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2.3. Gulinor
ОглавлениеObwohl sie sich wahnsinnig schnell fortbewegten und sich nur wenig Schlaf gönnten, benötigten Andran und Manith zwei volle Tage um die ersten Ausläufer des Drom Gebirges zu erreichen. Einen weiteren brauchten sie um die großen abgestorbenen Schwarzkiefer zu finden, die laut der Kriegerinnen einen Wegpunkt markierte, der zu Murlogs Höhle führte.
„Von hier aus kann es nicht mehr weit sein!“ erklärte Manith.
Die Bäume des Waldes wurden immer lichter und wichen beständig unzähligen Bergsträuchern. Die beiden kletterten seit einer ganzen Weile über Unmengen von Geröll als Rotauge plötzlich stehen blieb, den Kopf leicht senkte, und bedrohlich zu knurren anfing. Manith nahm sofort einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn in die Sehne ihres Bogens. Andran ging neben Rotauge in die Knie und versuchte zu erkennen, was die Wölfin so aufregte. Dann entdeckte er frisches Blut. Andran stand auf, ging ein paar Schritte weiter und betrachtete eine Blutlache. Überall befand sich frisches Blut. Wachsam, in alle Richtungen blickend, schlich Manith heran:
„Wahrscheinlich von einem Tier,“ brachte sie leise hervor.
„Das glaube ich nicht!“ Antwortete Andran: „Rotauge würde sich nicht so verhalten, wenn das hier Tierblut wäre! Außerdem liegen hier überall kleine Stofffetzen. Und siehst du die Spuren da vorn? Hier hat ein Kampf stattgefunden.“
Manith blickte sich jetzt noch wachsamer um:
„Wer ist denn so irre und verläuft sich in diese Gegend?“
„Vielleicht jemand der genauso irre ist wie wir!“ antwortete Andran. Manith blickte ihn ungläubig an:
„Du glaubst doch nicht wirklich..., dass noch jemand hinter Murlog her ist?“
„Das finden wir schon noch heraus. Lass uns am besten der Blutspur folgen!“ antwortete Andran, der jetzt ebenfalls seinen Bogen in die Hand nahm und einen Pfeil aus dem Köcher zog. Unter äußerster Anspannung gingen sie weiter. Je länger sie den blutigen Spuren folgten, desto nervöser schien die Wölfin zu werden. Das kräftige Tier fletschte ununterbrochen die Zähne und stieß ein Knurren aus, das immer bedrohlicher klang. Als sie den Eingang einer Höhle erreichten, blieb Rotauge stehen und ihre Nackenhaare richteten sich auf. Vor der Höhle sah es aus wie auf einem Friedhof, bei dem man darauf verzichtete Gräber auszuheben. Soweit sie blickten lagen Unmengen ausgebleichter Knochen, die sich hier und da sogar stapelten. Andran und Manith erkannten sofort, dass es sich nicht nur um tierische, sondern auch um menschliche Überreste handelte. Rotauge schlich bis zum Höhleneingang und weigerte sich weiterzugehen.
Manith verschlug es beinahe die Sprache: „Sie scheint Angst zu haben!“
„Ihr Instinkt rät ihr, die Höhle nicht zu betreten.“ erwiderte Andran und schritt als erster durch den Eingang, der ins Felsmassiv führte. Rotauge knurrte wütend als sie sah wie Andran in der Dunkelheit verschwand. Widerstrebend folgte sie ihm. Manith schloss schnell zu Andran auf. Schulter an Schulter, Schritt für Schritt bewegten sie sich in der Dunkelheit vorwärts und hielten ihre Bögen mit eingelegten Pfeilen schussbereit in den Händen. Der Höhlengang durch den sie sich bewegten, war zumindest breit und hoch genug, so dass sie aufrecht gehen konnten. Doch sie traten immer wieder auf Knochen, die unter ihrem Gewicht zerbrachen. Das Geräusch der berstenden Gebeine hallte von den Wänden wider und ließ die beiden jedes Mal zusammenzucken. Irgendwann erreichten sie schließlich eine Biegung und blieben wie angewurzelt stehen. In weiter Ferne konnten sie den schwachen Schein einer Fackel oder eines kleinen Feuers ausmachen.
„Zumindest haben wir jetzt einen Orientierungspunkt.“ flüsterte Andran: „Wusstest du, dass das Biest Feuer machen kann?“
„Nein!“ Brachte Manith hervor. In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Angst mit. Andran musste sich jedoch eingestehen, dass ihm das Herz ebenfalls bis zum Hals schlug. Rotauge hielt sich unmittelbar hinter den beiden auf. Andran war sich jedoch sicher, dass die Wölfin sich auf alles stürzen würde, dass sie bedrohen würde. Langsam schritten sie weiter. Als sie den Höhlenabschnitt erreichten, aus dem der Schein des Feuers herrührte, stockte beiden der Atem. Eine Fackel steckte zwischen zwei Steinen und etwa fünf, sechs Schritt von ihr entfernt, saß ein blutüberströmter Krieger mit dem Rücken an die Felswand gelehnt. Sein linkes Bein war zwischen zwei Felsen eingeklemmt, so dass er sich nicht fortbewegen konnte. Seine gewaltige Streitaxt lag für ihn unerreichbar ebenfalls einige Schritte entfernt auf dem Boden. Andran schätzte den extrem kräftigen Mann auf vielleicht Mitte Zwanzig. Er hatte langes, strähniges blondes Haar, in das kleine Tierknochen eingeflochten war, sowie einen vollen blonden Bart. Über seinen breiten Schultern hing ein völlig zerrissener Pelz. Die nackten kräftigen Oberarme waren mit Symbolen tätowiert, deren Bedeutung weder Andran, noch Manith kannten. Es war beiden jedoch sofort klar, dass sie es mit einem Barbaren von jenseits des Drom Gebirges zu tun hatten. Der Krieger war bei vollem Bewusstsein und musterte die beiden abfällig. Mit einem Mal bekam er einen Lachanfall, wobei ihm das Blut aus dem Mund lief. Andran und Manith blickten einander fassungslos an, als der Barbar lospolterte:
„Kinder! Zwei Kinder! Bei Borons nacktem Arsch! Kinder!“
„Wer ist Boron?“ flüsterte Andran Manith zu.
„Ich glaube einer ihrer Götter!“ gab sie ihm, ebenfalls flüsternd, zur Antwort.
Schlagartig verstummte der Barbar, als er Rotauge bemerkte. Die riesige Wölfin bewegte sich nach vorne, wobei sie Andran und Manith regelrecht zur Seite schubste. Langsam schlich sie auf den Krieger zu und fixierte ihn mit ihren roten Augen. Der Barbar musst schlucken und starrte ungläubig, regelrecht bestürzt zu Andran. Rotauge senkte ihren Kopf und schnupperte am Gesicht des hünenhaften Kriegers, der keinen Laut mehr hervorbrachte. Dann wandte sich das Tier von ihm ab und setzte sich vor Manith, ließ den Fremden allerdings nicht aus den Augen.
„Wer bei allen Göttern seid ihr?“ brachte er schließlich hervor, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
Andran streichelte zunächst den Kopf der Wölfin, bevor er zwei Schritt auf den Barbaren zu trat und vor ihm in die Hocke ging. Manith richtete sofort ihren Pfeil auf den Fremden.
„Wer seid ihr?“ fragte Andran den Mann mit fester Stimme, ohne auf dessen Frage einzugehen. Der Barbar schaute ihm trotzig in die Augen:
„Ich bin Gulinor, Sohn von Harkan dem Starken!“
Der Name kam Manith irgendwie bekannt vor:
„Dann ist dein Vater der Barbarenkönig, der letzten Winter eines unserer nördlichen Dörfer überfiel!“
Maniths Augen bekamen einen harten Glanz. Sie zielte jetzt genau zwischen Gulinors Augen: „Ihr habt sogar die Alten und die Kinder getötet!“
„Ach,“ begann Gulinor spöttisch: „du gehörst zu diesem Weibervolk!“ abfällig musterte er Andran:
„Und wie passt du in dieses Bild Jüngelchen? Du bist doch ein Jüngelchen – oder etwa nicht?“
Andran legte sachte seine Hand auf Maniths Pfeil und drückte die Waffe vorsichtig herunter:
„Wir sind hier um Murlog zu töten!“ antwortete er dem Barbaren ohne auch nur im Geringsten auf dessen Beleidigung einzugehen. Gulinor glaubte zunächst sich verhört zu haben.
„Ausgerechnet ihr zwei wollt schaffen, was Unzählige unserer stärksten Krieger nicht vollbracht haben?“ erneut musste der Barbar lachen.
„Eigentlich brauchen wir nur seine Reißzähne!“ Brachte Andran in seiner typischen, trockenen Art hervor, mit der er es stets schaffte, anderen die Sprache zu rauben. Gulinor hingegen betrachtete ihn, als ob er einen Schwachsinnigen vor sich hatte:
„Da werdet ihr zwei ihn wohl erst umbringen müssen Junge. Ich glaube kaum, dass der Murlog sich freiwillig von seinen Zähnen trennt!“
Gulinor bemerkte, dass Andran ihn jetzt genau musterte und erwiderte diesen prüfenden Blick. Gulinor hatte in seinem bisherigen Leben viele Feiglinge kennengelernt. Doch dieser Junge war keiner. Der Barbar war beeindruckt und akzeptierte ihn augenblicklich als Krieger:
„Das Biest ist schlau Junge! Es muss mich von schon von weitem gewittert haben und hat mich in die Falle laufen lassen.“
„Ich habe einen Plan!“ brachte Andran entschlossen hervor.
„Solange der beinhaltet, mich aus meiner misslichen Lage hier herauszuholen,“ antwortete ihm Gulinor wobei er auf sein eingeklemmtes Bein zeigte: „kannst du auf mich zählen Bursche.“
„Zuallererst brauchen wir mehr Licht,“ brachte Andran hervor, ohne jedoch weiter auf Gulinors Anliegen einzugehen.
„Bist du von Sinnen?“ warf Manith ein: „Willst du etwa, dass das Biest uns auch noch besser sehen kann?“
„Nein!“ erwiderte Andran aufgeregt: „Ich will, dass wir ihn besser sehen können!“
„Da kann ich dir vielleicht weiterhelfen.“ machte Gulinor ihm plötzlich Mut. Dabei zeigte er auf seinen Rucksack, der unweit der Streitaxt lag:
„Da sind noch vier weitere Fackeln drin!“
Sofort ging Andran zu dem Rucksack, öffnete ihn und holte die Fackeln hervor. Zwei der Fackeln reichte er Manith, die ihren Bogen griffbereit zu Boden legte. Dann entzündete er seine beiden an der schon brennenden Fackel. Manith tat es ihm nach und sie verteilten die Fackeln so, dass der vordere Teil der Höhle perfekt ausgeleuchtet war.
„Hier muss Murlog durch sobald er zurückkommt.“ erklärte er Manith: „Bei dem Licht können unsere Pfeile ihn nicht verfehlen.“
„Und was wird mit mir?“ meldete sich Gulinor erbost zu Wort: „Glaubt ihr ernsthaft, dass zwei lächerliche Pfeile den Murlog aufhalten? Eins kann ich euch versprechen, zu einem zweiten Schuss werdet ihr nicht kommen.“
„Wir werden auf seine Augen zielen!“ Antwortete Andran: „Das ist einfach!“
„Einfach! Das ist also einfach?“
„Für uns schon!“ stellte Manith fest wobei sie Gulinor wieder mit einem finsteren Blick bedachte. Andran schaute sich unterdessen in der Höhle um, bis er einen kräftigen, langen Stock fand, der glatt als Knüppel durchging.
„Bei der ganzen Unternehmung wäre es jedoch hilfreich, wenn du Murlog mit deiner Axt bearbeiten könntest, während wir unsere Salven auf ihn niederlassen, sobald er blind ist.“ erklärte Andran dem Barbaren den weiteren Verlauf seines Planes. Dabei schritt er auf Gulinor zu und setzte den Knüppel zwischen den kleineren Felsbrocken, der Gulinor gefangen hielt, und einem größeren Stein an.
„Andran!“ brachte Manith aufgeregt hervor: „Wir können ihm nicht trauen!“
Gulinor schaute zu Manith und warf ihr jetzt seinerseits einen wütenden Blick zu:
„Ich will dir mal was sagen Kleines, man kann mir jede Menge übler Dinge nachsagen. Die meisten stimmen sogar. Aber ich habe mich noch nie an Schwächeren – und schon gar nicht an Kinder vergriffen. Ich war vergangenen Winter bei dem Überfall auf das Dorf, von dem du gesprochen hast, überhaupt nicht dabei. Es gibt nicht wenige in meinem Clan, die mich deswegen für einen Feigling halten.“
Andran hielt für einen Moment in seinen Bemühungen inne, den Felsen der Gulinor einklemmte, zur Seite zu hebeln:
„Bist du deswegen alleine übers Gebirge gezogen? Um Murlog zu töten und deinem Clan zu beweisen, dass du kein Feigling bist?“
Gulinor brummte zustimmend: „Und was ist deine Entschuldigung? Was treibt euch hierher?“
Andran platzierte erneut den kräftigen Stock zwischen dem Gestein und musste seinerseits lachen, dabei fiel die Anspannung, seit sie die Höhle betreten hatten etwas von ihm ab.
„Weißt du Gulinor, das ist da wo ich herkomme so ein Jüngelchen Ritual!“
Andran versuchte nun mit aller Kraft den Felsbrocken anzuheben, doch der Stein bewegte sich kaum:
„Du kannst auch gern versuchen etwas mitzuhelfen!“ Gulinor nickte, setzte sich unter sichtbaren Schmerzen auf und umschlang der Fels mit seinen kräftigen Armen.
„Jetzt!“ rief Andran und versuchte erneut mit aller Kraft den Felsen anzuheben. Gulinors kräftige Muskeln spannten sich an, so dass die Sehnen hervortraten, als er sich laut stöhnend bemühte, den Felsen ebenfalls zu bewegen. Sofort sprang Manith herbei und half Andran, indem sie mit ihm zusammen den Knüppel nach unten zu drücken versuchte. Mit einem Mal bewegte sich der Fels ein gutes Stück zur Seite und Gulinor schaffte es das Bein schnell herauszuziehen, bevor der Felsbrocken in seine ursprüngliche Lage zurück rollte. Bevor irgendeiner der drei etwas sagen konnte, hörten sie ein markerschütterndes Gebrüll, das noch weiter weg schien, aber näherkam.
„Murlog!“ kam es donnernd von Gulinors Lippen. Augenblicklich hasteten Andran und Manith zu ihren Bögen. Gulinor richtete sich unter großen Schmerzen auf und griff sofort nach seiner Axt, die er mit beiden Fäusten fest umschlungen hielt. Langsam ging er vorwärts und platzierte sich seitlich vom Eingang.
„Sobald Murlog den Felsen dort vorn erreicht,“ wandte sich Andran an Manith: „Schießen wir sofort auf seine Augen. Dabei nahm er mehrere Pfeile aus seinem Köcher und steckte sie vor sich in den Boden.
„Soll ich auf das linke oder das rechte Auge zielen?“ fragte Manith. Sie stand links von Andran.
Andran sah sie verständnislos an. „Wie wohl, so wie immer natürlich!“
Bei Andrans letzten Worten blickte Gulinor ungläubig zu den beiden herüber, die beinahe Schulter an Schulter mit ihren gespannten Bögen nebeneinanderstanden.
„Macht ihr zwei so etwas öfter?“
Für den Bruchteil einer Sekunde musste Manith schmunzeln, dann gefror ihr beinahe das Blut in den Adern. Ein riesiger Schatten warf sich über den erleuchteten Eingang. In der nächsten Sekunde erschien der Murlog blieb stehen, warf den Kopf kurz nach hinten und stieß ein schauderhaftes Gebrüll aus. Das Ungeheuer hatte nichts Menschliches an sich. Es bewegte sich auf zwei kräftigen gekrümmten Beinen, die in Hufen endeten. Der Oberkörper war dermaßen kräftig und muskulös, dass Gulinor dagegen eher schwächlich wirkte. Gleiches galt auch für die Arme des Murlogs. Anstelle von Händen besaß das Biest gewaltige Pranken. Am furchterregendsten war jedoch sein Kopf, der erst richtig erkennbar wurde, als er ihn wieder nach vorne neigte. Er ähnelte am ehesten dem eines Schwarzebers, aus dessen Maul, rechts und links enorme, messerscharfe Hauer hervortraten. Die Reißer, die sie benötigten.
„Jetzt!“ brüllte Andran, und ihre Pfeile schossen gleichzeitig von den Sehnen ihrer Bögen auf den Kopf des Ungeheuers zu. Der Murlog schrie wie ein Wahnsinniger vor Schmerz und Wut, als sich die Pfeile in seine Augen bohrten und alles um ihn herum in tiefe Dunkelheit versank. Im nächsten Augenblick stürzte sich Gulinor, mit dem Kriegsschrei seines Clans auf Murlog. Dabei schlug er mit aller Kraft zu und trieb seine Axt tief in die Brust des Ungeheuers. Mit einem Hieb seiner Pranken gelang es Murlog jedoch, den ohnehin stark geschwächten Barbaren zu Boden zu werfen, als zwei weitere Pfeile ihr Ziel fanden und sich in seine Stirn bohrten. Als nächstes schnellte Rotauge hervor, sprang am Murlog hoch und biss sich in seiner Kehle fest. Dabei schüttelte die Wölfin wie von Sinnen mit ihrem Kopf als wollte sie das Biest regelrecht zerreißen. Aus Angst Rotauge zu treffen, wagte weder Andran noch Manith, einen weiteren Pfeil abzuschießen. Murlog begann mit seinen Pranken auf die Wölfin einzuschlagen, als Gulinor wieder zur Stelle war. Mit einem gewaltigen Hieb durchtrennte er eines der Beine des Ungeheuers. Der Murlog stürzte zu Boden, wobei er Rotauge mit sich riss. Gulinor schlug dem Vieh, mit einer gewaltigen Kraftanstrengung den rechten Arm ab. Rotauge ließ die ganze Zeit über nicht von der Kehle des Biestes ab. Die Schläge, die die Wölfin einstecken musste, schienen sie rasend zu machen. Ungläubig starrten Andran, Manith und Gulinor auf Rotauge, während sie die Kehle Murlogs zerriss, obwohl dieser schon tot war. Irgendwann löste sich das Tier von dem Kadaver und schleppte sich zu Andran. Ihr schneeweißes Fell war über und über mit Blut besudelt. Es war unmöglich zu sagen, welches davon ihres war. Andran sprang sofort auf die Wölfin zu, was ihm eine Ehrfurcht gebietende Augenbrauen hochziehen von Gulinor einbrachte. Andran untersuchte das Tier so gut es ging und stellte erleichtert fest, dass es keine schweren Verletzungen davongetragen hatte, jedoch unter einer schlimmen Prellung an der linken Seite litt.
„Bei Borons nacktem Arsch!“ brüllte Gulinor: „Das war ein Kampf über den man Lieder singen wird.“
Irgendwie kam es Manith so vor, als ob der Barbar plötzlich einen selten dämlichen Gesichtsausdruck annahm. Dann glitt ihm die Axt aus den Händen und er kippte vornüber zu Boden.
***
Als Gulinor wieder erwachte, dröhnte ihm fürchterlich der Schädel. Er lag mit nacktem Oberkörper auf einer Decke und war über und über mit Blättern, Kräutern sowie einer übelriechenden Paste bedeckt. Direkt neben ihm loderte ein großes Lagerfeuer, das eine angenehme Wärme spendete. Nahe dem Feuer befand sich auch die Wölfin, die auf einem Lager aus Gräsern lag und friedlich schlief. Allmählich dämmerte es ihm, dass er sich noch immer in Murlogs Höhle befand und bemerkte den stechenden Geruch, der von der Leiche des Ungeheuers herrührte. Dann sah er Manith.
„Was, was ist passiert?“ stöhnte Gulinor.
„Du bist ohnmächtig geworden!“ antwortete sie ihm: „Du hast einfach zu viel Blut verloren. Ich habe deine Wunden versorgt während Andran sich um Rotauge kümmerte. Sie braucht jetzt dringend Schlaf.“
Gulinor versuchte sich aufzurichten, um sich in der Höhle umzuschauen. Doch ein starkes Schwindelgefühl machte das Vorhaben sofort zunichte und er legte sich wieder zurück.
„Wo steckt dieser Teufelskerl eigentlich?“
„Andran holt frisches Wasser aus einem kleinen Gebirgsbach, den er gestern entdeckt hat.“
Gulinor neigte seinen Kopf zur Seite, so dass er Manith ins Gesicht blicken konnte.
„Was?“ fuhr sie ihn an.
„Ihr beiden habt mir das Leben gerettet. Gemeinsam haben wir gegen den Murlog gekämpft und gesiegt. So etwas verbindet, zumindest bei meinem Volk. Es tut mir aufrichtig leid, was damals in dem Dorf geschehen ist.“
Manith blickte ihn erstaunt an. Der Tonfall in dem er sprach bewies ihr, dass er es tatsächlich so meinte. Sie blickte auf den verletzten Barbaren herab und verspürte plötzlich nicht mehr die Abneigung und den Ekel, den sie ihm anfangs entgegenbrachte.
„Wie geht es eurer Wölfin?“ erkundigte er sich als nächstes.
„Die Prellung wird besser!“ antwortete sie: „Andran kann hervorragend mit Tieren umgehen.“
„Das ist gut!“ murmelte Gulinor. Er aß etwas von dem Wild, das Manith erlegt und zubereitet hatte, dann schlief er wieder ein.
Nach zwei weiteren Tagen ging es Gulinor wesentlich besser, und auch Rotauge begann sich gut zu erholen. Es fiel Manith schwer, es sich einzugestehen, aber sie mochte den Barbaren. Der anstehende Abschied würde ihr schwerfallen. Sie wusste, dass es Andran ebenso erging.
Nach einem weiteren Tag machten sie sich reisefertig und verließen die Höhle bei Tagesanbruch. Gulinor hielt den abgeschlagenen Kopf Murlogs hoch und betrachtete ihn im frühen Tageslicht. Die großen Hauer hatte er zuvor aus dem Kiefer herausgebrochen und je einen Andran und Manith gegeben.
„Irgendwie sieht er ohne diese Dinger gar nicht mehr so furchterregend aus.“ brummte er enttäuscht: „Hoffentlich denkt der Clan nicht, ich hätte eine gewöhnliche Wildsau abgeschlachtet!“
Manith musste unwillkürlich kichern, während Andran den riesigen Schädel betrachtete:
„Ich denke, das wird schon gehen. Der reicht bestimmt noch für ein paar lustige Lieder!“
Daraufhin legte Gulinor den Schädel zu Boden und fummelte umständlich an seinem bulligen Nacken herum, bis er sich das Lederband über den Kopf zog, an dem zwei Krallen eines Schneelöwen befestigt waren. Er riss das Band entzwei und reichte jeden von ihnen eine der Krallen, in denen feine Runen eingeritzt waren. Dann legte er einen ernsten Gesichtsausdruck zu Tage:
„Wenn einer von euch beiden jemals in Not geraten sollte, dann kommt zu mir. Niemand in meinem Land wird euch irgendein Leid zufügen, wenn ihr diese Krallen bei euch tragt. Ich werde immer für euch da sein und euch helfen so gut ich es kann.“
Andran genau wie Manith, waren von dem Geschenk zutiefst beeindruckt – nicht ahnend, wie sehr sie Gulinors Hilfe eines Tages brauchen würden.
„Wirst du den gesamten Pass des Drom Gebirges jetzt zu Fuß durchqueren?“ fragte Manith.
„Mir wird nichts anderes übrigbleiben.“ brummte Gulinor: „Ich hatte zwar zwei Pferde, doch die sind sofort abgehauen, als sie den Murlog witterten. Manith brauchte Andran nur kurz anzuschauen und ihm war sofort klar, wie er ihrem neuen Freund helfen konnte.
„Ich hoffe, ich schaffe es!“ brachte Andran hervor: „Ich habe erst vor kurzem herausgefunden wie ich es hinbekomme.“
„Schaffen? Was schaffen?“ fragte Gulinor verwundert.
Andran ging ein paar Meter zur Seite, schloss die Augen und begann sich zu konzentrieren.
„Was tut der denn da?“
„Pssst!“ antwortete Manith dem Barbaren: „Warte einfach ab!“
Andran spürte seinen eigenen Geist, spürte jedoch auch, dass er sich noch stärker konzentrieren musste. Dann gelang es ihm. Ein Teil seines Geistes verließ seinen Körper und schoss schneller als der Wind über die weite Landschaft. Erst ein Fuchs, dann ein Braunellen Pärchen das Nestmaterial suchte, verschiedene kleine Nager, sogar ein Braunbär... dann hatte er sie. Gulinors Pferde befanden sich nicht einmal weit entfernt und grasten friedlich. Er tauchte kurz mit seinem Geist in den der Tiere ein, gab ihnen den Befehl und zog sich sofort wieder in seinen eigenen Körper zurück. Andran riss die Augen auf und wankte für einen kurzen Moment. Dann drehte er sich zu Manith und Gulinor herum. Dabei lächelte er leicht.
„Was? Was machst du da Junge?“ erkundigte sich Gulinor, als sie von weitem schon den Hufschlag hörten, der sich rasch näherte.
„Ich sagte es dir doch schon in der Höhle Gulinor, Andran kann gut mit Tieren!“
Der kräftige Barbar war sprachlos. Es dauerte nicht lange und Gulinor hatte seine Pferde zurück. Allen war klar, dass jetzt der Moment für den Abschied gekommen war. Andran und Gulinor verabschiedeten sich mit einem kräftigen Händedruck, wobei Gulinor seine andere Hand anerkennend auf Andrans Schulter legte. Ihm fiel dabei auf, dass Andran für einen Knaben schon recht ordentlich zugreifen konnte. Dann wandte sich Gulinor Manith zu.
„Mir ist ja bewusst, dass ihr Amazonen da ein wenig eigenartig seid, aber bei Borons nacktem Arsch, das ist mir jetzt völlig gleich.“
Bevor Manith auch nur ansatzweise protestieren konnte, packte der Hüne sie oberhalb der Hüften, hob sie mühelos empor und drückte ihr links und rechts einen Kuss auf die Wangen. Andran freute sich diebisch über Maniths perplexen Gesichtsausdruck.
Dann setzte sich Gulinor auf sein Pferd und trabte mit dem Zweitpferd im Schlepp davon. Dabei drehte er sich immer wieder um und winkte ihnen zu, bis er außer Sichtweite war. Manith hielt ihre Löwenkralle in den Händen und drehte sie permanent mit ihren Fingern in alle Richtungen:
„Ich kann es ja selbst nicht glauben!“ brachte sie hervor: „Aber ich denke, ich werde ihn vermissen. Andran blickte sie an, wobei sich seine Mundwinkel leicht spitzbübisch verzogen:
„Ich vermute, jetzt haben wir ein richtiges Problem?“
Manith schaute fragend zu ihm herüber.
„Das wir die Prüfung gemeinsam gemeistert haben, wird uns deine Mutter schon irgendwie verzeihen. Aber dass du einen Barbaren Prinzen heiraten willst... das wird übel.“
„Was?“ Manith riss ihre Augen weit auf, rannte auf Andran zu und versuchte ihm in den Hintern zu treten. Dabei fielen sie sich in die Arme und begannen schallend zu lachen. So unbeschwert fröhlich waren sie seit dem Tag auf dem Balken nicht mehr. Gemeinsam mit Rotauge traten sie den Heimweg an und erreichten bald wieder die Ausläufer des Schwarzen Waldes.
***
Um die Wölfin zu schonen, die noch immer an ihrer schweren Prellung litt, legten Andran und Manith kein schnelles Tempo vor. Mehrmals am Tag machten sie längere Pausen bei denen sich Rotauge hinlegte und schlief. Während sie Rast machten, werkelte Andran beständig mit dem Messer an seinem Köcher herum. Der Köcher war mit langen dünnen Lederschnüren verziert, die sich durch das Leder zogen. Endlich gelang es ihm, zwei der Schnüre, ohne sie zu beschädigen herauszuziehen. Er befestigte an jeder Schnur, eine der Löwenkrallen, die sie von Gulinor erhalten hatten. Dann hängte er Maniths Kralle um ihren Hals, bevor er sich seine umlegte. Gedankenverloren hielt die junge Amazone ihre Kralle mit der linken Hand fest umschlossen:
„Glaubst Du, dass wir jemals Gulinors Angebot annehmen werden?“ Fragte sie: „Das wir eines Tages über den Pass durchs Drom Gebirge bis ins Land der Barbaren ziehen und Gulinor um Hilfe bitten?“
Andran zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht Manith!“ Sein Gesicht bekam einen ernsten Ausdruck: „Aber es ist ein gutes Gefühl, da draußen einen Freund zu haben!“
„Wie war es als du Gulinors Pferde gesucht hast. Es kam mir so vor, als ob es dir immer einfacher fällt, einen Teil deines Geistes loszulassen um in denen der Tiere einzufahren!“
„Die Kopfschmerzen sind inzwischen kaum noch spürbar,“ antwortete ihr Andran: „Ich kann mich neuerdings immer schneller in den Geist der Tiere versetzen. Nur bei einigen ist es noch sehr schwer.“
„Du meinst Rotauge?“
Andran lächelte gequält, bevor er antwortete: „Nein, Rotauge meine ich nicht. Sie ist etwas ganz Besonderes. Ich verstehe es selber nicht, aber Rotauge ist das einzige Tier, bei dem mir das noch nie gelungen ist.“
„Wann wirst du es den anderen erzählen? Ich meine, meiner Mutter, Zara oder überhaupt unseren Schwestern.“
„Kannst du mir versprechen, dass sie es alle gut aufnehmen? Ich habe es bisher nicht einmal Elze anvertraut. Nur du weißt davon Manith. Bitte lass es uns zunächst dabei bewenden.“
Manith musterte ihn mit einem sorgenvollen Blick:
„Du gehörst zu uns Andran. Zu unserem Stamm. Ich werde niemandem auch nur ein einziges Wort von deinem Geheimnis verraten. Aber ich finde, du solltest unseren Schwestern mehr Vertrauen entgegenbringen.“
Manith bemerkte, wie sehr Andran das Thema bedrückte. Er musste von selbst darauf kommen, dass der Stamm ihn nicht für die wunderbare Fähigkeit, mit den Tieren kommunizieren zu können, verurteilen würde. Aber es konnte ihrer Meinung nach nicht schaden, ihn ab und an in die richtige Richtung zu schubsen.
„Komm jetzt!“ sagte sie, erhob sich und reichte ihm die Hand: „Rotauge ist wieder aufgewacht, lass uns weitergehen.“
Sie benötigten für den Rückweg erheblich länger, als für ihre Reise hin zu Murlogs Höhle. Doch die Umgebung des Schwarzen Waldes schien der Wölfin gut zu tun. Bald konnten sie mit dem Tier sogar wieder längere Strecken schneller laufen. Am späten Nachmittag, des achten Tages, nachdem sie sich von Gulinor getrennt hatten, erreichten sie endlich ihr Dorf. Die wachsamen Augen der Amazonen auf den Wachtürmen entdeckten sie sofort. Sie brauchten einen kurzen Augenblick um zu realisieren, dass Andran, Manith und die Wölfin tatsächlich lebend zurückkehrten. Als Andran nach einer Woche von seiner Prüfung nicht zurückkehrte und auch von Rotauge jede Spur fehlte, schickte Rowena sofort Späherinnen in den Wald, um nach dem Jungen zu suchen. Schnell wurde den Kundschafterinnen klar, dass Andran Manith gefolgt war.
Eine der beiden Kriegerinnen des rechten Wachturms blies in ein großes Signalhorn, während die andere hinabstieg und zu den Hütten lief, um das Unfassbare zu verkünden. Als Andran, Manith und Rotauge das Tor des Dorfes erreichten, hatten sich schon gut hundert Amazonen am Durchgang des Palisadenzaunes eingefunden. Die Kriegerinnen starrten andächtig auf die gewaltigen Reißzähne des Murlogs, von denen Andran und Manith je einen in die Höhe hielten, als sie das Dorf betraten. Langsam schritten sie auf die große Ratshütte zu, vor der Rowena, Zara, Elze und die Schamanin Aufstellung bezogen. Die meisten Stammesschwestern freuten sich inständig und jubelten. Einige schauten jedoch mit finsteren Gesichtern drein. Andran beschlich sofort das Gefühl, dass die beiden Reißzähne allein, sie nicht vor gewaltigem Ärger bewahren würden. Die Gefühlswelt der Königin war mit Worten unmöglich zu beschreiben. Sie war überglücklich, ihre Tochter aber auch Andran lebend wiederzusehen. Allerdings hatten sie beide mit der Tradition gebrochen. Die Schamanin bebte vor Wut. Zara legte beruhigend ihre Hand auf Elzes Schulter. Die rothaarige Amazone kannte Andran so gut wie kaum jemand anderer. Daher war sie davon überzeugt, dass dem Enkel von Vitras etwas einfallen würde – auch wenn sie nicht wusste wie er das bewerkstelligen wollte. Manith bemerkte inzwischen ebenfalls, dass nicht alle Schwestern jubelten. Besorgt warf sie Andran einen Blick zu. Andran lächelte fröhlich und schaute zum Himmel. Ganz kurz geriet er ins Wanken, fing sich jedoch sofort wieder und ging ganz normal weiter. Dabei hielt er seinen Reißzahn weiterhin hoch. Manith blickte ebenfalls kurz nach oben und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Sofort wandte sie ihren Blick wieder stur nach vorn, in Richtung der Ratshütte, die immer näherkam. Von den Amazonen völlig unbemerkt, versammelten sich hunderte von Raben auf den Baumkronen der großen Bäume rund ums Dorf. Immer mehr von ihnen besetzten allmählich auch die Bäume, die sich innerhalb des Dorfes befanden. Dabei schienen sie auf irgendetwas zu warten. Kurz bevor sie Die Ratshütte erreichten, sprang die Schamanin wütend auf Andran und Manith zu.
„Frevel!“ schrie sie erbost und zeigte dabei mit ihrem Stock, an dem eine Vogelkralle befestigt war auf die beiden Jugendlichen. Ihr Haar wehte durch ihre ruckartigen Bewegungen wirr durch die Luft und ihre Augen hatten einen eigenartigen Glanz. Die Pupillen der Schamanin wirkten unnatürlich groß:
„Ihr habt gegen das heilige Gesetz verstoßen! Ihr habt euer Leben verwirkt!“ Die Stimme der Schamanin steigerte sich dabei in ein regelrechtes Kreischen. Niemand brachte einen Laut hervor. Zara war die erste, die Andrans freches Grinsen bemerkte und atmete beruhigt tief durch. Andran nahm Manith den Reißzahn aus der Hand und hielt jetzt beide Zähne über seinen Kopf:
„Bin ich ein Mitglied dieses Stammes?“ brüllte er mit einem Mal aus Leibeskräften. Dabei drehte er sich im Kreis und fixierte all die Kriegerinnen die um sie herumstanden. Lediglich ein unterschwelliges Gemurmel, sowie das Kopfnicken vieler Kriegerinnen war zu vernehmen. Wieder brüllte er:
„Bin ich ein Mitglied dieses Stammes?“
„Was hat er denn jetzt schon wieder vor?“ Flüsterte die Königin Zara ins Ohr.
Diesmal wurde das Gemurmel lauter, bis die ersten „Ja!“ Stimmen ertönten, die rasch zunahmen. Daraufhin wandte sich Andran der Schamanin zu und zeigte mit seinem Finger auf sie:
„Es ist deine Schuld!“ begann er: „Das jedes Jahr eine unserer mutigsten Schwestern den Tod findet. Du bestehst als einzige auf die Ziehung der Steine und berufst dich dabei auf den Willen der Götter!“
„Es ist der Wille der Götter!“ schrie die Schamanin Andran an und spuckte ihm dabei vor die Füße. Dabei fuchtelte sie mit der abgetrennten Vogelkralle vor seinem Gesicht herum. Andran packte blitzschnell ihren Arm, entriss ihr den Stock an dem die Kralle befestigt war und warf ihn hoch in die Luft. Sofort schoss ein Rabe heran und packte den Stock mit seinem Schnabel, wobei er aufgeregt im Kreis flog und wie von Sinnen krähte. Die Amazonen trauten ihren Augen kaum, als hunderte, tausende dieser Tiere aus den Baumkronen hervorkamen und den Himmel über sie verdunkelten. Mehrere Raben stürzten sich auf die Schamanin und begannen sie zu attackieren. Andran hatte den Tieren befohlen die Frau nicht zu töten. Für einen Augenblick bekam er Angst, dass die Tiere seinen Befehl missachteten. Doch schnell ließen sie wieder von ihr ab und schossen erneut in die Höhe. Andran ging auf die Schamanin zu die wimmernd und schlotternd vor Angst in die Hocke gegangen war. Sie blutete lediglich aus mehreren kleineren Kratzern.
„Ich denke wir waren soeben alle Zeugen von etwas, das den wahren Willen der Götter bekundet.“ sprach Andran so laut, das ihn alle verstehen konnten: „Ich habe euch gefragt ob ich ein Mitglied des Stammes bin, weil nur ein Stammesmitglied das Recht dazu hat, die Worte der Schamanin in Frage zu stellen. Ich bin jederzeit bereit mein Leben für jede von euch zu geben. Aber ich bin nicht bereit, zuzusehen, dass der Irrsinn dieser Prüfungen andauert. Schon gar nicht, wenn er nicht dem Willen der Götter entspricht.“
Die Königin schritt nun auf Andran zu und musterte ihn. Sie versuchte zu verstehen, ob sie wirklich Zeuge einer Machtdemonstration der Götter gewesen war, oder ob Andran, dem sie wirklich so ziemlich alles zutraute, wenn es um Tiere ging, irgendetwas damit zu tun hatte. Als ihr Blick auf Manith fiel, war es ihr urplötzlich egal. Mit lauter und fester Stimme wandte sie sich an ihr Volk:
„Die Prüfung des schwarzen Steins hat in diesem Jahr zum letzten Mal stattgefunden. Wir werden in Zukunft einen anderen Weg finden, eine von uns zur zukünftigen Königin zu bestimmen.“
Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, schickte Andran kraft seines Geistes einen Befehl zu den Raben und die Tiere begannen sich in alle Himmelsrichtungen zu verstreuen. Die Amazonen blickten zum Himmel und begannen zu jubeln. Andran erkannte, dass viele der Schwestern, die zuvor auf der Seite der Schamanin standen und grimmig drein blickten, ebenfalls jubelten. Manith kam ganz dicht an Andran heran, bis ihre Lippen fast seine Ohren berührten:
„Du... du hast doch nicht etwa...?“
Andran grinste sie nur an und gab ihr ihren Reißzahn zurück als Elze auch schon mit Tränen in den Augen vor ihm stand. Zärtlich nahm er die alte Frau in die Arme und drückte sie fest an sich. Rowena zeigte mehr Selbstbeherrschung und bedeutete den anderen ihr in die Ratshütte zu folgen, während sich der Pulk von Amazonen allmählich auflöste. Im Inneren der Hütte, wurden Andran, Elze, und Zara jedoch Zeugen von der Tatsache, dass auch die Königin ihre Gefühle nicht immer im Griff hatte. Weinend schloss sie ihre Tochter in die Arme. Rotauge ging gemächlich zu einem der größeren Felle nahe dem Feuer und legte sich hin. Dabei ließ sie Andran wieder einmal nicht aus den Augen. Zara kam es jedoch so vor, als ob das Tier den Jungen anders als sonst anstarrte.
Nachdem sich alle um das Feuer gesetzt hatten, forderte Rowena Andran und Manith auf, ihnen alle Einzelheiten ihres Abenteuers zu erzählen. Abwechselnd schilderten die beiden von ihren Erlebnissen und betonten immer wieder, dass sie die Prüfung ohne die Hilfe von Gulinor und dem Beistand von Rotauge niemals hätten bestehen können. Rowena erhob sich, ging zu ihrer Tochter, die ihr gegenüber saß und betrachtete die Kralle des Schneelöwen, die Manith um den Hals trug genauer:
„Ihr habt sehr klug gehandelt. Alle beide. Die Barbaren sind seit ewigen Zeiten Feinde unseres Volkes. Vielleicht habt ihr es sogar geschafft, dass sich dieser Zustand ändert, sollte dieser Gulinor eines Tages das Erbe seines Vaters antreten.“
Rowena, Elze und Zara unterhielten sich bis spät in die Nacht mit Manith und Andran. Dabei vermieden sie es über das Ereignis mit den Raben zu sprechen. Elze und Zara waren jedoch davon überzeugt, dass Andran eine Fähigkeit entwickelt hatte, die es ihm ermöglichte, mit den Tieren zu kommunizieren. Dafür wussten beide einfach zu viel über seine Herkunft. Manith kannte sein Geheimnis ohnehin, und Rowena begann allmählich etwas zu ahnen.
Irgendwann wurde Zara müde und beschloss, in ihre eigene Hütte zu gehen um sich schlafen zu legen. Bevor sie die Decken nach draußen aufschlug, wandte sie sich noch einmal den Jugendlichen zu:
„Ihr solltet euch jetzt ebenfalls in eure Hütten begeben. Bei Tagesanbruch will ich euch auf dem Balken sehen!“