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2.6. Die Belagerung
ОглавлениеDie viertausend Soldaten, die der König von Keldan schickte, wurden bei ihrem Einmarsch in die Stadt von einem ohrenbetäubenden Jubel der Bevölkerung Dirans willkommen geheißen. Die Hufe der unzähligen Pferde wirbelten den Staub der trockenen Straßen dermaßen auf, dass ganze Stadtviertel von einer feinen Staubschicht überzogen wurden. Entlang der Route, die die verbündeten Soldaten durch die Stadt nahmen, hingen die Menschen Tücher und Laternen in den Farben Keldans, Grün und Gelb, auf. Wie bei einem Triumphzug, einer Schlacht die schon gewonnen war, trabten die Soldaten auf ihren Streitrössern durch die Straßen in Richtung des zentralen Platzes, der extra für den heutigen Tag geräumt wurde. Hier teilte sich die Streitmacht auf. Während sich die Hälfte von ihnen zu den Kasernen begab, schlugen die anderen Soldaten ihr Lager auf dem großen Platz vor dem Palast des Regenten auf. General Kurz betrachtete voller Bewunderung die disziplinarische Ordnung der Truppen, die dem kleinen Restbestand des Diranischen Heeres längst abhandengekommen war. Allmählich war auch ein Ende des Trosses abzusehen als die letzten Planwagen, mit all dem Material das eine Truppe im Feld mit sich führte, transportierte. Feldscher, Pferdejungen, Köche, zwei Schmiede mit besonders großen Fuhrwerken sowie einige Priester des Santhus, dem Schutzgott Keldans, rundeten das Bild ab. General Kurz versuchte verzweifelt den aufgewirbelten Staub und Dreck von seiner opulenten Uniform zu klopfen, bevor er sich auf den Weg machte, den Keldanischen Befehlshaber Gisdern aufzusuchen. Nun galt es die unendlich vielen organisatorische Dinge zu besprechen, auf die Vitras besonderen Wert legte.
Der Kriegszauberer saß seit einer guten Stunde auf einer gemütlichen Bank im großen Spiegelsaal, den Mai zu ihrem persönlichen Übungsplatz mit Sanara auserkoren hatte, um das Training seiner Enkeltochter zu beobachten. Seit ihrer Ankunft in Diran, waren über zwei Monate vergangen. Seitdem trainierten Mai und Sanara täglich. Mit ihren vierzehn Jahren wirkte Sanara noch recht zierlich und schmächtig. Aber Mai verstand es hervorragend, dem Mädchen Stärken bewusst zu machen, die lediglich trainiert werden mussten. Schnelligkeit, Wendigkeit, ein sicheres Auge und vor allem ein klarer Verstand. Wie bei den Magie Übungen mit ihrem Großvater, sog Sanara jedes Wort von Mai in sich auf. Es gelang ihr, bei den Schwertübungen inzwischen sogar Mai gelegentlich zurückzudrängen. Auch den Flic Flac beherrschte Sanara mittlerweile nahezu perfekt. Mit der Handhabung der Wurfsterne, Mais Lieblingswaffen, hatte sie jedoch noch ihre Schwierigkeiten. Sie versuchte die Sterne Kraft ihres Willens ins Ziel zu lenken. Mai bemerkte das sofort und benutzte ihren eigenen Willen, um Sanaras Sterne wieder vom Ziel fernzulenken. Dabei erklärte sie ihr, dass es Orte oder Situationen gab, wo man sich nicht auf die Magie verlassen durfte. Sie musste lernen, auch ohne ihre Magie gewisse Situationen meistern zu können. Seitdem stand Sanara jeden Morgen freiwillig eine Stunde früher auf, um vor dem Laufen und den Dehnübungen mit dieser Art von Wurfwaffe zu üben.
Als Sanara nach einer vorgetäuschten Seitwärtsdrehung, bei Mai einen Volltreffer landete, sprang Vitras auf und klatschte vor Begeisterung. Daraufhin bot Sanara eine kunstvolle Verbeugung in seine Richtung dar, die jedem Schauspieler, der sich bei seinem Publikum bedankte, zu Ehren gereicht hätte. Allmählich setzte die Abenddämmerung ein und zwei Diener erschienen, um die Fackeln im Spiegelsaal zu entzünden.
„Du solltest dich jetzt etwas frisch machen gehen!“ raunte Mai ihrer Schülerin zu: „Ich glaube, dein Großvater möchte mit dir zu Abend speisen.“
„Ausgezeichnete Idee!“ erwiderte Vitras, der jedes Wort verstanden hatte: „Warum speist ihr nicht gemeinsam mit uns Meisterin Mai?“
Sanara war von dem Vorschlag ihres Großvaters begeistert, und Mai willigte gerne ein.
„Bis gleich Mai!“ trällerte Sanara fröhlich und verließ mit Filou den Spiegelsaal. Mai blickte Sanara voller Stolz hinterher. Sie wollte nicht, dass das Mädchen sie mit Meisterin ansprach, um das spielerische ihrer Übungen, so ernst sie auch waren, nicht zu zerstören.
„Ich bekomme so langsam das Gefühl,“ begann Vitras: „, dass sie den Schmerz einen Menschen getötet zu haben überwunden hat.“
„Sie hat gelernt damit umzugehen!“ antwortete ihm Mai: „Eure Enkeltochter ist stärker als ihr ahnt Meister Vitras. Davon abgesehen, besitzt sie eine Auffassungsgabe und einen Willen, wie ich es bisher noch nie erlebt habe.“
Während Vitras und Mai den Spiegelsaal ebenfalls verließen und sich auf den Flur begaben, sprintete Sanara in den Gästetrakt, wo sich ihre Gemächer befanden. Sie rannte hinter Filou her, der urplötzlich in ein fremdes Zimmer rannte, dessen Tür einen Spalt weit geöffnet stand.
„Filou!“ rief sie den kleinen Nager mehrmals, der ihr Rufen ganz offensichtlich ignorierte. Sanara klopfte zweimal an die halb offenstehende Tür, bevor sie eintrat. Es brannten zwar schon mehrere Fackeln in dem fremden Zimmer, es schien aber niemand anwesend zu sein. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie ihre Räumlichkeiten, die sie mit ihrem Großvater teilte. Zwei größere Zimmer sowie ein etwas Kleineres, gingen vom Vorraum aus ab. Sie waren jedoch allesamt verschlossen. Dort konnte sich Filou also nicht versteckt haben. Das Frettchen liebte solche Spielchen. Sanara war im Augenblick etwas entnervt, Filou in fremden Gemächern suchen zu müssen, da Mai und ihr Großvater gemeinsam mit ihr essen wollten. Als sie den Schreibtisch umrundete erkannte sie einige der Sachen, die sich auf ihm befanden. Sie befand sich in den Räumlichkeiten von Meister Brehm. „Verdammt!“ dachte sie: „Das werden Mai und Großvater ganz bestimmt nicht witzig finden!“
Sie blickte sich überall um, dann entdeckte sie Filou. Er hatte sich im schweren Vorhang rechts vom Balkon festgekrallt und schwang ganz offensichtlich amüsiert hin und her. Erbost schritt sie zu dem Vorhang, nahm das Tier vorsichtig in den Arm und wollte sich gerade anschicken, den Raum zu verlassen, als sie von draußen Stimmen hörte.
„Verflixt!“ schoss es ihr durch den Kopf. Um eventuellen Ärger zu vermeiden, versteckte sie sich hinter dem Vorhang und hielt Filou dabei fest an sich gedrückt. Meister Brehm und ein weiterer Mann betraten die Gemächer und schlossen die Tür. Brehm, den sie sofort am klacken seines Gehstockes erkannte, kam sehr nahe an den Vorhang heran, hinter dem sie sich versteckte. Als die Männer mit ihrem Gespräch begannen stockte Sanara der Atem. Was sie zu hören bekam war so ungeheuerlich, dass ihr die Schweißperlen von der Stirn liefen.
„Ich bringe euch die Antwort von Harun Ar Sabah!“ hörte sie die Stimme des anderen Mannes, die sie nicht einordnen konnte.
„Her damit!“ gab Brehm ungeduldig zur Antwort: „Konntet ihr in Erfahrung bringen, wann wir endlich mit dem Erscheinen unserer Truppen rechnen können?“
„Ich gehe davon aus, dass es höchstens noch eine Woche dauern wird, bis die Bataillone die Mauern der Stadt erreichen. Der König von Kushtur wird euch, in diesem Brief, sicherlich mit allem informieren, was ihr wissen müsst.“
Brehm ließ sich in den bequemen Stuhl hinter seinen Schreibtisch fallen, öffnete den Brief und las ihn sorgsam durch. Dann stand er auf, ging zur gegenüberliegenden Wand und entzündete das Papier an einer der Fackeln:
„Also ist es an Seran Dolm,“ begann Brehm zu sprechen, wobei er den verkohlten Brief auf den Steinboden fallen ließ und zertrat: „sich um den Zwilling zu kümmern, sobald unsere Truppen erscheinen!“
„Wir werden uns der Enkelin des Kriegszauberers sofort bemächtigen, sobald die ersten Kampfhandlungen beginnen. Seran geht davon aus, dass der Alte dann zu abgelenkt ist, um sich um den Zwilling zu kümmern.“
Während Filou anfing, an Sanaras Arm zu kratzen, da er herunter wollte, begann sich um das Mädchen herum alles zu drehen. Nicht nur, dass sie begriff, dass der Freund ihres Großvaters ein Verräter war – wieso dachten die Männer, sie wäre ein Zwilling? Was wollten sie überhaupt von ihr? In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, als es Filou gelang, sich aus ihrem Griff zu winden. Er sprang zu Boden und huschte unter den Vorhang hindurch ins Zimmer. Sie versuchte noch ihn zu greifen, wobei sie durch ihre Bewegung ihr Versteck verriet.
„Was zum Sanktrum?“ brüllte der Fremde und sprang mit zwei Sätzen zum Vorhang. Er riss die schweren Leinen zur Seite, packte Sanara sofort am Kragen ihrer Bluse und schleuderte sie zu Boden. Brehm starrte völlig verdutzt auf Sanara, die hart auf den Steinquadern aufschlug. Der Rosendiener ging einen Schritt auf sie zu und trat ihr heftig in die Magengrube. Sanara wurde von alledem dermaßen überrascht, dass sie gar nicht auf den Gedanken kam, ihren Willen wirken zu lassen, ihre Magie einzusetzen. Der rasende Schmerz der sich in ihrem Magen derart ausbreitete, dass ihr schlecht wurde, tat sein Übriges.
***
Vitras und Mai saßen schon eine Weile an dem üppig gedeckten Tisch. Ein Diener füllte ihre Becher mit kühlen Wein als der Kriegszauberer anfing sich über Sanaras Verbleib zu wundern.
„Sie wird sicherlich jeden Moment erscheinen,“ versuchte Mai ihn zu beruhigen, erkannte jedoch an seinen Gesichtszügen, dass er zunehmend unruhiger wurde. Sofort erhob sie sich von ihrem Stuhl und lächelte ihn an:
„Ich werde eben nachsehen, wo sie solange bleibt! Versucht derweil den Wein zu genießen. Wir werden gleich bei euch sein.“
Vitras nickte ihr dankbar zu, und Mai verließ scheinbar unbekümmert den Raum. Sie wollte Vitras nicht zusätzlich in Aufregung versetzen. Denn eines hatte sie bei Sanara früh erkannt. Man konnte sich voll und ganz auf sie verlassen. Diese Unpünktlichkeit passte nicht zu ihr. Als sie hörte, dass der Diener die Tür hinter ihr wieder geschlossen hatte, sprintete sie los. Dabei schubste sie mehrere Bedienstete zur Seite, während sie den langen Flur, der zur großen Haupttreppe führte, entlang rannte. An der Treppe angekommen, nahm sie mit jedem Schritt mehrere Stufen auf einmal. Als sie das richtige Stockwerk erreichte, bog sie links ab und rannte weiter in Richtung Vitras' Gemächern. Als die Tür zu sehen war flog sie schon Kraft Mais Willen auf. Die Gemächer waren noch stockdunkel. Niemand hatte die Fackeln in ihren Wandhalterungen oder auch nur eine der vielen Kerzen entzündet. Mai konzentrierte sich für den Bruchteil einer Sekunde, wobei sich sämtliche Fackeln entzündeten und die Räumlichkeiten in ein warmes Licht tauchten. Sanara war überhaupt nicht hier gewesen. Plötzlich hörte sie einen Schrei und erkannte die Stimme ihres Schützlings. Mai betrat wieder den Flur und marschierte den Gang entlang. Ihre Stirn legte sich in Falten, da sie für einen kurzen Moment ihren eigenen Ohren zu misstrauen schien. Der Schrei kam aus Meister Brehms Gemächern. Sie bleib vor dessen Räumlichkeiten stehen und lauschte. Als sie einen weiteren Schrei hörte, der längst nicht mehr so kräftig klang wie der erste, trat sie mit solcher Wucht gegen die Tür, dass sie weit aufschlug und sich dabei fast aus den Angeln hob. Geschockt nahm sie die Szenerie auf, die sich ihren Augen darbot. Meister Brehm stand mitten im Raum und hielt Filou am Nacken gepackt, wobei das kleine Tier vergeblich versuchte, sich heftig zu wehren. Ein weiterer Mann, komplett in Rot gekleidet, trat Sanara die auf dem Boden lag, heftig in den Magen. Der Rosendiener warf der Kriegszauberin einen entgeisterten Blick zu, als auch schon einer von Mais Wurfsternen tief in seine Stirn eindrang. Der Mann war tot, bevor sein Körper auf den Boden aufschlug. Dann konzentrierte sie sich in Bruchteilen von Sekunden. Die Luft um Mai begann zu flirren und ihre Robe wehte Unheil verkündend an ihrem Körper. Urplötzlich verstand sie, erkannte den tieferen Sinn in Vitras Fragen, die Rosendiener betreffend. Brehm starrte sie fassungslos an. Tränen liefen Mais Wangen herunter. Ihre Enttäuschung, gepaart mit Wut, ließen sie ihren ehemaligen Meister plötzlich mehr hassen, als Harun Ar Sabah selbst. Als Brehm das Schwirren der Luft um Mais Körper, und das Wehen ihrer Robe wahrnahm, ließ er den armen Filou sofort fallen, um ihren Angriff entgegenwirken zu können. Doch obwohl er sie all die Jahre ausbildete, er war nur ein Träger der scharlachroten Robe. Der Macht einer Kriegszauberin war er nicht gewachsen. Mai ließ eine harte Druckwelle auf Brehm los, die den alten Zauberer ins straucheln brachte, als zwei weitere Rosendiener in den Raum stürzten und Mai angriffen. Brehm schöpfte durch die unerwartete Hilfe neue Hoffnung und jagte nun seinerseits eine Welle zusammengepresster Luft auf die Kriegszauberin. Ohne Vorwarnung erlöschen schlagartig sämtliche Fackeln und ein bläuliches Licht durchflutete den gesamten Raum. Brehm traute seinen Augen nicht als er gewahr wurde, dass Sanara die Quelle des Lichtes darstellte. Die Luft um sie herum flimmerte so kräftig, dass sie sogar zu knistern begann. Wie damals in der Bibliothek, als sie die Kerze wieder zusammenfügte. Sanara entfesselte ihren Willen und Brehm bekam einen dermaßen kräftigen Schlag, dass er durch die geschlossene Balkontür aus Glas geschleudert wurde. Er schaffte es gerade noch sich am Geländer festzuhalten, als ihn ein weiterer Stoß traf, so dass er sich nicht mehr halten konnte. Der Körper des Zauberers fiel fünf Stockwerke tief, bis er direkt vor zwei patrouillierenden Wachen auf dem Boden aufschlug. Mai hatte inzwischen die verbliebenen Rosendiener getötet und hielt ihren Blick sprachlos auf Sanara gerichtet. Das bläuliche Schimmern ließ allmählich wieder nach, indem es sich in Sanaras Körper zurückzog, bis der gesamte Raum ins dunkle tauchte:
„Bist du verletzt? Bist du in Ordnung Sanara?“ fragte Mai als sich das Mädchen zu ihr herumdrehte. Ein schwacher Lichtschein fiel vom Flur ins Zimmer so dass Mai Sanaras Gesichtszüge erkennen konnte. Dabei entdeckte die Kriegszauberin einen Ausdruck, den sie nie zuvor bei dem Mädchen sah, und der sie schlucken ließ.
Von all dem Lärm herbeigerufen, erklangen von weitem die Rufe und Schreie besorgter Wachen, die sich rasch näherten. Mai und Sanara starrten sich nur wortlos an, als sie auch schon Vitras kräftige Stimme vernahmen. Filou lag inzwischen wieder auf Sanaras Schultern, als Mai die Fackeln Kraft ihres Willens neu entfachte. Im nächsten Augenblick kam Vitras in Begleitung mehrerer Wachen ins Zimmer gestürmt.
„Was bei allen Göttern ist hier los?“ brüllte Vitras entgeistert. Als er die toten Rosendiener und die zerstörte Balkontür wahrnahm, bekam seine Stimme einen beinahe ängstlichen Unterton:
„Sanara, was ist hier geschehen?“
Sanara stand jetzt mitten im Raum und antwortete ihrem Großvater in einem kalten, fast schon gelangweilten Tonfall:
„Ich habe ihn getötet Großvater! Ich habe Meister Brehm getötet!“
Vitras blickte fragend zu Mai, die jetzt an einer Wand gelehnt auf dem Fußboden saß und ihr Gesicht in den Händen vergrub. Sie weinte. Vitras schritt durchs Zimmer, an seiner Enkeltochter vorbei und betrat den Balkon. Dann schaute er herunter auf den Hof. Er erblickte den zerschmetterten Körper von Meister Brehm und eine mittlerweile stattliche Anzahl von Soldaten, die aufgeregt hin und her liefen. Dabei brüllten sie Befehle in alle möglichen Richtungen. Der Kriegszauberer rief ihnen hinunter, dass im Palast alles in Ordnung sei, und er sich persönlich um die Angelegenheit kümmern wolle. Durch die Wachmannschaften ging ein Ruck der Erleichterung. Dann schickten sie sich an den Leichnam fort zu schaffen. Vitras kehrte um und betrat wieder das Zimmer. Er befahl den Soldaten, ihn und Mai allein zu lassen. Als er auch Sanara bat in ihre Gemächer zu gehen, bedachte das Mädchen ihren Großvater mit einem Gesichtsausdruck, dass dieser regelrecht erschrak.
„Nein Großvater, ich werde nicht gehen! Ich bleibe bei dir und Mai. Ich will wissen warum das alles geschehen ist!“
Vitras bedachte sie mit einem prüfenden Blick, dabei wurde ihm bewusst, dass er seine Enkeltochter nicht länger wie sein kleines Mädchen behandeln konnte. Die Zeit war gekommen, dass er ihr einiges erklären musste.
„Also gut, wie du möchtest!“
Vitras gab dem Leutnant der Wache, der sich als einziger Soldat noch im Zimmer befand, ein Zeichen, worauf er den Raum ebenfalls verließ. Die von Mai eingetretene Tür ließ sich jedoch nicht mehr schließen. Ein Gedanke des Kriegszauberers reichte jedoch aus, um dies Problem zu lösen. Vitras befand sich nun mit seiner Enkeltochter und Mai allein in Brehms Gemächern. Er ging zunächst zum Schreibtisch des Toten und nahm einige Papiere vom Tisch, die er überflog. Mai saß noch immer auf dem Boden und schien komplett in ihrer eigenen Welt versunken. Der Verrat ihres ehemaligen Mentors, des Mannes der einen Vaterersatz für sie darstellte, hatte sie schwer getroffen. In all den Jahren nichts bemerkt zu haben und ihm völlig zu vertrauen, ließ sie jetzt an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln.
„Was ist hier genau vorgefallen Sanara?“
Seine Enkeltochter schaute zu ihm herüber und erzählte ihm warum sie sich hinter dem Vorhang versteckte, und was sie zu hören bekam als Brehm den Raum betrat. Wie Filou plötzlich zu Boden sprang, woraufhin der Rosendiener sie entdeckte, zu Boden warf und trat. Dann ging sie zu Mai und setzte sich neben sie. Behutsam legte Sanara ihre Hand auf Mais Schulter, wodurch diese aus ihren Gedanken gerissen wurde. Mai legte nun ihrerseits eine Hand auf die Sanaras und lächelte sie an. Die stolze Kriegszauberin hatte rot geränderte Augen, die noch immer feucht waren.
„Mai stürmte plötzlich in den Raum!“ fuhr Sanara fort: „Als ich sah das Meister Brehm ihr schaden wollte und noch weitere Männer hereinstürmten da... da habe ich meinen Willen wirken lassen.“
„Mit beachtlichen Erfolg!“ stellte Vitras trocken fest wobei er seinen Blick von den toten Rosendienerin zur zerstörten Balkontür schweifen ließ.
Mai streichelte Sanara jetzt über ihren Kopf:
„Du hast genau richtig gehandelt!“
Vitras setzte sich auf den Stuhl hinter den Schreibtisch und versuchte, Sanaras Schilderungen zunächst zu verarbeiten. Dabei fiel ihm auf, dass die Tischplatte ungewöhnlich dick war. Er ließ seine Hände unter der Platte am Rand entlang gleiten und entdeckte einen Druckknopf. Als er ihn betätigte, ertönte ein kaum wahrnehmbares Klicken und die Oberseite der Tischplatte ließ sich ein Stück nach vorn schieben. In dem Geheimfach befanden sich jede Menge Dokumente über die Rosendiener, Listen ihrer Mitglieder aber auch Nachrichten aus Kushtur. Vitras wurde bleich vor Zorn, als er daran dachte, was Brehm mit seinem Verrat bisher angerichtet hatte – vor allem aber was er noch hätte anrichten können.
„Warum wollten mich Meister Brehm und seine Gefolgsleute entführen, sobald die Kämpfe beginnen?“ Sanaras Frage schnitt wie ein scharfes Messer durch die momentane Stille des Zimmers:
„Und was hat das mit dem Zwilling zu tun?“ fügte sie noch fragend hinterher. Der Wind, der durch die zerstörte Balkontür blies, ließ das Feuer einiger Fackeln hin und her tanzen. Mai erhob sich, stellte sich hinter Sanara und legte ihre Hände auf die Schultern des Mädchens. Dann nickte sie Vitras zu. Der Augenblick, vor dem sich der Kriegszauberer so lange gefürchtet hatte war gekommen. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte, obwohl er diesen Moment der eines Tages kommen musste, tausendfach in seinen Gedanken durchgegangen war. Also platzte er einfach mit dem heraus, von dem er annahm, dass es Sanara am meisten beschäftigte:
„Du hast einen Bruder Sanara. Genauer gesagt... einen Zwillingsbruder!“
Seine Enkeltochter setzte einen ungläubigen Gesichtsausdruck auf und blickte ihren Großvater an, als wäre er eines dieser sagenumwobenen Einhörner. Alles was sie bisher über ihre Familie zu wissen glaubte war, dass ihre Eltern früh verstarben und sie deswegen bei ihrem Großvater lebte.
„Aber... aber wieso hast du mir das nie erzählt? Ist er noch am Leben? Geht es ihm gut?“ fragte sie aufgeregt. Dabei löste sie sich von Mai und trat an den Schreibtisch heran.
„Ich weiß es nicht mein Kind! Bei den Göttern, ich wünschte, ich wüsste wie es ihm geht und wo genau er sich aufhält. Was ich dir sagen kann, ist dass er sich in der Obhut einer herzensguten Frau befindet. Ihr Name ist Elze, und sie war eure Hebamme.“
Dann begann Vitras ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Von der Prophezeiung, vom Schwarzen Wald in dem ihre Mutter lebte und der Gefahr, in der sich Sanara und ihr Bruder nach ihrer Geburt befanden. Es brach ihm fast das Herz ihr von Mornas Tod zu erzählen und dass ihr leiblicher Vater einen Großteil der Schuld daran trug.
„Dann ist mein Vater gar nicht tot!“ brachte sie hervor: „Mein Vater lebt!“
„Dein Vater ist kein guter Mensch Sanara,“ sagte Vitras mit einem traurigen Klang in seiner Stimme: „Zudem ist er ausgesprochen gefährlich!“
„So wie dieser Harun Ar Sabah?“
„In gewisser Weise, vielleicht.“ antwortete ihr Vitras: „Dein Vater ist kein Kriegszauberer, nicht einmal ein Magier. Soweit ich weiß glaubt er nicht einmal an die Magie. Aber er ist der Herrscher des größten und mächtigsten Reiches der bekannten Welt... und das führt er mit eiserner Hand. Er und seine Vorfahren haben mit ihren Eroberungskriegen unendlich viel Leid über die Menschen gebracht. Nur aus reiner Machtgier. Wenn ich dabei an deine Mutter denke... nein Sanara, er ist kein Harun Ar Sabah, aber er ist bösartig und gefährlich!“
„Ich denke, du solltest jetzt doch auf dein Zimmer gehen und zumindest versuchen etwas Schlaf zu finden.“ schaltete sich Mai jetzt ein.
„Begleitest du mich Mai?“
„Aber selbstverständlich!“ antwortete sie ihr.
Vitras erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und schloss Sanara fest in die Arme. Dankbar registrierte er, dass sie die Umarmung auf die gleiche Weise erwiderte, wie sie es immer tat. Dann neigte er sich zu ihr herunter und küsste ihre Stirn.
„Gute Nacht Großvater!“
Sanara drehte sich um und verließ mit Mai die Gemächer des toten Brehm. Der Kriegszauberer blickte den beiden noch eine Weile hinterher. Er war unendlich dankbar dafür, dass Sanara jemanden wie Mai gefunden hatte. Ihm war schmerzlich bewusst, dass dieser Abend tiefe Spuren bei den beiden hinterlassen hatte. Wie tief sie sich jedoch wirklich bei Mai eingegraben hatten, konnte er nicht erahnen.
Vitras ging wieder zum Schreibtisch, um noch einmal all die Papiere die sich im Geheimfach befanden, anzusehen, als General Kurz in dem verwüsteten Raum erschien. Der General schaute sich ungläubig um:
„Was ist hier tatsächlich geschehen?“ fragte Kurz, als er die beiden Leichen sah, die noch immer auf dem Boden lagen:
„Mir wurde berichtet, Meister Brehm hätte sich vom Balkon gestürzt.“
„Dann wollen wir es bei dieser Version besser belassen. Fürs erste zumindest. Die wahren Umstände würden nur zu wilden Spekulationen, vielleicht sogar Panik führen.“
Dann berichtete Vitras dem General von Brehms Verrat und was sich hier abgespielt hatte. Kurz machte große Augen und schien sichtlich erschüttert. Vitras reichte ihm daraufhin eine der Listen, auf der sämtliche Mitglieder des Rosenbundes aufgeführt waren:
„Ihr müsst diese Leute umgehend verhaften lassen, ausnahmslos. Wir können es uns nicht erlauben, dass Haruns Spione die gesamte Verteidigung der Stadt sabotieren. Kurz überflog die Liste und sog scharf die Luft ein:
„Hier stehen einhundert zwanzig Namen. Einige davon sind sehr einflussreiche Bürger Dirans.“
„Dann fangt ihr besser sofort damit an!“ stellte Vitras unmissverständlich klar.
Das enorme Getöse unzähliger Fanfaren, die Warnsignale von sich gaben, riss die beiden Männer aus ihrem Gespräch. Vitras stürzte sofort auf den Balkon, von dem aus man eine hervorragende Aussicht, über einen Großteil der Stadt hatte.
Weit außerhalb der Stadtmauern, tanzten tausende von Lichtern in der Dunkelheit. Nachdem der Klang der Fanfaren verstummte, erklang aus der Ferne das dumpfe Dröhnen der Kriegstrommeln Kushturs.
„Sie sind da!“ flüsterte General kurz nachdem er dem Kriegszauberer auf den Balkon gefolgt war:
„Sie sind da!“ wiederholte er. Beim Anblick des Lichtermeeres das immer größer wurde, wich ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht.
***
Noch bevor die Morgendämmerung einsetzte, befand sich der Kriegszauberer auf der Stadtmauer und spähte angestrengt zu den zahllosen Lagerfeuern der feindlichen Armee. Als es allmählich zu dämmern begann, und die Verteidiger Dirans nach und nach mehr ausmachen konnten, vernahm Vitras das ungläubige Murmeln der Soldaten, die entlang der Wehrgänge postiert waren. Das Gelände rund um die Stadt bestand aus einer weiten flachen Ebene. Nur hier und da tauchten weit von den Stadtmauern entfernt, vereinzelte kleinere Hügel auf. Zwischen diesen Hügeln sammelten sich die Truppen Kushturs und schlugen ihre Zelte auf.
General Kurz, der direkt neben dem Kriegszauberer stand, zeigte in eine bestimmte Richtung:
„Erkennt ihr die schwarzen Banner dort hinten Meister Vitras?“
„Das Drachenbataillon von Kushtur.“ gab ihm Vitras trocken zur Antwort: „Die Eliteeinheit Kushturs. Ihre Krieger sind gnadenlose Kämpfer. Allerdings sehe ich auch jede Menge neuer Banner, die ich niemals zuvor gesehen habe!“
Harun Ar Sabah hatte mit Hilfe des Dämons in den vergangenen Jahren eine gigantische Armee aus dem Boden gehoben. Von den beiden Männern zunächst unbemerkt, tauchte Mai unvermittelt neben ihnen auf. Die Kriegszauberin schaute mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Verwunderung und Abscheu auf das feindliche Lager:
„Das müssen aber mehr als zwanzigtausend Kämpfer sein!“ bemerkte sie niedergeschlagen.
„Ich schätze ihre Anzahl auf nahezu das doppelte!“ erwiderte Vitras.
„Sie beginnen sogar schon mit dem Aufbau ihrer Katapulte!“ stöhnte Kurz.
„Wie weit seid ihr in der Angelegenheit mit den Rosendienern?“
„Wir haben noch in der Nacht allesamt verhaftet. Ausnahmslos alle deren Namen auf der Liste standen.“ antwortete der General dem Kriegszauberer.
„Gut!“ brummte Vitras.
„Wir können hier doch nicht einfach nur zugucken!“ donnerte die Kriegszauberin wütend. Die beiden Männer sahen, wie die Luft um Mai herum zu flimmern begann. Sachte legte Vitras ihr die Hand auf die Schulter und riss sie somit aus ihrer Konzentration.
„Es macht keinen Sinn Meisterin Mai, wenn ihr jetzt euren Willen entfesselt. Spart lieber eure Kräfte!“
Als er ihren verständnislosen Gesichtsausdruck wahrnahm, fuhr Vitras fort:
„Harun Ar Sabah ist leider kein Dummkopf. Er wird etliche Magier bei seinen Streitkräften haben, die durchaus fähig sind das Heerlager mit magischen Schutzschilden zu versehen.“
Gemeinsam mit Mai ritt Vitras durch die Straßen Dirans zurück zum Regenten Palast, um sich mit dem Keldanischen Generalmajor Gisdern zu besprechen. Die Furcht vor der feindlichen Armee, legte sich wie ein Schleier über die gesamte Stadt. Von dem sonst so beschäftigten Treiben auf den Straßen, dem lebendigen und fröhlichem Stimmengewirr in den verschiedensten Sprachen war nichts mehr übrig. Ganze Straßenzüge waren menschenleer, die Türen und Fensterläden der meisten Häuser verbarrikadiert oder zugenagelt. Als sie den großen Platz vor dem Palast erreichten, war ein Großteil, der dort stationierten Keldanischen Truppen, im Aufbruch begriffen, um die Mauern zu verstärken.
„Wie hat Sanara die Ereignisse der vergangenen Nacht weggesteckt?“ wollte Vitras von Mai wissen, während sie die Stufen zum Eingang des Herrschaftlichen Gebäudes emporstiegen. Mai blieb stehen und legte zum wiederholten Male eine besorgte Mine auf:
„Sie hat die letzte Nacht kaum geschlafen. Das Erlebnis mit Meister Brehm und die Enthüllung ihrer wahren Herkunft, verbunden mit der Prophezeiung hat sie sehr aufgewühlt. Am meisten beschäftigt sie jedoch der Gedanke, einen Zwillingsbruder zu besitzen von dessen Schicksal ihr niemand etwas berichten kann.“
Vitras nickte Mai nur zustimmend und verständnisvoll zu.
„Bevor ich zur Stadtmauer aufbrach,“ fuhr Mai fort: „erschien sie mir sogar wütend, regelrecht zornig zu sein. Sie wollte allein im Spiegelsaal mit den Wurfsternen üben. Ich habe die Diener und Wachen angewiesen, sie nicht zu stören.“
Während sie jetzt die Flure des Palastes entlang schritten, um Vitras' Arbeitszimmer zu erreichen, hielt Mai den Kriegszauberer plötzlich am Ärmel seiner Robe fest:
„Ich muss immerfort an die magischen Schutzschilde denken, von denen ihr auf der Mauer gesprochen habt.“
Vitras blieb stehen und wartete gespannt ab, worauf die Kriegszauberin hinaus wollte.
„Wenn wir von außen mit unserer Magie nichts ausrichten können, müssen wir es eben von innen versuchen! Ich werde mich in ihr Lager schleichen!“
„Seid ihr von Sinnen!“ polterte Vitras mit einem Mal los: „Vor den Mauern befinden sich fast vierzig tausend Mann und wer weiß wie viele Magier. Was glaubt ihr, wie weit ihr da kommt? Und selbst wenn ihr es schafft, in deren Heerlager einzudringen, werden sie euch niederstrecken, bevor ihr auch nur die Chance erhaltet, euren Willen zu entfesseln.“ Verärgert winkte Vitras ab: „Euer Leben ist mir zu kostbar, als dass wir es für eine Handvoll toter Gegner opfern!“
Mai schien von seinen Einwänden absolut unbeeindruckt:
„Ich habe nicht vor meinen Willen zu entfesseln, sobald ich mich im Lager des Feindes befinde!“
Vitras bedachte sie nun mit einem komplett verständnislosen Blick. Er ahnte nicht wie sehr sie Brehms Verrat getroffen hatte. Wie sehr sie nun an sich selbst zweifelte und alles einfach nur wieder richten wollte.
„Ich spreche von einer magischen Implosion!“ stellte Mai klar.
Vitras wurde schwindelig und musste sich an der Säule abstützen neben der sie standen.
„Das kann doch nicht euer Ernst sein!“ brachte er beinahe flüsternd hervor: „Eine magische Implosion, das ... das ist bisher nur ein einziges Mal geschehen!“
„Ich weiß!“ antwortete ihm Mai mit fester Stimme: „Vor etwa fünfhundert Jahren, innerhalb der Halle der Götter, in der Stadt Prem!“
„Die Implosion hat die Halle der Götter, die die gewaltigste der damaligen Zeit darstellte, sowie die halbe Stadt Prem komplett zerstört.“ erklärte ihr Vitras:
„Davon ganz abgesehen... eine magische Implosion bedeutet euren sofortigen Tod!“
Wutentbrannt wandte sich Vitras von ihr ab, ließ sie einfach stehen und ging allein weiter:
„Ich verbiete es euch!“ schrie er dabei ohne sich nach ihr umzusehen. Dabei fuchtelte er mit seinem rechten Zeigefinger wütend in der Luft herum: „Ich erlaube das nicht!“
Die Kriegszauberin schaute ihm traurig hinterher. Sie hatte ihren Entschluss gefasst und niemand, auch Vitras nicht, würde sie mehr davon abbringen können.
***
Am späten Nachmittag waren die Katapulte des Feindes einsatzbereit. Die Kriegstrommeln Kushturs schlugen pausenlos und taten ihr übriges, die Bevölkerung sowie die Soldaten, die Diran verteidigten, in eine überaus melancholische Stimmung zu versetzen. Das monotone, langsame Trommeln wich urplötzlich einem wilden Trommelwirbel, als unter dem Gejohle aus nahezu vierzig tausend Kehlen die ersten Katapulte ihre tödliche Fracht auf die Mauern der Stadt und die ihr nahestehenden Gebäude niederließen. Vitras befand sich auf dem Wehrgang oberhalb des Haupttores und sah hilflos mit an, wie die gefürchteten Maschinen Salve um Salve auf Diran niederließen. Immer wieder brüllte er Befehle in alle möglichen Richtungen, um eine Panik unter den Soldaten zu vermeiden. Die vielen Freiwilligen, die sich immerhin gemeldet hatten, waren damit beschäftigt, die Verwundeten in die umstehenden Notlazarette zu tragen, in denen sich die Feldscher um sie bemühten. Wieder und wieder schlugen die schweren Felsbrocken der Katapulte auf den Wehrgängen ein oder versetzten den Mauern direkte Treffer. Die dadurch aufgewirbelten Trümmerteile wirkten wie tödliche Geschosse und streckten etliche Soldaten auf den Wehrgängen nieder. Im Gegensatz zu den Darkanischen Wehranlagen besaß Diran keine Katapulte mit denen sie den Beschuss erwidern konnten. Vitras schwankte und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten, als ein mächtiger Felsbrocken nicht weit von ihm entfernt, einen Krater in den Wehrgang schlug. Mehrere Soldaten wurden erschlagen oder von der Mauer gerissen. Die Schreie der Verwundeten wurden von denen die Befehle kreischten, um ihnen zu helfen, kaum überlagert. Der Kriegszauberer entdeckte General Kurz inmitten des Chaos, als er dabei war einem jungen Keldianischen Offizier, den Vitras kaum zwanzig Jahre alt wähnte, einen Verband anzulegen. Den Stoff dafür riss sich der General aus seiner Uniform. Vitras eilte sofort zu ihm. Schnell war ihm klar, dass Kurz' Rettungsversuch ehrenhaft aber hoffnungslos war. Der junge Mann starb noch bevor Vitras den General erreichte:
„Unsere Bogenschützen können nichts ausrichten,“ schrie Kurz den Kriegszauberer an, um sich bei all dem Lärm Gehör zu verschaffen: „Der Feind steht einfach zu weit von den Mauern entfernt!“
„Wo bleibt Meisterin Mai?“ brüllte Vitras laut zurück: „Sie sollte schon längst hier sein!“
Kurz schaute ihn entgeistert an: „Ich habe sie seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Ich dachte sie sei bei euch!“
Vitras beschlich eine dunkle Vorahnung. Er rannte sofort die nächstgelegenen Stufen des Wehrganges herunter und ließ sich ein Pferd geben. Dann jagte er durch die leergefegten Straßen der Stadt zum Palast. Die noch verbliebenen Soldaten auf dem Platz sahen verwundert zu, wie der Zauberer im vollen Galopp vorüber schoss und das Tier erst kurz vor den Stufen zum Halten brachte. Ohne sich um irgendjemanden zu kümmern, hechtete er die Stufen empor und stieß jeden zur Seite, der ihm in den Weg kam. Dann rannte er durch die langgezogenen Flure in Richtung Mais Gemächern. Als er sie erreichte brach er die verschlossene Tür kraft seines Willens auf und trat ein. Als er Mai erblickte, spürte er einen Stich in seinem Herzen, dabei traute er seinen eigenen Augen nicht. Mai stand mit dem Rücken zu ihm und drehte sich langsam herum. Mit einem schnippen ihrer Finger brachte sie die Tür dazu wieder ins Schloss zu fallen. Mai stand barfuß vor ihm und trug lediglich eine ärmliche, zerrissene graue Leinentunika. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie abgeschnitten. Ihr Körper war mit unzähligen blauen Flecken und kleineren Wunden übersät, die sie sich selbst zugefügt hatte. Vitras musste schlucken. Er hätte sich nie vorstellen können, die stolze Kriegszauberin in einen derart erbärmlichen Zustand anzutreffen. Vitras hatte Mühe, überhaupt auch nur ein Wort hervorzubringen:
„Was... was soll das?“
Mai blickte ihn mit einer wilden Entschlossenheit an. So sehr ihr Aussehen jetzt auch täuschen mochte, in ihren Augen funkelte ein tödlicher, zu allem entschlossener Wille.
„Das ist meine Tarnung!“ antwortete sie ihm, als ob es um ein passendes Kleid für den nächsten Ball ginge.
„Wenn ich mich so ins Lager des Feindes schleiche, werde ich wohl kaum auffallen.“
Plötzlich bekamen ihren Augen einen traurigen Ausdruck:
„Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn ihr mir Glück wünschen würdet. Wenn ihr mir euren Segen gebt. Nur, ich werde gehen. Eure Erlaubnis brauche ich nicht!“
Vitras setzte sich auf einen kleinen Schemel der neben der Tür stand und bedachte Mai mit einem flehenden Blick:
„Gibt es denn gar nichts, um euch von eurem Vorhaben abzubringen Mai? Ich will euch einfach nicht verlieren. Sanara wird es das Herz brechen!“
Mai schritt auf ihn zu und ging vor ihm in die Knie. Dann nahm sie seine rechte Hand und umschloss sie mit den ihren:
„Es gibt keine andere Möglichkeit Meister Vitras. Ihr wisst das auch ganz genau. Wenn ich mit meinem Tod bewirken kann, dass die Stadt gerettet wird, dass ihr und eure Enkeltochter überlebt und die Prophezeiung damit nicht abgewendet wird... dann zahle ich den Preis von ganzen Herzen!“
Vitras schaute ihr lange in ihre ausdrucksstarken, dunklen, braunen Augen. Dabei nahm er seine freie Hand und strich der Kriegszauberin zärtlich über die Wangen, als sie auch schon fortfuhr:
„Diran hat nicht die geringste Chance gegen diese gewaltige Übermacht. Sobald die Katapulte die Mauern an mehreren Stellen durchbrochen haben, werden ihre Krieger die Stadt stürmen. Selbst wenn es uns beiden gelingt, hunderte von ihnen zu töten, so werden Haruns Truppen am Ende doch siegreich sein.“
Vitras musste sich eingestehen, dass Mai absolut Recht hatte. Aber ihren Tod konnte und wollte er nicht akzeptieren:
„Dann werde ich eben gehen!“ sagte er ruhig und gefasst.
Mai schüttelte jedoch nur leicht mit ihrem Kopf:
„Und was glaubt ihr, wie Sanara das aufnehmen würde. Nein! Das Mädchen braucht euch dringender als mich.“
Mit den Worten erhob sie sich und ging zu ihrem Bett, auf dem sich ein Paket befand, das mit feinen Leinentüchern verpackt und von dünnen Lederbändern zusammengehalten wurde.
„Habt ihr eine Ahnung wie ich das Sanara erklären soll?“ fragte Vitras geistesabwesend, als Mai ihm das Paket überreichte.
„Ihr werdet Sanara gar nichts erklären müssen!“ antwortete ihm Mai und lächelte: „Wenn es vollbracht ist, gebt ihr das hier. Sie wird dann alles verstehen!“
Gedankenverloren nahm Vitras das Paket entgegen. Er stand auf und versuchte, sich zusammen zu reißen:
„Wie sieht euer Plan denn nun genau aus?“
„Ich habe alles mit Generalmajor Gisdern besprochen!“ erklärte ihm die Kriegszauberin: „Er hätte euch noch rechtzeitig benachrichtigt. Sobald es dunkel wird werde ich die Stadt durch einen Tunnel verlassen, der nicht unweit des feindlichen Lagers endet. Noch ein wenig Schmutz und Dreck...“ bei den Worten schaute Mai an sich herab: „Und man wird mich für nichts anderes als eine der vielen Huren halten, die sich immer im Tross eines Heeres dieser Größe aufhalten. Ich werde mich zur Mitte des Lagers begeben, von wo aus ich den größten Schaden anrichten kann. Ich hoffe, dort wird sich auch der Generalsstab befinden.“ Mai atmete tief ein, bevor sie weitersprach: „Einmal dort angekommen suche ich mir ein kleines Versteck... dann lasse ich es geschehen!“
Vitras stellte das Paket für Sanara neben den Schemel, trat einen Schritt auf Mai zu und schloss sie in seine Arme, wie er es sonst nur mit seiner Enkeltochter tat. Mai erwiderte die Umarmung und hielt den Kriegszauberer fest an sich gedrückt. Als sie sich wieder voneinander lösten erkannte Vitras in ihren Augen, dass sie ihren inneren Frieden wiedergefunden hatte.
Als die Dämmerung herein brach standen Vitras, sowie die Generäle Kurz und Gisdern mit mehreren Soldaten am Eingang des Tunnels den Mai nehmen wollte. Die Männer hatten allesamt eisige Minen, und es herrschte eine gedrückte Stimmung. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Von weitem waren noch immer die Einschläge der Katapulte zu hören. Der Feind hatte anscheinend beschlossen, auf gut Glück auch in der Dunkelheit den Beschuss fortzusetzen, was die Nerven der Einwohner Dirans blank liegen ließ. General Kurz stöhnte gequält auf, als Mai erschien und er die Kriegszauberin in dieser Aufmachung sah. Die Generäle sowie Vitras schlossen Mai ein letztes Mal in den Arm. Dabei hätte Mai schwören können, dass dem Kriegszauberer eine Träne über die Wange lief. Sie strich ihm über den kahlen Schädel und konnte das Pochen der eintätowierten Runen spüren. Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, im dunklen Tunnel. Die Männer starrten allesamt lange in die schwarze Öffnung des Tunnels, bis die Stimme des Keldanischen Generals sie aus ihren Gedanken holte:
„Meister Vitras! Ich habe wenig, eigentlich überhaupt keine Erfahrung was die Magie anbelangt. Wie können wir erkennen, ob Meisterin Mais Vorhaben glückt? Woran erkenne ich das Zeichen für meine Männer?“
„Das Zeichen für eure Männer?“ fragte Vitras verblüfft.
„Meisterin Mai schlug vor,“ erklärte ihm der General: „das sobald wir das Zeichen sehen, ich mit meinen Soldaten ausrücken soll. Um mit den Resten, so wie sie es ausdrückte, aufzuräumen!“
„Glaubt mir nur eines General Gisdern! Das Zeichen werdet ihr erkennen – und ihr werdet es in eurem ganzen Leben nicht vergessen!“
Vitras und die beiden Generäle begaben sich nun wieder zu den Wehranlagen, während sich die Keldianischen Verbündeten für ihren Ausfall bereit machten.
***
Mai brauchte ungefähr eine Stunde, bis sie in dem engen Tunnelsystem, kriechend den Ausgang erreichte. Eine kleine magische Feuerkugel, die sie die ganze Zeit über ihren Kopf schweben ließ, sorgte dafür, dass sie sich in der Dunkelheit der Tunnel zurechtfand. Der Ausgang war von außen komplett mit Wildsträuchern zugewachsen, die sich sogar schon ins Innere des Tunnels vorgekämpft hatten. Mai ließ die magische Kugel kraft ihres Willens erlöschen und begann augenblicklich sich durch das Dickicht der Gewächse zu kämpfen. Als sie sich endlich wieder im Freien befand, erschrak sie kurz, wie dicht sie dem Lager schon war. Sie erhob sich und schritt darauf zu. Nach wenigen Schritten begegnete ihr schon die erste Patrouille von drei Mann, die kaum als sie Mai sahen, lüsterne Bemerkungen in ihre Richtung warfen. Mai blickte flüchtig in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass keine weiteren Soldaten in der unmittelbaren Umgebung waren. Dann schritt sie schnurstracks auf die drei zu. Die Männer hielten an und erwarteten gleich ihren Spaß zu bekommen, als sie Mai lächeln sahen. Keiner von ihnen nahm das flimmern der Luft um sie herum wahr. Mit einem Schnippen ihrer Finger brach sie allen dreien das Genick und stolzierte über ihre toten Körper hinweg, als wären sie Müll. Je näher sie dem Lager kam, desto mehr Soldaten liefen ihr über den Weg. Viele waren betrunken und grölten durch die Nacht. Ganz offensichtlich wurde es ihnen noch einmal gestattet, sich zu amüsieren, bevor die Katapulte ihren Beschuss beendeten und die richtigen Kampfhandlungen, Mann gegen Mann begannen. Wann immer es ihr die Umstände erlaubten, brach sie den Soldaten, die ihr gefährlich nahekamen, Kraft ihres Willens das Genick. Waren einfach zu viele anwesend, spielte sie das Spiel mit. Sie lachte, ließ sich begrabschen und fand immer wieder einen Weg, sich herauszuwinden um schnell weiter zu gehen. Inzwischen hatte sie auf diese Weise die ersten Zelte und Vorläufer des gewaltigen Heerlagers erreicht. Sie passte ihren Gang den einer betrunkenen Hure an, die ihr über den Weg lief und marschierte einfach weiter. Inzwischen befand sie sich tief im Lager. Sie beherzigte Vitras' Rat, einen Bogen um die Zelte des Drachenbataillons zu schlagen. Immer weiter drang die Kriegszauberin in das Lager ein, ohne dass man ihr die geringste Beachtung entgegenbrachte. Überall vor den Zelten brannten Lagerfeuer, an denen die Soldaten sich wärmten, oder über denen sie den Inhalt ihrer Suppenschüsseln erwärmten. Häufig flogen irgendwelche Zeltplanen auf und halbnackte Dirnen rannten gackernd heraus, um sich sogleich einem anderen Soldaten um den Hals zu werfen. Vor vielen Zelten bildeten die Männer auch ein Halbrund, innerhalb derer Zweikämpfe stattfanden, auf dessen Ausgang teils hohe Summen gesetzt wurden. Plötzlich entdeckte Mai ein riesiges, prächtiges Zelt, das in nicht allzu weiter Entfernung auf einem etwas höher gelegenen Hügel aufgeschlagen war. Sie hielt unauffällig auf ihn zu und erkannte schnell, dass der gesamte Bereich rund um den Hügel von Soldaten abgesperrt war. Die Kriegszauberin hatte den Kommandostand gefunden. Suchend blickte sie sich um und entdeckte einen Karren, der hinter einem der einfachen Zelte abgestellt war. Zudem war es dort, wo das Gefährt stand, relativ dunkel. Flink begab sie sich dorthin und krabbelte unter den Karren. Dann wartete sie noch einen Moment ab, aber ganz offensichtlich hatte sie niemand bemerkt. Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. Die Kriegszauberin musste noch einmal an Sanara und ihre täglichen gemeinsamen Übungen denken. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht als sie an ihre erste Begegnung mit Filou zurückdachte. Dann begann sie sich zu konzentrieren.
Wie üblich fing die Luft, die sie umgab, an zu flirren und zu schwirren. Mai ließ jedoch nicht ihren Willen wirken. Sie fuhr so stark fort, sich zu konzentrieren, dass ihre Adern an Hals und Armen hervortraten. Der Karren, unter dem sie sich befand, begann sachte zu schaukeln und kleine Holzsplitter lösten sich aus seinen Brettern. Völlig in sich versunken, konnte Mai die göttliche Quelle in ihrem Körper spüren. Die Kraftquelle, der alle Magier ihre Macht verdankten. Vorsichtig begann sie ihren Willen zu lenken, ließ ihn jedoch nicht frei, um ihn stärker und stärker werden zu lassen. Ihre Adern begannen zu pochen und zu schmerzen, der Schweiß rann in Strömen aus allen Poren ihres Körpers. Doch das bemerkte sie gar nicht mehr. Sie spürte nur noch ihren Willen der so stark wurde, bis sie ihn nicht mehr halten konnte. In diesem Augenblick lenkte sie ihn urplötzlich in ihr innerstes. Sie ließ ihren Willen auf ihre göttliche Quelle los. Ihre Körperorgane erlitten sofort einen totalen Zusammenbruch, das Blut in ihren Adern begann zu kochen. Die Atome ihres Körpers schossen, von ihrem Willen gelenkt, auf ihre Quelle. Durch die hieraus entstandenen Kollisionen in ihrem Körper kam es zu einem Umkehreffekt. Ihre Quelle explodierte. Es entstand ein ohrenbetäubender Knall, dessen Druckwelle noch auf den Wehranlagen Dirans zu spüren war. Gleichzeitig durchschlug ein Lichtblitz den Karren und schoss senkrecht in den Himmel, während die Kraft der gewaltigen Explosion nahezu das gesamte Heerlager verwüstete. Druckwelle jagte um Druckwelle aus dem Kern der Explosion, der vor wenigen Augenblicken noch Mais Körper darstellte. Ringförmig rasten die Detonationswellen vom Kern fort und brachten Tod und Zerstörung über alles was die Explosion überlebte.
Die Verteidiger auf den Wehranlagen Dirans mussten sich die Hände vor die Augen halten, als der grelle Lichtblitz in den Himmel emporschoss. Die Explosion war verheerend, die nachfolgenden Druckwellen katastrophal. Das feindliche Heerlager war sekundenlang taghell erleuchtet. Ungläubig beobachteten die Soldaten auf den Wehranlagen, die sich rasch ausbreitende Zerstörung.
„Ich denke, das dürfte euer Zeichen sein!“ brüllte Vitras lautstark, damit General Gisdern ihn bei dem ohrenbetäubenden Lärm hören konnte. Gisdern zitterte am ganzen Körper. Schnell sammelte sich der Offizier jedoch wieder und rannte zu den wartenden Einheiten. So schnell die Katastrophe über Harun Ar Sabahs Armee hereinbrach, so schnell war alles wieder vorüber. Vitras gab dem Tor Kommandanten ein Handzeichen, woraufhin dieser das Haupttor öffnen ließ. Vitras blieb auf dem Wehrgang oberhalb des Tores und beobachtete, wie die viertausend Keldianer aus dem Tor preschten und auf das feindliche Heerlager zuhielten. Dort angekommen, bot sich ihnen ein Bild der kompletten Zerstörung. Die Keldianer ritten durch ein Meer aus Schutt und leblosen Körperteilen. Wann immer sie Überlebende fanden, töteten sie diese aus einem Akt des Erbarmens und Mitleids – und nicht länger, weil es sich um den Feind handelte. Der Sieg über Harun Ar Sabahs Armee war komplett und total.
Vitras blieb lange auf der Wehranlage stehen und schaute abwechselnd, mal zum Sternenfirmament dann wieder zum zerstörten Heerlager. Dabei dachte er an Mai. Als die ersten Keldianer zurückkehrten und von der Niederlage des Feindes berichteten, brach ein ohrenbetäubender Jubel auf den Mauern aus. Wie ein Lauffeuer breitete sich die Nachricht in der gesamten Stadt aus. Trotz des Sieges mochte in Vitras keine Freude aufkommen. Erleichterung gewiss, aber keine Freude. In Gedanken versunken verließ er die Wehranlagen, stieg auf ein Pferd das ihm ein junger Diranischer Soldat brachte und ritt zurück zum Palast. Von überall strömten die Bewohner Dirans auf die Straßen und feierten überschwänglich.
Im Palast angekommen suchte Vitras erneut Mais Gemächer auf und setzte sich wieder auf den kleinen Schemel. Bis zum frühen Morgen blieb er dort sitzen und dachte an all die schönen Momente mit der stolzen Kriegszauberin zurück. Ihre Trainingseinheiten mit Sanara, ihre gespielte Furcht vor Filou oder auch die Art wie sie ihre Augen verdrehte, wenn sie kurz davor stand einen Wutanfall zu bekommen. Noch immer stand das Paket dort, wo er es am Vortag abgestellt hatte. Er hob es auf, verließ den Raum und ging zu seinen und Sanaras Gemächern. Er hatte Angst vor dem was nun vielleicht kommen mochte. Als er die Tür öffnete stand Sanara schon fertig angezogen im Zimmer und begrüßte ihn.
„Guten Morgen Großvater! Ist es wahr, wir haben wirklich gewonnen?“
Vitras nickte ihr lediglich zu: „Ja es ist wahr. Der Feind ist geschlagen!“
„Das sind ja großartige Neuigkeiten,“ erwiderte sie, während sie sich ihr Kurzschwert anlegte.
„Ich werde gleich zu Mai gehen und sie fragen ob wir das Training wieder aufnehmen können.“
Vitras schritt auf seine Enkeltochter zu und beschloss sich genau an Mais Worte zu halten.
„Ihr werdet ihr gar nichts sagen müssen. Wenn es vollbracht ist gebt ihr das hier. Sie wird dann verstehen.“
„Ich habe hier etwas für dich,“ brachte er in einem stockenden Tonfall hervor: „Etwas, dass ich dir von Mai geben soll!“
Überrascht nahm Sanara das Paket aus den Händen ihres Großvaters und bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie ihm ins Gesicht schaute, wurde ihr schlagartig klar, dass etwas schreckliches passiert sein musste. Vitras fuhr einmal zärtlich mit seiner Hand über Sanaras pechschwarzes Haar. Dann drehte er sich um und verließ die Räumlichkeiten wieder. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte ging Sanara mit dem ziemlich großen Paket in ihr Zimmer, stellte es auf ihr Bett und setzte sich daneben. Filou schnupperte interessiert an den Leinentüchern, die das Paket umschlossen während Sanara die Lederschnüre auseinander band, um es zu öffnen. Ihr Herz krampfte sich zusammen als sie den Inhalt sah. Fein säuberlich zusammen gelegt befand sich Mais schwarzer Kampfanzug darin, mitsamt all den Wurfsternen, Messern und einem nagelneuen Paar Stiefeln. Obenauf lag ein zusammengefalteter Brief. Sanara nahm das Papier in ihre Hände und konnte urplötzlich ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie Mai niemals wiedersehen würde. Dann faltete sie den Brief auseinander und begann zu lesen.
Liebe Sanara,
wenn Du diese Zeilen liest, werde ich im großen Sanktrum wandeln. Es tut mir unendlich leid, dass mir nur so wenig Zeit mit Dir vergönnt war.
Verliere Dich nicht in Traurigkeit oder finsteren Gedanken. Führe Dein Training fort so wie ich es Dich gelehrt habe. Der Tag wird kommen, an dem Dein Großvater nicht mehr auf Dich Acht geben kann. Dann ist es an Dir auf ihn acht zu geben. Deine Göttliche Quelle ist dermaßen stark, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Gepaart mit Deinem Kampfgeschick, wirst Du eines Tages die mächtigste Kriegszauberin werden, die es je gab.
Mache es Dir zur Aufgabe Deinen Bruder zu finden, damit ihr gemeinsam die Prophezeiung erfüllen könnt.
Ich liebe Dich, wie ich eine Schwester geliebt hätte. Dich, Deinen Großvater und natürlich Deinen kleinen Drachen.
Mai
Sanara faltete den Brief zusammen, legte ihn sorgsam in das Paket zurück und verschnürte es wieder.
„Eines Tages bin ich soweit dein Geschenk tragen zu können!“ flüsterte Sanara: „Dann werde ich nicht nur meinen Bruder finden, ich werde deinen Tod rächen... das schwöre ich dir Mai!“
Sanara legte sich neben dem Paket auf das Bett und wurde von heftigen Weinkrämpfen durchgeschüttelt. Auch die zärtliche Wäsche, die Filou ihr verabreichte, konnte sie im Augenblick nicht trösten. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie nicht mehr weinen konnte. Sie erhob sich vom Bett und starrte auf Filou, der sie neugierig musterte.
„Komm mein Kleiner, wir gehen laufen und anschließend üben wir mit den Wurfsternen!“ Sofort sprang Filou auf ihre Schultern und sie verließen die Gemächer.
***
Vitras saß ein letztes Mal mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt Diran zusammen, bevor er mit Sanara seine Heimreise in den Hochlandbund antrat. Hierzu gehörten General Kurz, wichtige Mitglieder der Handelsgilde und einige Adlige von denen bekannt war, dass sie dem ehemaligen Regenten stets mit Skepsis gegenübertraten. Generalmajor Gisdern war vor einigen Tagen mit seinen Soldaten nach Keldan zurückgekehrt. Um das Diranische Heer zu unterstützen, das neu strukturiert und aufgebaut werden musste, ließ er zunächst fünfhundert seiner Soldaten zurück. Die Aufräumungsarbeiten vor und in der Stadt gingen gut voran. Außerdem wurde festgelegt, die durch die Katapulte angerichteten Schäden an der Stadtmauer nicht nur auszubessern, sondern die Wehranlagen insgesamt zu verstärken. Vitras war sich absolut im Klaren darüber, dass Harun Ar Sabah und der Dämon zwar eine schwere Niederlage hinnehmen mussten, die Gefahren, die von ihnen ausgingen, aber noch längst nicht gebannt waren. Man hatte lediglich etwas Zeit gewonnen. Aus dem Grunde bestand er auch darauf, die Handelsrouten, die in den Hochlandbund führten, trotz des Sieges zu verlegen. Da die neuen Handelsstraßen von Keldan aus jedoch erst ausgebaut werden mussten, gab er sich damit einverstanden, dass die Karawanen vorerst die alten Routen nutzten. Auch musste ein Nachfolger für den alten Regenten gefunden werden. Ein Punkt von dem Vitras ausging, dass er zu heftigen Kontroversen führen würde. Zu seiner Überraschung schlug die Handelsgilde einstimmig General Kurz für dieses hohe Amt vor. Alle Vertreter der Versammlung begrüßten den Vorschlag. Somit wurde der General einstimmig zum neuen Regenten gewählt. Vitras lächelte ihm aufmunternd zu und gratulierte dem jetzt ehemaligen General als erster:
„Diran wird bei euch in guten Händen sein mein Freund!“ dabei schlug er ihm anerkennend auf die Schulter.
„Ich... ich danke euch!“ brachte Kurz nur stotternd hervor. Die Ernennung zum Regenten hatte ihn kalt erwischt. Kurz war kein Machtmensch und musste seinen neuen Stand erst einmal verarbeiten.
Sanara wartete bereits mit dem Gepäck vor der Kutsche, die sie und ihren Großvater zurück nach Durenald bringen sollte. Sie freute sich sehr ins Fürstentum zurückzukehren, das ihr Zuhause war. Sanara konnte es aber genau so wenig erwarten, Fürst Ingalf und Eldar endlich wiederzusehen. Während einer der Kutscher sich bemühte, dass Gepäck zu verstauen, wartete ein Geleitschutz von sechzehn Soldaten darauf, dass die Reise endlich losging. Der neue Regent hatte darauf bestanden und die Männer höchstpersönlich ausgesucht. Als Vitras endlich erschien, begrüßte ihn Sanara herzlich. Der Kriegszauberer schaute lange auf seine Enkeltochter herab. Filou schlängelte sich wie immer über ihre Schultern. Sie trug die Kleidung, die Mai ihr für das Training besorgt hatte. Außerdem hatte sie ihr Kurzschwert angelegt. Vitras musste schmunzeln, als er sich Fürstin Eldars Empörung vorstellte, sobald sie Sanara in diesem Aufzug zu Gesicht bekommen würde. Wenn Sanara ihr jedoch eines Tages in Mais schwarzen Kampfanzug gegenübertreten würde, da war sich Vitras sicher, könnte die gute Eldar einen Schlaganfall erleiden.
„Kommst du jetzt endlich Großvater?“
Vitras musste bei dem Gedanken an Eldar mehr als schmunzeln. Lächelnd bestieg er als erster die Kutsche.