Читать книгу TREU - Sven Hornscheidt - Страница 11
ОглавлениеLUKAS – damals
8
Lukas stand vor seiner Haustür. Die Hälfte der Strecke hatte er schieben müssen, da seine Fahrradgabel durch den Sturz zu locker war und bei jeder Kurve anfing zu klackern. Noch einen Sturz hätte er wirklich nicht gebrauchen können.
Durch seine abgeschnittene Jeanshose drangen die ein oder anderen Blutflecken, doch das Zittern, das er noch ein paar Minuten lang verspürt hatte, nachdem er in den Busch gekracht war, war inzwischen verflogen. Die Luft war immer noch sehr drückend, doch die Sonne stand nun etwas tiefer und brannte nicht mehr allzu stark von oben herab.
Er suchte in seiner Hosentasche nach dem Haustürschlüssel, doch er war nicht mehr da. Also klingelte er, in der Hoffnung, jemand wäre zu Hause. Wahrscheinlich lag der Schlüssel irgendwo in den Dornenbüschen. Er würde das nächste Mal einfach nach ihm schauen, wenn er im Wald war. Dort würde ihn niemand finden und Hinweise auf den Besitzer gab es auch nicht. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen.
Von innen hörte er ein Bellen und ein aufgeregtes Tapsen. Bella hopste hinter der Sicherheitstür aus festem Glas umher und wartete darauf, dass ihr jemand die Tür öffnete, damit sie Lukas freudig empfangen konnte. Er konnte sie nur schemenhaft hinter der milchigen Scheibe erkennen, doch Bellas Hundesinne wussten zweifellos, wer vor der Tür stand.
Lukas klopfte, um sie ein bisschen zu provozieren, was sie auch anspornte, ihrem Bellen noch ein leises, freudiges Quieken hinzuzufügen.
Schritte auf der Holztreppe.
Die Tür öffnete sich und Jakob stand in seiner Fleecejogginghose vor ihm. An einem leuchtendgrünen Halsband hielt er Bella fest, die nicht erwarten konnte, ihren großen Menschenbruder zu begrüßen.
„Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du wolltest in den Kraterwald?“
Sein Blick fiel auf die rotglühende Kniescheibe und seine verschrammten Arme und Beine.
„Hab’s mir anders überlegt.“
Bella war noch klein, doch ihre tapsiggroßen Pfoten verrieten, dass noch einiges an Körpermasse zu erwarten war. Sie stemmte sich gegen Jakobs Griff und stand quiekend auf ihren Hinterläufen. Als Lukas die Tür hinter sich schloss, ließ Jakob los und sie stürmte Lukas entgegen.
Es sah fast so aus, als wollte sie an Lukas’ Beinen hochspringen, um ihm durch das Gesicht zu schlecken, doch so energisch sie es auch versuchte, sie konnte sein Gesicht nicht erreichen. Also begnügte sie sich damit, seine verschrammten Beine abzulecken.
„Bella, aus!“
Lukas verzog das Gesicht. Die feuchten Hundeküsse mochte er noch nie, außerdem brannte es noch ein wenig. Und die keimstrotzende Hundezunge wünschte er sich momentan lieber im Maul ihrer kleinen Besitzerin.
„Wieso siehst du so ramponiert aus? Wolltest du auch mal die Brennnesseln ausprobieren?“, fragte Jakob grinsend.
„Es waren keine mehr da.“
Lukas wollte nicht über seinen Sturz reden und markierte den Tapferen.
„Kannst du mir gleich helfen, das Rad zu reparieren?“, fragte er.
Darauf hatte Jakob gewartet. Er hasste Werkzeug, es sei denn, es hatte an seiner Spitze eine tintengetränkte Feder.
„Das schaffst du schon alleine. Was ist denn passiert?“
„Nichts ist passiert, nun nerv nicht rum!“
Jakob schmollte.
„Na gut, ich frage ja schon gar nicht mehr. Halina hat Kuchen gebacken. Ist aber irgendwie etwas pappig geworden. Also, falls du deinen geschundenen Körper stärken willst?“ Wieder grinste er hämisch.
Halina war ihre Tagesmutter, doch immer, wenn sie über sie sprachen, nannten sie sie eigentlich nur „die Tagesmutter“. Sie mochten sie, in ihrem polnischen Mamuschka-Charme sorgte sie sich sehr um „ihre Jungs“, wie sie sie immer nannte. Doch sie übertrieb es auch oft mit ihrer Fürsorge, wenn sie mal wieder auf die Idee kam, Gesellschaftsspiele zu spielen oder bei ihren Schulaufgaben helfen zu wollen, was Jakob und Lukas stets mit fadenscheinigen Ausreden ablehnten. Ohnehin wäre ihre schulische Leistung dadurch zweifellos nicht gerade gefördert worden, wenn sie mit „kurwa!“ und einem Kratzen am Hinterkopf versuchte, auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was in ihren Schulbüchern stand.
Oft machten sie sich einen Spaß daraus, sie mit den kompliziertesten Aufgaben zu malträtieren, auch wenn sie sie schon längst gelöst hatten. Aber immerhin war Halina dann für eine Weile beschäftigt, ehe sie fluchend aufgab und sich tausendmal entschuldigte, weil sie nicht helfen konnte und nicht verstand, wie ein gottloser Lehrer solch unlösbaren Probleme einforderte.
Jakob war sie besonders zugetan. Offenbar hatte sie ein Herz für Underdogs. Jakob genoss seine Rolle, auch wenn er es nicht zugeben wollte.
Bella hatte sich nach diesem Wortwechsel wieder etwas beruhigt. Ihr Blick ging immer zwischen den beiden hin und her und manchmal legte sie ihren Kopf auf die Seite, als würde sie genau zuhören, was sie besprachen. Ihr Blick fiel auf einen gelben Tennisball, der in der Ecke des Eingangsbereiches lag. Sie ließ sich nicht zweimal bitten und tapste in seine Richtung.
Jakob stürmte wieder die Treppe hinauf – „Bin oben!“ – und ließ Lukas, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stehen. Nach unten blickend sah Lukas nun in zwei leuchtende Hundeaugen, unter denen ein versabberter Ball in spitzen Welpenzähnen gefangen war. Er tätschelte ihren Kopf. „Jetzt nicht, Bella“, sagte er leise und zog sich seine Schuhe aus.
Im ersten Stock angekommen, humpelte er auf die Küche zu. Auf dem schwarzen Granitboden war es immer sehr angenehm barfuß zu laufen. Nur die vielen Hundehaare, die sich an den Fußsohlen sammelten, schmälerten dieses haptische Erlebnis. Er nahm sich ein Stück Marmorkuchen von der Arbeitsplatte und begann, über die Ereignisse im Wald zu sinnieren.
Er wunderte sich über sich selbst, weil er es eigentlich gar nicht kannte, sich aus der Fassung bringen zu lassen. Ängstlich war er eigentlich nie.
Bestimmt irgendein Spaziergänger, dachte er, doch ganz abhaken konnte er das Thema noch nicht. Er nahm sich einen Tetrapack Milch aus dem Kühlschrank und trank ein paar Schluck direkt aus der Verpackung. Dann ging er nach oben, wo Jakob mit einer Zeitschrift über Geologie auf der Couch lag und darin schmökerte.
„Was stimmt nur nicht mit dir?“, fragte Lukas seinen Bruder, mit einem ironischen Unterton.
„Meinst du, man findet im Kraterwald noch mehr Fossilien?“, fragte Jakob, der die Sticheleien gekonnt ignorierte. Sein Blick fiel imaginär durch die Zimmerwand auf sein Regal, auf dem schon einige Funde seiner Ausflüge thronten.
„Und was willst du mit dem Kram?“ Lukas verstand nicht, was Jakob an diesen Steinen fand, doch er bekam umgehend ein schlechtes Gewissen. Er sollte etwas netter zu seinem Bruder sein.
„Vielleicht gehen wir mal zusammen in den Steinbruch. Da finden wir bestimmt jede Menge davon.“
Jakobs Augen begannen zu leuchten.
„Kommt man da denn rein?“, fragte er.
„Klar, da ist doch nur ein Zaun.“
„Cool, das machen wir!“
Und wieder war ihr brüderliches Verhältnis im Lot. Manchmal war es wirklich einfach, Jakob für sich zu gewinnen. Obwohl sie fast gleich alt waren, fühlte Lukas sich verantwortlich für ihn und nahm sich selber immer als der Große Bruder wahr, was auch gut funktionierte.
Lukas setzte sich neben ihn auf die Couch und tat so, als würde er interessiert in Jakobs Zeitschrift schauen. Doch all die Bilder und Überschriften langweilten ihn ziemlich schnell.
„Ich glaube, ich geh mal duschen“, sagte er und knetete vorsichtig seine ramponierte Kniescheibe.
Ohne Vorwarnung umarmte Jakob ihn und widmete sich wieder seiner Zeitschrift.