu verrichten gab. Er zog sich wieder seine Weste über, die noch immer ziemlich klamm war, ließ den Kampfstab in seine Hand schnellen und trat hinaus ins Freie. Soweit er blicken konnte, stieg ein leichter Nebeldunst vom Boden empor und ließ die gesamte Lichtung wie einen verwunschenen Ort erscheinen. Vitras stieg die Stufen der Veranda herunter, als er plötzlich in der Bewegung innehielt. Irgendetwas stimmte nicht. Dann vernahm er den Hufschlag vieler Pferde, welcher rasch näherkam. Angespannt blickte Vitras den Weg bis zum Waldrand hinunter, der zu seiner Hütte führte. Er schätzte die Anzahl der Reiter auf ein gutes Dutzend, dann sah er sie. Sie preschten im vollen Galopp über den Waldweg heran und wurden erst langsamer, als sie die Lichtung erreichten. Ein grimmiges Lächeln umspielte die Mundwinkel des Zauberers, als er die Farben der Garde von Kushtur erkannte. Leuchtendes Orange mit dunklem Blau. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an während die Luft um ihn herum zu flimmern und zu sirren begann. Den Reitern wäre mit Sicherheit ein schweres Unglück widerfahren, wenn der Kriegszauberer nicht die fröhliche Stimme erkannt hätte, die laut über die Lichtung hallte:

„Vitras! Meister Vitras! Endlich haben wir euch gefunden!“

Vitras löste sich augenblicklich aus seiner magischen Konzentration, als er seinen Freund Gil Guillaume an der Spitze der Uniformierten erblickte. Unwillkürlich musste der Kriegszauberer schmunzeln. Nicht nur weil er sich freute, seinen alten Freund nach all den Jahren wiederzusehen, sondern weil Guillaume immer noch eine äußerst unglückliche Figur zu Pferden abgab. Lediglich seine Begleitung von vierzehn schwer bewaffneten Soldaten der Garde, trübte seine Wiedersehensfreude. Als Guillaume sein Pferd umständlich vor der Hütte zum Stehen brachte, schritt Vitras auf ihn zu und hielt das Pferd am Zaumzeug fest, um ihm beim Absteigen behilflich zu sein. Dabei fragte er sich, ob es Gil ebenfalls gelungen war, seine magische Signatur zu erkennen, wenn er sie überhaupt gesucht hatte, oder ob Harun ihn geschickt hatte. Gil Guillaume war ebenfalls ein Magier, hatte es jedoch nie so weit gebracht wie Vitras. Er trug lediglich eine graue Robe, die seinen magischen Rang, weit unterhalb den eines Kriegszauberers platzierte. Dennoch war er ein Magier und dem grimmigen Hauptmann der Garde fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er sich vor dem Fremden, der wie ein Bauer gekleidet war niederkniete und ihn mit Meister ansprach. Vitras war die Geste seines Freundes, die unter Magiern unterschiedlichen Ranges durchaus üblich war, sichtbar peinlich. Schnell half er Guillaume aufzustehen, dem das Hochkommen dank seiner umfangreichen Leibesfülle nicht leichtfiel. Daraufhin fielen sich die beiden Männer in die Arme, wobei Vitras den Kampfstab immer noch mit einer Hand fest gepackt hielt. Guillaume begann vor Freude zu schluchzen und löste sich erst aus der Umarmung, als ihn die dröhnende Stimme des Hauptmanns zusammenzucken ließ:

„Meister Guillaume,“ wetterte er: „Wollt ihr etwa behaupten, dass dieser Wilde da der Mann sein soll, den wir suchen?“

Guillaume drehte sich langsam zu dem Hauptmann herum, wobei seine Stimme plötzlich nichts mehr von dem Trottel im Magier Gewand an sich hatte, für den die Soldaten ihn ganz offensichtlich hielten:

„Hauptmann Karon,“ begann er den Offizier zu belehren: „Darf ich vorstellen. Meister Vitras. Kriegszauberer von Kushtur!“

Die einfachen Soldaten des Trupps sahen betreten zu Boden. Der Hauptmann musste schlucken:

„Meister Vitras!“ Begann er entschuldigend, wobei er sich verbeugte: „Seine Eminenz, Meister Harun Ar Sabah, Kriegszauberer und König von Kushtur hat uns befohlen, euch sicher zurück zum Palast der Magier zu geleiten.“

Vitras stand kurz vor einem Wutanfall. Mit einem drohenden Klang in seiner Stimme, fuhr er den Offizier barsch an:

„König? Ich muss mich wohl verhört haben! Seit wann wird Kushtur von einem König regiert?“

Der Hauptmann wich sofort einige Schritte vor Vitras zurück, als ob er einen Angriff erwartete. Er musterte den Kriegszauberer von oben bis unten, bevor er entschuldigend mit den Schultern zuckte:

„Befehl ist Befehl!“ Kam es ihm lapidar von den Lippen, ohne auf die Frage seines Gegenübers einzugehen.

„Ich würde euch empfehlen, hier draußen zu warten!“ Giftete Vitras den Hauptmann im Befehlston an. Dann packte er Guillaume an der linken Schulter und bugsierte ihn die drei Stufen herauf zur Veranda, um ihn anschließend in die Hütte zu schubsen. Sein Freund zuckte zusammen, als Vitras die Tür mit einem lauten Knall zuschlug. Der nächste Schock überkam Gil Guillaume als er Filou erblickte. Das Frettchen war völlig aus dem Häuschen, dass sein Herr ihn jemanden zum Spielen mitgebracht hatte. Der arme Gil wusste überhaupt nicht wie ihm geschah, als Filou über ihn herfiel, um an allem zu kratzen und zu nagen, was ihm interessant erschien. Ein Wort seines Herrn – und natürlich eine Nuss, reichten jedoch aus, um den Nager zu bändigen. Dann wandte er sich wieder seinem Freund zu:

„Gil, was zum Teufel ist hier los? König? Und wieso zitiert mich dieser Bastard nach all den Jahren zu sich, anstatt mich gleich von seinen Vasallen umbringen zu lassen?“

Die unbekümmerte Fröhlichkeit, die einfach zu Guillaume gehörte, wie das Schwert zum Soldaten, fiel mit einem Mal gänzlich von ihm ab. Seine Augen bekamen einen traurigen Ausdruck. Er setzte sich auf einen der mit Fellen bezogenen Stühle und zupfte an seinem Schnauzbart, bevor er sich mehrmals über seine kurzen grauen Haare strich. Stockend begann er zu erzählen:

„Euch umbringen zu lassen mein Freund, das dürfte wohl auch für Harun ein schweres Unterfangen sein. Es hat sich jedoch viel, sehr viel in den Jahren verändert, seit ihr fortgegangen seid.“

Vitras schaute aus dem Fenster und beobachtete die Soldaten, die inzwischen allesamt abgestiegen waren und ihre Pferde versorgten. Die Regenwolken hatten sich inzwischen vollkommen verzogen und auch der nebelige Dunst war dabei sich aufzulösen. Vitras musterte seinen Freund und wunderte sich ein wenig darüber, dass dieser, ihn im Gegensatz zu früheren Zeiten, wieder so formell ansprach. Selbst jetzt wo sie sich allein in der Hütte aufhielten.

„Wie hat er es geschafft?“ Fragte Vitras verwundert: „Wie hat er es hinbekommen, zum König ernannt zu werden? Eine Monarchie widerspricht allem, wofür Kushtur steht. Wieso hat der Rat der Magier nichts dagegen unternommen. Gibt es den Rat überhaupt noch?“

„Oh doch,“ brachte Gil seufzend hervor: „Den gibt es noch. Jedoch nur zum Schein. Seid ihr euch damals öffentlich gegen Harun aufgelehnt und ihm die Stirn geboten habt, scheint er panische Angst davor zu haben, dass es fähige Nachahmer geben könnte. Die Mitglieder des jetzigen Rates sind ein einziger Witz. Keiner von ihnen könnte es mit einem Novizen im zweiten Jahr aufnehmen, der eure Ausbildung genießen würde.“

Vitras zog fragend die Augenbrauen zusammen: „Was ist mit Meister Gerlain?“

„Tot!“ Erwiderte Guillaume trocken: „Man fand ihn eines Morgens mit gebrochenem Genick in der großen Bibliothek. Genauso wie Meister Brehm und seine Schülerin Mai, von der man annahm, dass sie es eines Tages zur Kriegszauberin bringen würde.“

„Alle mit gebrochenem Genick in der Bibliothek?“ Hakte Vitras ungläubig nach.

„Nein, nein. Entschuldigt. Meister Brehm und Mai sind ertrunken als sie den Haktur überqueren wollten.

„Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass ein Magier, der die rote Robe trägt und eine Meisterschülerin, die das Potential zur Kriegszauberin hat..., dass die einfach so im Haktur ertrinken?“

Gil zuckte hilflos mit den Schultern: „Es geht noch weiter... sämtliche Mitglieder des Rates sind unter kuriosen Umständen verstorben. Harun hat sie nach und nach durch Magier ersetzt, die ihn niemals gefährlich werden könnten. Außerdem wisst ihr so gut wie ich, dass Harun die Fähigkeit der Demagogie zu einer reinen Kunstform erhoben und perfektioniert hat. Es war nur eine Frage der Zeit, bis seine Marionetten im Rat ihn unter dem Beifall der gesamten Bevölkerung zum König ernannt haben.“

„Wie haben denn die umliegenden Königreiche und Fürstentümer darauf reagiert?“ Fragte Vitras neugierig: „Wie hat sich beispielsweise Fürst Beldere verhalten, als er von der Ernennung Haruns zum König erfuhr?“

„Kurz nach den Krönungsfeierlichkeiten sind Fürst Beldere und sein Bruder bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Die Fürstin und ihr ältester Sohn wurden wenig später vergiftet. Daraufhin erschien Harun im Fürstentum, verkündete sein tiefstes Bedauern und sorgte dafür, dass der dreijährige Benedikt als neuer Fürst inthronisiert wurde. Als nächstes stellte er Benedikt großzügig einen seiner Magier als Berater und Vaterersatz zur Seite.“

Vitras verdrehte voller Abscheu die Augen: „Damit hat er das größte der anliegenden Fürstentümer in seine Gewalt gebracht.“ Die Abscheu die Vitras gegen Harun hegte wuchs immer mehr, obwohl er lange Zeit glaubte, dass dies gar nicht mehr möglich wäre. Er ging zur kleinen Anrichte und schenkte sich und Gil einen Becher Wein ein:

„Dann denke ich mal,“ fuhr er spöttisch fort: „Das meine Abwesenheit Harun nicht länger zufrieden stellt und ich nun meiner fröhlichen Hinrichtung in Kushtur entgegenblicken darf. Wollen wir darauf trinken?“

Gil nahm dankbar den Becher entgegen, den Vitras ihm reichte. Er nahm einen kräftigen Schluck bevor er auf die Vermutung des Kriegszauberers einging.

„Ihr irrt euch Meister Vitras!“

Wieder diese förmliche Anrede, schoss es Vitras kurz durch den Kopf.

„Harun benötigt eure Hilfe!“

„Soll das einer deiner komischen Scherze sein Gil?“

Anstatt zu antworten schüttelte Guillaume lediglich leicht seinen Kopf.

„Harun kann nicht ernsthaft glauben, dass ich jemals gewillt wäre, ihm in irgendeiner Art und Weise zu helfen. Das muss dir doch auch klar sein! Ich würde nicht einmal ein einziges Wort mit ihm wechseln!“

„Das solltet ihr aber Meister Vitras!“ Guillaumes Gesichtszüge bekamen urplötzlich eine ungewöhnliche Härte:

„Es geht um die Prophezeiung der Zwei die Eins sein müssen!“

Vitras wurde leichenblass. Tantras hatte ihn vorgewarnt. Aber was wusste Harun?

„Die Zwillinge sind geboren!“ Stellte Guillaume nüchtern fest.

„Sie müssen Göttliches und Königliches Blut in sich vereinen.“ Versuchte Vitras seinen Freund zu belehren.

„Oh, das tun sie,“ führte Gil weiter aus: „Ihr Vater ist niemand geringerer als Godvere Garien. Der Herrscher des Darkanischen Reiches. Die Mutter eine Halbgöttin namens Morna. Angeblich ist sie die Tochter von Mirna, der Göttin der Gerechtigkeit. Von Mornas Vater ist nichts bekannt, außer dass er ein Sterblicher ist.“

Vitras entspannte sich ein wenig. Harun wusste somit noch nicht, dass er der Vater Mornas war. Ansonsten wäre das Todesurteil für seine Enkelkinder längst gefällt. Es war stets sein größter Albtraum, dass Harun von seiner Tochter erfahren könnte. Nun gab es zwei weitere Leben, um die er sich über alle Maßen Sorgen machte.

Guillaume bemerkte sofort, den plötzlich aufgewühlten Zustand seines Freundes. Er wusste von Vitras Abenteuern im Hohen Norden und kannte auch so einige seiner Geheimnisse. Von dem Aufeinandertreffen des Kriegszauberers mit Mirna, wusste niemand außer den Göttern.

„Ich begreife nicht,“ fuhr Vitras fort: „Was Harun bezüglich dieser Prophezeiung von mir erwartet. Abgesehen davon... seit dem Vorfall mit Zara ist die Feindschaft offen zwischen uns ausgebrochen. Er hat geschworen, mich zu vernichten.“

Der Kriegszauberer dachte an die stolze, kämpferische Frau mit den roten raspelkurzen Haaren zurück. Sie war eine der ersten Kriegerinnen, die als Offizierin in der Palastgarde gedient hatte. Die Schwierigkeiten begannen, als sie zur Leibgarde Harun Ar Sabahs versetzt wurde. Zara besaß ein ausgeprägtes Ehrgefühl sowie einen starken Sinn für Gerechtigkeit. Diese Eigenschaften sorgten dafür, dass sie Harun abgrundtief verabscheute. Eines Tages verlangte Harun von ihr einen Bauern zu töten, der sich erdreistet hatte dem Rat seine Not vorzutragen, für die der Bauer Harun verantwortlich machte. Zara weigerte sich und brachte sogar den Mut auf, Harun zu drohen. Zu dieser Zeit war der Rat noch nicht mit seinen unfähigen Speichelleckern besetzt und der Kriegszauberer musste sich durchaus vor ihm verantworten. Harun bekam einen Tobsuchtsanfall, versah Zara mit falschen Anschuldigungen und ließ sie verhaften. Daraufhin wurde sie ihres Ranges als Offizierin enthoben, unehrenhaft aus der Garde entlassen und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Am Tage der Hinrichtung, stellte sich Vitras, Harun Ar Sabah in aller Öffentlichkeit entgegen. Er befreite Zara auf dem Hinrichtungsplatz und tötete dabei sechzehn Soldaten von Haruns persönlicher Garde. Vitras und Harun gingen mit ihren geballten magischen Kräften aufeinander los. Vitras gewann schnell die Oberhand und war kurz davor, seinen Kontrahenten zu töten. Doch dem magischen Rat gelang es in letzter Sekunde, den Kampf zwischen den beiden Kriegszauberern zu beenden. Insgeheim, stand der gesamte Rat hinter Vitras und konnte seine Handlungen nachvollziehen. Aber die öffentliche Ordnung musste aufrechterhalten werden und Vitras hatte an nur einem einzigen Tag gegen nahezu sämtliche Regeln verstoßen, die der Rat sich selbst auferlegt hatte. Um Vitras Leben zu retten, blieb den Mitgliedern des Rates nichts anderes übrig, als ihn in die Verbannung zu schicken.

„Was ist eigentlich aus Zara geworden?“ Brachte Guillaume neugierig hervor. Vitras zuckte leicht mit den Schultern:

„Das einzige was ich weiß, ist das sie nach Norden gegangen ist. Immerhin musste sie fliehen. In Kushtur war sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Es würde mich nicht wundern, wenn sie ihr Schwert in den Dienst irgendeines Fürsten gestellt hat. Ein normales Leben mit Mann, Kindern, Haus und Hof kann ich mir bei ihr wahrlich nicht vorstellen.“ Bei diesem Gedanken musste der Kriegszauberer unwillkürlich schmunzeln. Er drehte den inzwischen leeren Becher in der Hand und wandte sich der kleinen Anrichte zu, um ihn darauf abzustellen. Dabei blickte er wieder aus dem Fenster und beobachtete die Soldaten, die dabei waren eine Mahlzeit aus Brot, Dörrfleisch und Käse zu sich zu nehmen. Nicht wenige von ihnen waren beständig am Fluchen, da ihre gesamte Ausrüstung durch das Unwetter klitschnass geworden war. Nachdenklich wandte sich Vitras wieder seinem Freund zu:

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!“ Vitras Stimme bekam einen ernsten Unterton:

„Was genau verspricht sich Harun davon, sollte ich nach Kushtur zurückkehren?“

„Die Prophezeiung besagt...“ begann Guillaume, als Vitras ihn verärgert unterbrach:

„Ich weiß genau was die Prophezeiung besagt Gil. Ich weiß es ganz genau.“ Brüllte er ihn an: „Soll ich ihm etwa zur Seite stehen, um das große Übel zu bekämpfen für dessen Auferstehung er selbst verantwortlich ist, oder braucht das Dreckschwein meine Hilfe, um zwei kleine Kinder umzubringen?“

Guillaume begann auf dem Sessel unruhig hin und her zu rutschen. Immer wieder strich er sich fahrig durch die Haare. Vitras gewann den Eindruck, dass sein Freund Angst vor ihm bekam. Gil begann gleichzeitig zu zittern und zu schwitzen. Übertrieben nervös wischte er sich den Schweiß mit dem Ärmel seiner grauen Robe von der Stirn:

„Ich... ich bin nicht so stark wie du mein Freund.“ Murmelte Guillaume plötzlich: „Ich war es nie und werde es auch nie sein. Es tut mir alles so unendlich leid!“

Die Kriegszauberer blickte erstaunt zu seinem Freund herab:

„Was faselst du da? Fehlt dir irgendetwas?“

Frage ihn endlich, was er über die Zwillinge weiß,“ befahl eine mörderisch klingende Stimme, die nur Guillaume in seinem Kopf hören konnte. „Frage ihn, warum im schwarzen Wald meine Kräfte nicht wirken! Quetsche ihn verdammt nochmal wegen dieser Halbgöttin aus!“

Die Stimme in seinem Kopf verursachte Guillaume entsetzliche Kopfschmerzen. Noch schlimmer jedoch war das Gefühl, seinen Freund zu verraten, da er einfach nicht mächtig genug war, irgendetwas von dem was hier geschah zu verhindern. Aber vielleicht, dachte er... vielleicht... nur ein einziges Mal im Leben. Mit einer Kraftanstrengung, von der er niemals geglaubt hätte sie aufbringen zu können, sprang er urplötzlich auf und starrte Vitras direkt in die Augen. Guillaume begann zu weinen:

„Du... du bist in Gefahr mein Freund!“ Brachte er mühsam und stotternd hervor:

„Harun hat längst seine Häscher in die Darkanische Hauptstadt geschickt, um der Zwillinge habhaft zu werden. Er hat das große Übel erweckt. Jetzt will er den Jungen in seine Gewalt bekommen, um ihn nach seinem Willen zu formen und zu erziehen. Das Mädchen wird er töten lassen, um die Prophezeiung abzuwenden. Einzig die Macht der Halbgöttin, die er nicht einschätzen kann, sowie das Kuriosum, dass die mit der Magie Begnadeten im Schwarzen Wald ihre Macht nicht nutzen können, bereiten ihm noch Sorgen. Er erhofft sich Antworten von dir, da er von deinem früheren Aufenthalt in diesem Wald erfahren hat.“

Urplötzlich schrie Guillaume laut auf. Unbändige Schmerzen durchfluteten seinen Körper, während die unheimliche Stimme das Wort Verräter durch seinen Kopf hallen ließ. Vitras wich automatisch ein paar Schritte zurück, als Guillaume auch schon wie von einer unsichtbaren Hand gepackt, in die Luft gehoben wurde. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Filou von Panik ergriffen ins hintere Zimmer rannte und sich ängstlich unter dem Bett verkroch.

„Er ist in mir,“ schrie Guillaume: „Er paktiert mit dem Dämon!“

Verräter! Feiger Verräter!“ Brüllte die Stimme in Guillaumes Kopf. Dann wurde sein Körper regelrecht durch die Luft gewirbelt. Vitras wurde von den Ereignissen vollständig überrumpelt. Voller Entsetzen hörte er wie die Knochen seines Freundes brachen, während Guillaume sich die Seele aus dem Leib schrie. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen und zwei Gardisten stürzten mit gezogenen Krummsäbeln in die Hütte. Angesichts der unwirklichen Szenerie, die sich ihnen bot, verharrten sie geschockt in ihren Bewegungen. Mit einem schrecklichen lauten Knacken brach Guillaumes Genick, und er fiel augenblicklich tot zu Boden. Schnell begann schwarzer Rauch aus dem toten Körper zu entweichen. Zuerst nur wie feiner Nebeldunst, verdichtete sich dieser jedoch rasant in eine wabernde schwarze Wolke, die allmählich begann Konturen anzunehmen. Vitras schoss nur noch ein Gedanke durch den Kopf. Er musste handeln – und zwar schnell. Es war gefährlich, Magie urplötzlich wirken zu lassen, ohne den Körper wenigstens kurz vorzubereiten. Es blieb ihm jedoch keine andere Wahl. Vitras war zwar der mächtigste Kriegszauberer seiner Zeit, allerdings war er nicht unverwundbar und unsterblich schon gar nicht.

Auf der Stelle ließ Vitras seinen Willen wirken. Er spürte wie die Magie, die er aus seiner inneren Quelle schöpfte, durch seinen Arm raste und sich in dem Moment entlud, als sie aus seiner Hand schoss, die er auf die beiden Gardisten gerichtet hielt. Die Soldaten wurden von einer Druckwelle erfasst und nach draußen geschleudert, wo sie auf der Veranda hart gegen die Körper ihrer hinterher stürmenden Kameraden prallten. Gleichzeitig streckte Vitras seinen anderen Arm in Richtung Kaminsims aus, woraufhin sein Langstab durch den Raum schnellte. Geschickt fing er die Waffe auf und starrte geschockt zur schwarzen Rauchwolke, deren Konturen endgültig menschliche Formen angenommen hatten. Für einen kurzen Augenblick glaubte Vitras seinen Augen nicht zu trauen. Vor ihm stand, in seiner Astralform, Harun Ar Sabah. Die ganze Zeit über steckte sein Erzfeind im Körper von Gil Guillaume. Lange, dunkle, strähnige Haare umrahmten sein hageres Gesicht. Haruns verschlagene Augen bedachten Vitras mit einem hasserfüllten Blick. Kaum hatte sich der Kriegszauberer von diesem Schreck erholt, stürmten weitere Gardisten laut schreiend in die Hütte, um sich auf ihn zu stürzen. Vitras ließ seinen Kampfstab durch die Luft wirbeln und streckte den vordersten Soldaten nieder. Geschickt wich er den Attacken der nachrückenden Männer aus. Mal tänzelte er regelrecht zurück oder deutete einen falschen Ausweichschritt an, nur um im nächsten Moment erst mit dem linken, dann mit dem rechten Ende des Stabes zuzuschlagen. Sobald einer der Gardisten den Fehler beging, eine Lücke in seiner Deckung zu offenbaren, stieß oder schlug der Kriegszauberer gnadenlos zu. Dabei fand er immer wieder mühelos die Zeit, mit einer seiner Hände seinen Willen zu entfesseln, sobald er den Stab einhändig führte. So stürzte einer der Gardisten über seine eigenen Füße, wobei er in das Krummschwert einer seiner Kameraden stürzte – nur weil Vitras mit den Fingern schnippte. Ein anderer Gardist wurde durch die Luft geschleudert und krachte scheppernd in die Anrichte, die dabei zu Bruch ging.

Harun Ar Sabah griff nicht in den Kampf ein. Sein Astralleib beobachtete den Kampf schlicht wie ein Theaterzuschauer, dem ein extrem schlechtes Stück geboten wurde. Auf dem Boden der Hütte lagen inzwischen sechs tote Gardisten. Wie viele von ihnen sich kampfunfähig vor der Hütte befanden, vermochte Vitras nicht einzuschätzen. Dies war jedoch nicht länger von Bedeutung, als die letzten zwei verbliebenen Soldaten vor ihm die Flucht ergriffen und aus der Hütte rannten. Vitras blickte ihnen nur kurz hinterher, sah jedoch wie sich die übrigen Männer zu ihren Pferden schleppten, um ganz offensichtlich schnellstens das Weite zu suchen.

Vitras hielt seinen Blick jetzt fest auf den geistförmigen Harun Ar Sabah gerichtet. Dabei stellte er fest, dass Haruns dürrer, fast ausgemergelt wirkender Körper immer wieder leicht erzitterte. Das Festhalten an diese Erscheinungsform, musste ihm unglaublich viel Kraft und Energie kosten. Haruns Gesichtszüge verschwammen immer wieder, um sich jedoch sofort wieder zu verfestigen. Harun schickte ihm einen hasserfüllten Blick entgegen. Vitras vermutete, dass sein Feind ihm in diesem Zustand keinen Schaden zufügen konnte. Eine Vermutung, die sich als folgenschwerer Irrtum erweisen sollte. Haruns Stimme klang dumpf und dröhnend:

„Ich hätte dich schon vor Jahren töten sollen. Dann müsste ich mich jetzt nicht mit deiner Brut auseinandersetzen.“

Fast schon amüsiert, blickte der bösartige Kriegszauberer auf Vitras hinab, während sich seine Gestalt leicht in die Höhe erhob. Vitras benötigte einige Augenblicke, um den Schock zu verdauen, nachdem ihm die Bedeutung von Haruns Worten klar wurde. Das Ganze war eine Falle. Harun begann gehässig zu lachen bevor er weitersprach:

„Dachtest du wirklich, dein Geheimnis wäre mir verborgen geblieben?“ Abfällig deutete er auf den Körper des toten Guillaumes:

„Selbst dieser Schwachkopf hatte einen Verdacht, wenn auch keinen Beweis. Ich hingegen brauche keine Beweise. Ich bin durchaus in der Lage eins und eins zusammenzuzählen. Alles fügt sich mit einem Mal so wunderbar zusammen. Es wäre nur schön gewesen, wenn du noch etwas mehr preisgegeben hättest.“

Mit einem Aufschrei stürzte sich Vitras auf den Astralkörper seines Feindes. Obwohl er wusste, dass dies vollkommen sinnlos war. Die Wut ließ ihn nicht mehr klar denken. Völlig verwirrt stellte er jedoch fest, dass er auf körperlichen Widerstand stieß als er den Langstab auf seinen Gegner niederfahren ließ. Mit seinem linken Arm wehrte Harun den Schlag ab. Einem normalen Menschen hätte die Wucht des Aufpralls den Unterarm zertrümmert. In einem aberwitzigen Tempo schoss Haruns rechte Hand hervor und packte Vitras an der Kehle. Mit einer kurzen Bewegung, die nur aus seinem Handgelenk kam, schleuderte er Vitras quer durch den ganzen Raum, so dass er mit dem Rücken in die zweite Anrichte krachte, die sich links von der Tür befand. Als der Kriegszauberer sich hochrappelte verspürte er einen furchtbaren Schmerz im rechten Arm. Er war gebrochen. Die Konturen von Harun Ar Sabahs Körper begannen sich plötzlich zu verändern. Seine Arme wurden unnatürlich lang, genauso wie seine Hände, die sich in furchterregende Klauen verwandelten. Vitras konzentrierte sich für den Bruchteil von Sekunden und entfesselte eine gewaltige Druckwelle, die er Harun entgegen schmetterte. Holz zersplitterte mit einem ohrenbetäubenden Knall, als die Druckwelle sämtliches Mobiliar mit sich riss und die Wand, die sich hinter Harun befand, komplett zerstörte. Der Astralleib seines Feindes befand sich jedoch noch immer inmitten des Raumes und schwebte ein Stück über dem Boden. Harun Ar Sabah schien absolut unbeeindruckt von der Zerstörungskraft, zu der Vitras fähig war. Ohne jegliche Vorwarnung stürzte er sich nun seinerseits auf Vitras und schlug mit seinen Klauen nach ihm. Dem Kriegszauberer gelang es, sich trotz der Schmerzen die sein gebrochener Arm verursachte, seitlich wegzurollen. Dennoch erwischte ihn eine der Klauen am gesunden Arm und schnitt ihm tief ins Fleisch. Mit letzter Kraft schleppte sich Vitras aus der Hütte bis auf die Veranda und hoffte, dass nicht doch noch einer oder mehrere Gardisten geblieben waren, um ihr blutiges Werk zu vollenden. Soweit er sehen konnte, war zumindest diese Gefahr gebannt. Doch Harun verfolgte ihn. Langsam und ohne sichtbare Eile kam er näher. Wie ein Jäger der genau wusste, dass er sich seiner Beute absolut sicher sein konnte.

Vitras stolperte und stürzte die Stufen der Veranda herunter. Ein neuerlicher Schmerz durchströmte seinen Körper, der nun von seinem Rücken ausging. Hinter sich vernahm er das laute und hämische Lachen Haruns. Fieberhaft überlegte Vitras was er seinem Gegner noch entgegenzusetzen vermochte, während er versuchte sich vorwärts zu schleppen. Teilweise wurde ihm schwarz vor Augen. Tantras hatte ihn gewarnt und der Kriegszauberer gestand sich ein, dass es ein Fehler war, die Warnungen des Kriegsgottes zu ignorieren. Er hätte seine Arroganz ablegen und die Doronischen Wälder verlassen sollen.

Vitras bemerkte in seinem angeschlagenen Zustand zunächst nicht, dass unnatürlich helle Licht, dass langsam aber stetig damit begann, die gesamte Lichtung zu durchfluten. Haruns Gesichtszüge, die vor Sekunden noch absolute Überlegenheit signalisierten, fielen in sich zusammen und wichen purem Entsetzen. Das erste was Vitras überhaupt bemerkte, war dass das gehässige Lachen abrupt endete. Der Kriegszauberer hatte es geschafft, sich ein ganzes Stück von der Hütte fort zu bewegen. Nun wandte er sich um, öffnete die Augen und realisierte erstaunt, wie Harun begann sich zurückzuziehen. Erst jetzt nahm er das ständig heller werdende Licht wahr, vor dessen Radius Harun eine panische Angst zu haben schien. Mit einem Mal schrie Harun gellend auf und verwandelte sich wieder in den schwarzen Rauch, als welcher er dem toten Körper des armen Guillaumes entstieg. Immer weiter zog sich der Rauch, der nun die Form einer kleinen Wolke annahm, vor dem Licht zurück. Dann erhob sie sich in die Höhe und schoss hoch bis zu den Baumwipfeln der großen Schwarz Erlen, welche die Lichtung umsäumten. Für einen kurzen Moment verharrte sie bewegungslos über den majestätischen Baumkronen, dann schoss sie davon.

Vitras drehte sich schwerfällig um und musste wegen des grellen Lichtes die linke Hand schützend vor sein Gesicht halten. Der Schnitt im Unterarm, wo Harun ihn erwischte, brannte höllisch. Der Kriegszauberer musste trotz der schützenden Hand die Augen zusammenkneifen, so sehr blendete ihn der Ursprung des Lichtes, der bedachtsam auf ihn zuhielt. Je näher der Ursprung ihm kam, desto wärmer wurde ihm. Doch es war eine angenehme Wärme, die anfing seinen gesamten Körper zu durchfluten. Die Schmerzen in seinem Rücken und seinen geschundenen Gliedern begannen nachzulassen. Die Schwäche, die er kurz zuvor noch verspürte, wich seiner natürlichen Stärke. Vorsichtig öffnete er die Augen und stellte fest, dass ihn das Licht nicht länger dermaßen stark blendete. Es war ihm jetzt sogar möglich, seinen Blick direkt auf den Ursprung des Lichtes zu richten, das sich ihm noch immer näherte. Allmählich konnte er im Kern dieser Erscheinung die Umrisse eines Kleides erkennen. Ein schneeweißes Kleid, wie er es bisher nur einmal in seinem Leben gesehen hatte. An dem Tag, als er sie das erste Mal sah. Vitras stockte der Atem. Nach über zwanzig Jahren, rettete sie ihm erneut das Leben. Obwohl er sich inzwischen aufgerichtet hatte, ließ er sich wieder dankbar auf die Knie fallen.

Die Lichterscheinung tauchte für einen kurzen Moment die gesamte Umgebung in einen silbrigen Glanz, bevor sich die hellen Strahlen langsam aber konsequent in ihren Ursprung zurückzogen. Vor dem knienden Kriegszauberer stand Mirna, die Göttin der Gerechtigkeit und Mutter seiner Tochter Morna.

Andran und Sanara

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