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1.3. Morna

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Die kleine Zelle, tief unterhalb des Palastes der Darkanischen Herrscher, zeichnete sich außer durch die ihr innewohnenden abgestandenen Luft, durch ihre klamme Kälte und der absoluten Dunkelheit aus. In der Zellentür, die aus massivem Eichenholz bestand und mit spitzen metallenen Nieten beschlagen war, befand sich eine vielleicht zwei Fuß breite Öffnung. Sie war vergittert und konnte von außen mit einer Klappe verschlossen werden. Mitunter drang etwas Licht, vom Schein der Fackeln, die von den Wärtern benutzt wurden, in die Zelle. Sobald sich diese wieder entfernten, tauchte die Zelle erneut ins grauenvolle, undurchdringliche Schwarz. Die Feuchtigkeit setzte sich hier unten in den Wänden fest und überzog diese mit einem Meer aus feinen Tropfen. Die Nässe kroch selbst in das spärliche Strohlager sowie in die Kleidung, die Morna trug. Sie hatte hier unten inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren und konnte nicht einmal mehr erahnen, wie lange sie hier schon gefangen gehalten wurde. Die Halbgöttin, deren Liebreiz im Augenblick bestenfalls zu erahnen war, konnte noch immer nicht fassen wie naiv sie war. So musste sie sich eingestehen, sich mit ihrer Gutgläubigkeit selbst in diese Lage gebracht zu haben. Trotz aller Warnungen ihrer Mutter, hatte sie sich in einen Sterblichen verliebt, die Sicherheit ihres Waldes verlassen und damit ihre göttliche Macht, sogar ihre Unsterblichkeit vorübergehend aufgegeben. Als Halbgöttin war Mornas Macht erdgebunden. Damit war sie, sobald sie den Wald verließ, eine gewöhnliche Sterbliche. Was ihr jedoch blieb war ihr Stolz. Den würde Godvere Garien, der Herrscher Darkans, ihr niemals nehmen können. Sie strich sich eine Strähne ihres schmutzigen Haars aus dem Gesicht, das normalerweise in einem satten, kräftigen Braun erstrahlte.

Godvere Garien – der Herrscher des Darkanischen Reiches, war ein stattlicher, gutaussehender Mann Mitte dreißig. Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters Sorarius Garien, bestieg er den Thron im frühen Alter von sechzehn Jahren. Die harte Erziehung machte sich schnell bezahlt, da es dem jungen Herrscher gelang, etliche Intrigen gegen ihn zu erkennen, aufzudecken und mehreren Mordanschlägen zu entgehen. Somit begann er, sein Reich mit unnachgiebiger Härte zu regieren. Auch als Stratege war er weithin gefürchtet. Godvere unterwarf nahezu alle umliegenden Königreiche. Erst der Hochlandbund im Osten, später auch die freie Stadt Prem im tiefen Süden waren in der Lage den Eroberungen des Herrschers Einhalt zu gebieten. Godvere Garien war jedoch nicht nur ein absoluter Machtmensch, er war auch ausgesprochen intelligent. Er schloss Frieden mit dem Hochlandbund sowie mit der Stadt Prem und konzentrierte sich darauf, seine Macht im riesigen Reich zu festigen. Der schwarze Wald, auch der Wald der Götter genannt, der die Westgrenze seines Reiches bildete, war allerdings ein bohrender Stachel in seinem Fleisch. Die schwer gerüsteten Darkanischen Soldaten waren den Amazonenstämmen in den Weiten des dichten Waldes hoffnungslos unterlegen. Der Kommandant der Leibwache des Herrschers begann frühzeitig zu ergrauen, da Sein Herr regelmäßig darauf bestand, in den Ausläufern des Waldes zu jagen. Die Jagdausflüge boten häufig das Ziel eines Amazonenangriffs, da die Kriegerinnen ihren heiligen Boden mit aller Macht verteidigten. Bei einem dieser Angriffe, scheute das Pferd des Herrschers und warf ihn ab. Godvere stürzte und schlitterte einen Abhang hinunter. Dabei rauschte er durch dutzende Büsche bis er bewusstlos gegen einen Baum krachte.

Morna konnte sich gut an diesen Tag erinnern. Sie fand ihn mehr tot als lebendig und verliebte sich augenblicklich in die edlen Gesichtszüge des Mannes, der blutend und hilflos am Boden lag. Sein Gefolge, das ihn lautstark suchte, hatte nun nicht die geringste Chance mehr, ihn zu finden. Einfach weil Morna es nicht wollte. Sie legte einen Unsichtbarkeitszauber auf sich und den Fremden und brachte ihn zu ihrem Baumschloss. Während sie vorweg ging, schwebte sein bewusstloser Körper mehrere Schritte über dem Boden hinter ihr her. Mornas Zuhause war ein gewaltiger Gebäudekomplex aus Holz, der hoch oben in den Baumkronen zu finden war und sich über dutzende Bäume erstreckte. Wunderschön anzusehen, wäre es jedem Betrachter sofort bewusst geworden, dass es sich um ein Bauwerk handelte, das nicht von Menschenhand erschaffen sein konnte. Hier pflegte Morna den Herrscher gesund wobei sie seinem Charme endgültig unterlag. Da Morna die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte, verliebte sich Godvere ebenfalls und brachte seine gesamte Überredungskunst auf, damit sie ihn nach Darkan begleitete. Sie erzählte ihm selbstverständlich nicht wer sie war und belegte ihn sogar mit einem Zauber, damit er diesen verwunschenen Ort in den Baumkronen vergaß. Alle anderen Warnungen ihrer Mutter schlug sie jedoch in den Wind. Sie war verliebt und wollte sein Reich kennenlernen. Somit verließ Morna mit ihm den Wald der Götter, der ihr nur Macht und Unsterblichkeit verlieh, wenn sie sich in ihm aufhielt.

Die Rückkehr des Herrschers war ein freudiges Ereignis in ganz Darkan. Godvere war Witwer und Kinderlos. Somit trat man Morna am Hofe zuerst mit Argwohn gegenüber. Doch es gelang ihr schnell mit ihrem angenehmen Wesen jedes Misstrauen zu zerstreuen. Als ihre Schwangerschaft bekannt wurde, war man dermaßen entzückt, dass man selbst über ihre scheinbar nicht standesgemäße Herkunft den Mantel des Schweigens legte. Die höfischen Zwänge und Rituale allerdings, engten die junge Halbgöttin zu sehr ein. Sie war das freie Leben im Wald der Götter gewohnt, der von den Menschen nur der schwarze Wald genannt wurde. Sie konnte mit dem Leben am Hofe einfach nichts anfangen. Das einfache Leben der Amazonen Stämme, die sie als Göttin verehrten, die Tiere des Waldes mit denen sie sprechen konnte... all das vermisste sie.

So lehnte sie den Wunsch des Herrschers, ihn zu heiraten, jedes Mal ab. Godvere war am Hofe auch längst nicht mehr der Mann, den sie in ihrem Wald kennen und lieben gelernt hatte. Er fiel in seinen alten Rhythmus zurück, und sie erkannte schnell, dass er sein Reich mit unnachgiebiger Härte führte. Dabei war er zu einem Jähzorn fähig, den sie an ihm noch nicht kannte. Als die Hof Ärzte ihr offenbarten, dass sie Zwillinge zur Welt bringen würde, entschloss sie sich, in ihren Wald zurückzukehren. Sie wollte ihren Kindern nicht ihr göttliches Erbe verwehren. Viel wichtiger aber war ihr, dass die Zwillinge glücklich und ohne Zwänge aufwachsen sollten. Naiv wie sie war, erzählte sie dem Herrscher umgehend von ihrem Vorhaben. Godvere Garien bekam einen Tobsuchtsanfall, der seines gleichen suchte. Nicht nur dass sie seine Heiratsanträge durchgehend ablehnte und ihn damit zutiefst in seinem Stolz verletzte, jetzt sollte er auch auf seine Kinder und sein Reich auf einen Thronfolger verzichten. Er ließ Morna umgehend in ihre Gemächer bringen, die sie von nun an nicht mehr verlassen durfte. Schwer bewaffnete Wachen kontrollierten jeden, der ihre Räume betreten wollte. Nach der Geburt der Zwillinge brachte man Morna in den Kerker und Godvere verbot jedem am Hofe, ihren Namen jemals wieder zu erwähnen. Offiziell ließ man verlautbaren, die junge Mutter sei bei der Geburt verstorben und der Herrscher hatte vor, seine Kinder in diesem Glauben aufzuziehen.

Obwohl die Entbindung erst wenige Wochen zurücklag, kam es Morna inzwischen vor als läge dies Ereignis eine Ewigkeit zurück. Trauer, Wut und Verzweiflung beherrschten sie und waren auf dem besten Wege, sie in den Wahnsinn zu treiben. Der schwache Schein der Fackeln, wenn die Wachen nach dem Rechten sahen, reichte inzwischen völlig aus, ihren Augen Schmerzen zuzufügen, so dass sie diese zusammenkneifen musste. Doch der Klang der Schritte, der sich jetzt ihrer Zelle näherte, hörte sich anders an. Morna kannte inzwischen jedes Geräusch, dessen sie hier unten habhaft werden konnte. Dies waren nicht die schweren Schritte der bulligen Wärter, die sich langsam näherten. Es klang eher wie ein tapsen, wie die Schritte einer zierlichen Person. Dann hörte sie das Flüstern einer Frauenstimme. Mornas Herz begann wie wild zu rasen, als sie die Stimme erkannte.

„Elze? Elze, bist du das wirklich?“ Brachte die Halbgöttin aufgeregt hervor und bewegte sich auf die Zellentür zu. Dabei erschrak sie sich über den Tonfall der eigenen Stimme, die sich dumpf und krächzend anhörte. Der Lichtschein der Fackel, der sich an den feuchten Wänden wieder spiegelte, wurde immer heller. Als Elze endlich die Zellentür erreichte musste sich Morna eine Hand schützend vor ihre Augen halten. Die alte Dienerin war eine der wenigen Personen im Palast, die Morna sofort in ihr Herz geschlossen hatte. Elze fing augenblicklich an zu weinen, als sie realisierte, dass sie ihre Herrin endlich gefunden hatte. Umständlich begann sie mit dem klobigen Schlüssel im Schloss zu hantieren, wobei sie immer wieder eine graue Haarsträhne aus ihrem Gesicht wischte. Nach einer Weile hatte sie den Dreh raus, und mit einem lauten Klacken sprang das Schloss auf. Nur zu zweit und mit größter Mühe schafften die beiden es, die schwere Tür einen Spalt weit zu öffnen, so dass Morna sich hindurchzwängen konnte. Überglücklich fiel sie der alten Dienerin in die Arme und wurde dabei von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Mit ihrer ruhigen und unglaublich einfühlsamen Art gelang es Elze, Morna zu beruhigen. Dann drückte sie sie vorsichtig von sich und betrachtete sie. Die ältere Frau war erstaunt und beeindruckt zugleich, als sie in Mornas Augen blickte. Trotz der Tränen konnte sie in ihnen noch immer den Stolz erkennen, den sie stets so bewundert hatte. Auch nach vier Wochen in diesen dunklen und kalten Verließ, der Trennung von ihren Kindern sowie der Angst vor dem eigenen ungewissen Schicksal, hatte Morna nichts von ihrer Würde und Eleganz verloren. Ihr inzwischen völlig verdrecktes zerschlissenes Kleid, die langen ungepflegten braunen Haare und selbst die vielen Kratzer oder Schürfwunden, schienen ihre Erhabenheit nur trotzend zu unterstreichen. In all den Jahren, als Dienerin von drei verschiedenen Herrschern, hatte Elze nie auch nur eine Person kennengelernt, die sie so freundlich und warmherzig behandelte wie Morna.

„Wie hast du es bloß geschafft, an den Schlüssel zu kommen und dich an den Wärtern vorbei zu schleichen?“ flüsterte Morna ganz aufgeregt. Dabei blickte sie ängstlich über die Schulter der Dienerin, da sie befürchtete, dass die Wärter jeden Augenblick auftauchen könnten. Elze lächelte sie freudig an und hielt einen kleinen Lederbeutel hoch, den sie mit ihrer freien Hand aus ihrem Jutebeutel hervorkramte. Morna hielt indes noch immer eine Hand vor den Augen, da der Schein der Fackel sie regelrecht blendete.

„Die richtige Mischung aus Alraun, Nachtschatten und Tollkirsche.“ erklärte Elze stolz, während der Beutel sanft vor Mornas Gesicht hin und her schaukelte:

„Vielleicht noch eine Prise Bilsenkraut dazu. Das alles fein zerstoßen und in einen Becher Wein gemischt. Das ist es auch schon. Die Wärter haben sich riesig gefreut, als ich ihnen überraschend den Wein brachte.“ Elze strahlte jetzt über das ganze Gesicht:

„Als Dankeschön sind sie dann auch ziemlich schnell zu Boden geplumpst.“ Prüfend drehte Elze den kleinen Beutel zwischen ihren Fingern:

„Hoffentlich habe ich nicht zu viel Tollkirsche genommen!“ Kopfschüttelnd ließ sie den Beutel wieder in ihrem Jutesack verschwinden. Dann bekam ihre Stimme einen ernsten Tonfall:

„Ihr müsst hier sofort weg, es ist vor kurzem etwas Schreckliches geschehen. Ich befürchte, dass ihr eures Lebens jetzt erst recht nicht mehr sicher seid.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst Elze, aber ohne die Zwillinge gehe ich nirgendwo hin. Wir müssen erst meine Kinder holen.“

Elze begann leicht zu zittern: „Das ist es ja!“ wimmerte sie: „Die Zwillinge sind spurlos verschwunden. Der Herrscher ist außer sich vor Zorn. Er hat das gesamte Wachpersonal der letzten Nacht verhaften und in den Kerker werfen lassen. Hunderte Soldaten durchkämmen den gesamten Palast. Ich kann nicht einmal erahnen, wie viele Soldaten die Stadt durchforsten. Dabei dringen sie auf ihrer Suche nach den Kindern in jedes Haus ein. Nicht einmal die Villen der Adligen werden verschont. Doch sie sind unauffindbar. Mittlerweile sind nicht wenige davon überzeugt, dass Magie im Spiel sein muss.“ Um Morna herum begann sich plötzlich alles zu drehen. Sie hatte Angst den Boden unter den Füßen zu verlieren und konnte sich gerade noch an der kalten Mauerwand abstützen, um nicht hinzufallen.

„Es ist nur eine Frage der Zeit,“ fuhr Elze fort: „Bis der Herrscher euch zu sich bringen lässt. Ihr müsst augenblicklich hier verschwinden Herrin. Ich weiß nicht, wann die Wärter abgelöst werden und man eure Flucht bemerkt.“ Die Halbgöttin wirkte völlig geistesabwesend. Elze rüttelte an Mornas linken Schulter: „Habt ihr mich verstanden? Wir müssen hier weg!“ Es gelang Morna nicht, die Tränen zurück zu halten als sie Elze fragend anblickte: „Wie stellst du dir das vor? Wie sollen wir denn von hier entfliehen. Erst recht, wenn es überall von Soldaten nur so wimmelt?“

Elze setzte augenblicklich wieder ihr strahlendes Lächeln auf: „Oh – da habe ich schon so eine Idee. Oder dachtet ihr, ich wäre nur zu Besuch hier heruntergekommen? Kommt mit und bleibt dabei dicht hinter mir!“

Morna folgte der älteren Frau. Doch anstatt in den Vorraum zu gehen, wo die bewusstlosen Wärter lagen, und von wo aus eine Treppe nach oben führte, wählte Elze einen Seitengang, von dem aus eine Treppe die beiden Frauen tiefer ins Verlies führte. Die Stufen, die man vor Jahrhunderten ins Gestein geschlagen hatte, waren glitschig und somit extrem rutschig. Morna wunderte sich, mit welcher Leichtigkeit Elze eine Stufe nach der anderen nahm, während sie selbst sich immer wieder am Mauerwerk abstützen musste, um nicht den Halt zu verlieren. Unten angekommen, gelangten sie in einen fast kreisförmigen Raum, an dessen Wänden brennende Fackeln in ihren Halterungen steckten. Drei weitere Gänge führten aus diesem Raum hinaus. Morna kniff unwillkürlich wieder die Augen zusammen, doch sie schien sich schnell wieder an das Licht des Feuers zu gewöhnen. Der modrige Geruch, der einem hier unten entgegenschlug, war entsetzlich. Es roch nach Tod. Elze presste einen ihrer Finger an die Lippen und bedeutete der Halbgöttin absolut leise zu sein:

„Hier unten befinden sich nur noch zwei Wächter.“ teilte sie Morna flüsternd mit und deutete dabei in Richtung einer der drei Gänge: „Wir müssen diesen Gang dort entlang. Hier unten darf sich niemand außer den Wärtern aufhalten. Daher dürfen sie uns auf keinen Fall entdecken.“ Nach einer kurzen Weile, nahmen die beiden Frauen von weitem den Schein von Fackeln, der aus einem der anderen beiden Gänge kam, wahr. Die Wärter kamen rasch näher.

„Den Göttern sei Dank!“ murmelte Elze und zog Morna schnell in den Gang, auf den sie zuvor gezeigt hatte. Die beiden Frauen liefen so schnell sie konnten, bis sie die erste Gabelung erreichten. Zielsicher rannte Elze zur rechten weiter und wurde erst langsamer als sie sich sicher war, dass sie der Schein der eigenen Fackel nicht verraten hatte:

„Gleich müsste wieder eine Treppe nach unten kommen,“ flüsterte sie erneut: „Dann haben wir es fast geschafft.“

Morna schaute die Dienerin verwirrt an: „Müssen wir nicht irgendwann auch mal wieder eine Treppe nach oben nehmen, wenn wir hier rauskommen wollen?“ Dabei wischte sie sich Unmengen von Spinnweben aus den Haaren und ihrem ohnehin schon völlig zerschundenem Kleid.

„Hier führt keine Treppe mehr nach oben!“ Strahlte Elze sie an: „Hier führt auch kein bekannter Weg mehr nach draußen. Daher müssen wir uns jetzt auch um keine Wärter mehr sorgen.“ Ihr entging nicht, dass Morna sie völlig verständnislos anblickte.

„Seit beinahe fünfzig Jahren arbeite ich nun schon als Dienerin und Hebamme im Palast des Herrschers.“ klärte Elze sie auf: „Davor meine Mutter fast ebenso lang und vor ihr meine Großeltern. Denkt ihr nicht auch, dass in all den Jahrzehnten, ach was sag ich, den Jahrhunderten, in denen meine Familie im Palast arbeitete und gelebt hat – wir nicht von dem einen oder anderen Geheimnis erfahren haben?“ Morna schaute die alte Dienerin nur mit großen Augen an, als diese auch schon fortfuhr:

„Wir müssen zur Zelle von Dormus den Schrecklichen, dann sind wir am Ziel!“

„Dormus den Schrecklichen? Wie nett!“ Für einen kurzen Moment dachte Morna darüber nach, ob Elze noch richtig bei Verstand war. Sie hoffte es inständig.

„Keine Bange Liebes,“ versuchte Elze ihre Herrin zu beruhigen: „Dormus lebt schon seit über dreihundert Jahren nicht mehr. Allerdings hat man seine Gebeine nie aus seiner Zelle entfernt. Das ist auch der Grund warum sich niemand hier unten blicken lässt. In Darkan sind die Menschen sehr abergläubisch und es heißt, Dormus würde noch immer hier herumschleichen, um sich an den Lebenden für sein Schicksal zu rächen.“

Elze blieb kurz stehen und drehte sich zu Morna herum:

„Ihr seid doch nicht abergläubisch? Oder Liebes?“

Morna kam das alles nur wie ein einziger Alptraum vor. Aber sie vertraute Elze voll und ganz. Davon abgesehen, hatte sie gar keine andere Wahl. Ohne die Hilfe ihrer treuen Dienerin säße sie noch immer in ihrer Zelle, ohne einen einzigen Funken Hoffnung zu besitzen:

„Lass uns weitergehen Elze!“ Brachte sie lediglich hervor, woraufhin sich die alte Dienerin auch schon wieder umdrehte und vorneweg marschierte. Es dauerte noch eine ganze Weile bis sie die letzte Treppe erreichten, von der Elze sprach. Wieder handelte es sich um in Stein geschlagene Stufen und die beiden stiegen erneut noch tiefer ins Dunkel der Verließe hinab. Die Schatten, die von der tanzenden Flamme ihrer Fackel an die Wände geworfen wurde, schien Geister und Dämonen, Kobolde oder an was die Menschen sonst noch so glauben mochten, geradewegs dazu einzuladen, den beiden auf ihrem Weg aufzulauern. Am Ende der Treppe befand sich ebenfalls ein kreisförmiger Raum, allerdings hatte hier, den Spinnweben nach zu urteilen, seit Jahrhunderten niemand mehr die Fackeln entzündet, die noch immer in ihren morschen Wandhalterungen steckten. Zudem unterschied sich dieser Raum in einem wichtigen Detail vom vorherigen. Von hier aus führte nur ein einziger Gang weiter in die labyrinthartigen Tiefen des gewaltigen Kerker Komplexes. Am Ende dieses Ganges angekommen, befanden sie sich vor einer einzigen Zelle, dessen Zellentür geborsten und halb zerfallen aus den Angeln hing.

„Wir sind da!“ stellte Elze nüchtern fest, die anstatt weiterhin zu flüstern, jetzt klar und deutlich sprach. Die beiden Frauen zwängten sich durch den Spalt zwischen der zerstörten Tür und dem Mauerwerk, um die Zelle zu betreten. Staunend blickte sich Morna im Schein der Fackel um. Diese Zelle hatte aber auch wirklich überhaupt nichts mit dem Loch gemein, in dem sie die letzten vier Wochen verbrachte. Elze schritt zur gegenüberliegenden Wand und entzündete dort zwei weitere Fackeln, die in kunstvollen Wandhalterungen steckten. Anschließend ging sie zu den anderen Wänden und entzündete auch dort mehrere Fackeln, so dass der gesamte Raum hell ausgeleuchtet war. Erneut musste Morna die Hand schützend vor die Augen halten, doch sie gewöhnte sich immer schneller an das Licht. Erstaunt stellte sie fest, dass die riesige Zelle mit dicken Teppichen ausgelegt war. Der gesamte Raum war mit kostbarem Mobiliar ausgestattet und an den Wänden hingen prächtige Gemälde. Der Zahn der Zeit hatte jedoch alles mit einer dicken Staubschicht und zahllosen Spinnweben belegt. Mittig der rechten Zellenwand befand sich ein prunkvolles Bett, ebenfalls völlig vom Staub überzogen. Auf ihm befanden sich die Jahrhunderte alten Überreste eines Menschen. Um den Hals des Skeletts befand sich ein Eisenring, von dem aus eine schwere Kette zur Wand führte und dort mit einem Ring abschloss, der fest in der Mauer verankert war.

„Darf ich vorstellen?“ witzelte Elze um die unheimliche Atmosphäre etwas aufzulockern: „Dormus der Schreckliche, einst Herrscher des Darkanischen Reiches.“

„Niemand hat es verdient, tief unter der Erde eingeschlossen, so zu enden.“ stammelte Morna, die voller Abscheu über diese Tat, mitleidig auf die Überreste des einstigen Herrschers blickte.

„Oh doch mein Kind,“ brachte Elze mit fester Stimme hervor: „Oh doch, glaub mir, der hier schon. Der hätte noch viel schlimmeres verdient. Abgesehen davon, er hatte es doch gut hier. Schau dich doch nur um, und denk mal an deine Zelle zurück!“

Morna wandte sich von dem Skelett ab: „Und wie geht es jetzt weiter?“

Elze entledigte sich des Jutebeutels, den sie die ganze Zeit über ihrer Schulter trug. Sie hockte sich auf den Boden und kramte verschiedene Pergamentrollen hervor, die sie auf dem Boden ausbreitete. Morna kniete sich neben sie, um einen Blick auf die Aufzeichnungen zu werfen. Sie konnte mit all den Kurven, Linien und Symbolen jedoch nichts anfangen.

„Hat das etwas mit menschlicher Magie zu tun?“ Platzte es plötzlich aus ihr heraus.

„Menschliche Magie? Kind! Das sind uralte Pläne des Palastes, besser gesagt des geheimen Palastes.“

„Des geheimen Palastes?“

„Die gesamte Palastanlage,“ begann Elze ihr zu erklären: „Ist von Geheimgängen, Tunneln und Fluchtwegen nur so durchzogen. Bei genauer Kenntnis aller Ein und Ausgänge sowie der geheimen Wege, ist es möglich nahezu von jedem Ort des Palastes ungesehen zu einem anderen zu gelangen. Und glücklicherweise führt uns einer dieser Geheimgänge hier wieder heraus. In dieser Zelle muss es einen versteckten Ausgang geben.“ Daraufhin wandte sich Elze wieder den Plänen zu. Immer wieder verschob sie die Pergamente wie bei einem Puzzle, stöhnte entnervt auf oder schüttelte leicht ihren Kopf.

„Heureka!“ Platzte es auf einmal aus ihr heraus: „Ich hab’s! Ich hab’s!“

Ohne besondere Eile rollte die Dienerin die Pergamente zusammen und verstaute sie wieder in ihrem Jutebeutel. Dann stand sie auf und ging schnurstracks zu der Wand, gegenüber dem Prunkbett und zählte die Gesamtzahl ihrer Schritte entlang dieser Wand ab. Kurz grübelte sie über etwas und schritt die Wand erneut ab, wobei sie ihre Schritte erneut zählte. Beim siebenten Schritt blieb sie diesmal stehen und untersuchte die Mauer. Als nächstes versuchte sie einen bestimmten Stein tiefer ins Mauerwerk zu drücken, doch nichts tat sich. Einem Wink der Dienerin gehorchend, schritt Morna zu ihr, woraufhin sie zu zweit versuchten den Stein weiter in die Mauer zu drücken. Gerade als Morna kurz davor war aufzugeben, gab der Stein nach und ließ sich eindrücken. Nach einem kurzen Augenblick setzte sich ein Jahrhunderte alter Mechanismus, mit einem lauten knarren und dröhnen in Gang. Ein Teil der Wand, gerade groß genug um eine Person durchzulassen glitt zurück und ließ dabei Unmengen von Staub und Dreck empor wirbeln. Nachdem die Schmutzwolke sich etwas gelegt hatte, hielt Elze ihre Fackel in den nachtschwarzen Durchgang. Erleichtert stellte Morna fest, dass eine schmale Treppe nach oben führte. „Elze?“ Fragte sie: „Du hast mir doch erklärt, dass der gesamte Palast mit solchen Geheimgängen durchzogen ist!“

Die alte Dienerin schaute Morna gespannt an. Ihr entging nicht die plötzliche Anspannung in Mornas Stimme und wartete ab, worauf sie hinaus wollte.

„Wer weiß noch alles davon?“ Fuhr sie fort: „Doch mit Sicherheit Godvere – oder?“

„Nein!“ Antwortete Elze: „Das glaube ich nicht! Das wahre Ausmaß dieser Gänge kennt niemand. Nicht einmal der Herrscher. Er weiß gewiss von dem einen oder anderen Fluchtweg, aber mehr auch nicht. Meine Familie hat Jahrhunderte gebraucht um all diese Karten zu erstellen.“ Dabei zeigte sie auf die Pergamentrollen in ihrem Jutebeutel.

„Was aber...“ führte Morna weiter aus: „Wenn es doch jemanden gibt, der davon Kenntnis hat, deine Familie es nur nicht ahnt?“

Elze dachte über Mornas Worte nach: „Ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Ich habe zwar seit längerem den Verdacht, dass Lord Reichel über einige Gänge Bescheid wissen könnte, aber auch er wird das gesamte Ausmaß nicht kennen.“

„Lord Reichel, der Minister?“ Morna mochte diesen Mann, den der Herrscher immer wieder mit außenpolitischen Aufgaben versah, überhaupt nicht. Der Mann hatte das verschlagene Gesicht eines Geiers. Immer wieder erschrak sie, wenn sein hagerer Körper lautlos und völlig unerwartet hinter einer der Säulen im Palast auftauchte. Sie verabscheute das freche Grinsen, das stets die schmalen Lippen seines bleichen Gesichts zierte, sobald er sich verschwörerisch mit anderen Politikern in irgendwelche dunklen Ecken zurückzog. Auch die unheimlichen Gesandten aus den fernen Ländereien des Ostens und ihrer Hauptstadt Kushtur, mit denen er sich ausgezeichnet zu verstehen schien, jagten ihr stets einen Schauer über den Rücken.

„Du sagtest mir vorhin,“ nahm Morna ihren Gedankengang wieder auf: „Die Wachen munkeln, das die Entführung der Kinder mit Magie zu tun haben muss.“

„Nun ja,“ erwiderte Elze:

„Die beiden sind immerhin aus einem geschlossenen Raum, im am besten bewachten Flügel des Palastes verschwunden. Da ist es...“ Elze sprach den Satz nicht weiter aus, als ihr schlagartig klar wurde, worauf Morna hinaus wollte.

„Das bedeutet,“ fuhr Morna beinahe erleichtert fort: „, Dass das Verschwinden der beiden absolut nichts mit Magie zu tun haben muss. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass wir es mit ganz gewöhnlichen Missetätern zu tun haben.“

„Na als ganz so gewöhnlich würde ich sie nicht abtun.“ Antwortete Elze: „Wenn sie tatsächlich von den geheimen Gängen wissen und es sich obendrein trauen, den Prinzen und die Prinzessin zu entführen.“

Bei Elzes Worten wurde Morna urplötzlich wieder von der ganzen Trauer und Wut übermannt, so dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Elze legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

„Ich bin davon überzeugt,“ fuhr Morna fort: „Das dieser Lord Reichel hinter der Entführung steckt.“

„Wie kommt ihr darauf? Reichel ist ein Feigling. Der Herrscher würde ihm die Haut in Streifen abziehen, sollte er tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben. Das traut sich Reichel nicht!“

„Du vermutest doch selbst, dass er von einigen Gängen Bescheid wissen könnte.“

„Und?“

„Wenn dem Herrscher etwas zustößt und es keine Erben gibt – wer profitiert dann am meisten davon? Soweit ich weiß besitzt Godvere keine weiteren Familienmitglieder mehr.“

Mornas einfache aber direkte Art zu denken faszinierte und ängstigte Elze gleichermaßen: „Was hast du jetzt vor?“ Fragte die ältere Frau und befürchtete fast die Antwort schon zu kennen. Morna legte beide Hände auf ihre Schultern und sah sie flehentlich an:

„Kannst du mich durch diese geheimen Gänge bis zu den Gemächern des Ministers führen?“

Elze's Befürchtungen bewahrheiteten sich wobei sie ihre Augen verdrehte:

„Ihr wollt, dass ich euch zu den Gemächern des zweit mächtigsten Mannes des ganzen Reiches bringe? Und was dann?“

Mornas Stimme wurde zunehmend verzweifelter: „Elze, bitte. Ich muss irgendetwas unternehmen. Ich bin davon überzeugt, dass Lord Reichel hinter alledem steckt. Nenne es ein Bauchgefühl, oder was auch immer.“

Elze stöhnte laut auf und gab sich geschlagen: „Ich werde euch helfen mein Kind. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ihr die Kleinen wieder in euren Armen halten könnt – aber wir werden mit Bedacht vorgehen.“

Morna wollte vor Freude gerade laut aufschreien als sie Elze einen fragenden Blick zuwarf: „Mit Bedacht?“

„Als erstes werdet ihr mir in meine Gemächer folgen.“ Stellte Elze in einem Befehlston klar, der keinerlei Widerrede duldete: „Ihr braucht dringend etwas zu essen und bei den Göttern... neue Kleidung benötigt ihr auch. Wir werden mit absoluter Sicherheit den einen oder anderen Palastflur durchschreiten müssen, um von Gang zu Gang zu gelangen. In eurem jetzigen Aufzug kommen wir in den Fluren keine zehn Schritte weit. Morna war sofort einverstanden und schloss Elze glücklich in die Arme. Anschließend folgte sie ihr in den schmalen Gang, der sie von der gruseligen Zelle endlich nach oben führen sollte. Elze verschloss die Geheimtür und wollte gerade die ersten Stufen nach oben gehen, als Morna sie festhielt:

„Hätten wir nicht noch die Fackeln in Dormus' Zelle löschen sollen?“

„Wieso denn das?“ Erhielt sie belustigt zur Antwort: „Sollten dort tatsächlich irgendwelche Wärter auftauchen, um nach euch zu suchen, wird man bestimmt glauben, dass Dormus die Fackeln höchstpersönlich entflammt hat.“

Die Vorstellung amüsierte Elze ungemein. Es dauerte eine ganze Weile bis sie mit dem leisen kichern aufhörte, während sie die endlos scheinenden Stufen nach oben erklommen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, unzähligen Gängen und Abzweigungen, waren die beiden Frauen soweit emporgestiegen, dass sie das gewaltige Areal der Kerkeranlagen endgültig hinter sich gelassen hatten. Die Atemluft wurde zunehmend besser und selbst die Dunkelheit wurde erträglicher, da immer wieder Tageslicht durch die zahlreichen Risse und Spalten im Mauerwerk fielen. Inzwischen konnten sie sogar Stimmen der Dienerschaft oder von wachhabenden Soldaten vernehmen. Es war unübersehbar, dass die alte Dienerin sich immer besser im endlosen Geheimlabyrinth zurechtfand je weiter sie die Verließe hinter sich zurückließen. Elze wurde stetig selbstsicherer was das Aufspüren der richtigen Geheimgänge anbelangte. Zielsicher marschierte sie nun in Richtung des Bediensteten Trakts. An einer bestimmten Schiebetür angekommen, steckte Elze die Fackel in die Halterung, die sich gegenüber der Tür befand und erstickte die Flamme mit einer Löschglocke, die auf dem Boden lag. Dann öffnete sie die Schiebetür und bedeutete Morna leise durch die Wandöffnung zu treten. Die beiden befanden sich nun im großen Wandschrank, der sich in den Gemächern der Dienerin befand.

„Werden die Soldaten auf der Suche nach den Zwillingen nicht auch hierherkommen?“ fragte Morna ängstlich.

„Das waren sie schon, bevor ich zu euch ins Verließ kam,“ antwortete Elze: „Den Bediensteten Trakt haben sie sich als erstes vorgenommen.“

Elze öffnete die Schranktür von innen, so dass die beiden Frauen das recht geräumige Zimmer betreten konnten. Es war helllichter Tag. Sofort legte Morna eine Hand schützend vor ihre Augen, die sich ans Sonnenlicht erst wieder gewöhnen mussten.

„Es wird schnell besser werden Liebes.“ Brachte Elze hervor. Aber wenn wir bei dem jetzigen Trubel die Fensterläden schließen, stehen die Soldaten gewiss sofort wieder vor der Tür.“ Elze schob einen Stuhl in eine schwach vom Tageslicht durchflutete Ecke des Zimmers und stellte ihn so, dass die Lehne zum hereinfallenden Licht stand und bat die junge Frau sich zu setzen. Als nächstes brachte sie ihr alles zu essen, was ihr kleines Küchenschränkchen hergab. Frisches Brot, Käse, Schinken und sogar einige Trockenfrüchte. Völlig ausgehungert nahm Morna das Essen dankbar an und ließ nichts davon übrig, während Elze ihr einen Kräutertee zubereitete. Dankbar lächelte die Halbgöttin, als die Dienerin ihr den Tee reichte. Nach dem ersten Schluck begann sie bereits zu gähnen und Elze nahm ihr den Becher aus der Hand. Behutsam half sie der jungen Frau vom Stuhl und legte sie auf ihre eigene Schlafstätte. Zärtlich strich sie der Halbgöttin die schmutzigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und wusch ihr den Dreck mit einem feuchten Tuch aus dem Gesicht. Morna bekam von alledem nichts mehr mit.

„Komm erst einmal zu Kräften mein Kind,“ flüsterte Elze der schlafenden Halbgöttin zu: „Denn in diesem Zustand bist du deinen Kindern absolut keine Hilfe.“

Andran und Sanara

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