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LUKAS – damals

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Lukas schaute an sich hinab. Seine Füße steckten in dreckigweißen Turnschuhen, die Socken waren viel zu groß für seine kleinen Füße und türmten sich am Knöchel in mehreren Falten auf. Seine nackten Beine waren verschrammt und über dem Knie begann die grob abgeschnittene Jeanshose, die für die warme Jahreszeit von seiner Mutter nicht sehr fachgerecht gekürzt worden war. Ein olivgrünes T-Shirt hing ihm bis weit über den Po und verriet, dass er für seine fünfzehn Jahre relativ klein geraten war. „Du wächst noch“, sagte ihm die Tagesmutter immer zur Beruhigung. Sie sollte recht behalten, doch im Moment wurmte es ihn, dass all seine Freunde gut einen Kopf größer waren als er. Dafür war er von relativ kräftiger Statur, was den Kindern, die ihn wegen seiner Größe hänselten, schnell zum Verhängnis werden konnte. Seine Eltern wurden öfter ins Schulrektorat einbestellt, als es ihnen lieb war. Mal hatten seine Kontrahenten Schürfwunden, mal eine gebrochene Nase oder einfach nur panische Angst, nach der Schule auf ihn zu treffen. Die gute Seite der Medaille war aber, dass sich viele Kinder darum rissen, mit ihm befreundet zu sein. Als Beschützer konnte sich ihn jeder vorstellen. Er war alles andere als unbeliebt.

Es hatte seit Tagen nicht geregnet und der sonst so lehmige Feldweg verwandelte sich in eine rissig verkrustete Staubpiste. Links und rechts umsäumte ein Erdwall den Feldweg, der die Getreidefelder voneinander abgrenzte. Roter Klatschmohn schuf einen feurigen Streifen im Kontrast zum tristbraunen Korn auf der anderen Seite.

Lukas kniff leicht die Augen zusammen. Im seichten Wind sah es auf diese Weise fast so aus, als würden die roten Köpfe der Blumen ein blutiges Wasserband bilden, das im Takt des Windes wellenförmig vor sich hin tanzte.

Er wischte sich mit einem Shirtzipfel den Schweiß aus dem Gesicht und stützte sich auf den Lenker seines Mountainbikes.

„Ich war schneller!“, rief er. „Heut’ Abend bis DU dran!“

Sein Bruder keuchte vor Erschöpfung und hielt mit schlitternden Reifen neben ihm an.

„Ja, ja, nächstes Mal spielen wir das beim Tischtennis aus!“

Jakobs Gesicht war rot vor Anstrengung und man konnte fast das Pochen in seinen Schläfen hören.

Abwaschen war angesagt, die Tagesmutter würde sich freuen.

„Und jetzt?“, fragte Jakob, der verbergen wollte, dass er nicht wirklich Lust auf ein weiteres Kräftemessen hatte.

„Kraterwald?“, fragte Lukas und deutete den Feldweg hinauf in Richtung eines kleinen Wäldchens, das auf einem Hügel gelegen von Feldern umrahmt wurde. Ein kleiner Hof rundete das Bild ab. Hinter einer Hügelkuppe ging es bergab zu weiteren Wäldern und Feldern, die in der Sommersonne flimmerten.

Der Kraterwald war ein beliebter Spielort für die Kinder aus der Umgebung. Niemand wusste wirklich, wie das Wäldchen hieß oder ob es überhaupt einen Namen hatte. Der Waldboden glich einer Kraterlandschaft, als wären hier einst Bomben eingeschlagen. Im felsigen Boden öffneten sich zwischen Moosen und Baumwurzeln viele kleine Höhlen und Risse, in die man als Kind noch hineinkriechen konnte. Es war ein seltsamer Ort, der besonders in der Abenddämmerung fast schon gespenstisch wirkte, als sei er ein Relikt aus einem Gruselfilm.

Aus diesem Grund vermied es Jakob auch, abends noch dort zu sein.

Die Höhlen waren nicht sehr groß. Die meisten waren nur wenige Meter lang und zu flach, um hineinzupassen. Doch in einigen hätte man sogar fast aufrecht stehen können. Und wenn man Glück hatte, fand man sogar ab und zu versteinerte Pflanzen oder urzeitliche Insekten in dem kalkhaltigen Gestein. Doch meistens waren die kleinen Hohlräume in den Kraterwänden nur mit Klopapier, Bierdosen oder sonstigem Unrat gefüllt.

Ihr Vater hatte einmal erzählt, dass in der Gegend seit Hunderten von Jahren Kalk abgebaut wurde. Vielleicht war dieser Wald ja ein letztes Überbleibsel einer damals völlig anderen Landschaft.

Wo sie jetzt mit dem Fahrrad entlangfuhren, war vielleicht mal eine Schlucht oder ein Berg, der im geschichtlichen Mahlzahn der menschlichen Gier nach Rohstoffen abgetragen worden war. Jakob stellte sich oft vor, wie es hier wohl früher ausgesehen hatte. Nicht weit entfernt von hier, im Neandertal, hieß es, dass die Landschaft einst von wunderschönen Kalkbergen und romantischen Schluchten mit Überhängen und Wasserfällen geprägt war, doch jetzt war alles flach, vom Menschen renaturiert. Im Kraterwald hörte man oft die Sprengungen des nahegelegenen Kalksteinbruches.

„Die anderen sind auch da!“, sagte Lukas.

„Ich weiß nicht, ich mag die alle nicht ...“

Lukas verdrehte die Augen.

Jakob war eher introvertiert. Manchmal dachte man, er würde lieber in seinen Büchern versinken als auch nur einen Schritt ins Freie zu wagen. Entsprechend blass war auch seine Gesichtsfarbe. Er war ein Träumer und erzählte oft von Fantasiewelten, die er sich in seinem Kopf zurechtspann. Darin ging er auf. Aber mit anderen Menschen kam er nicht so gut zurecht. „Sie verstehen mich alle nicht“, gab er immer wieder zu bedenken. Manchmal nahm ihn sich die Tagesmutter zur Seite und versuchte zu ergründen, was unter seinem braunen Schopf vor sich ging. Doch er war wie eine Sphinx. Schön anzusehen, aufmerksam und umgeben von einer faszinierenden Aura, und die Welt rätselte, ob sich irgendwo ein geheimer Eingang zu ihrem Innersten verbarg, der weitere Geheimnisse enthüllen würde. Lukas fragte sich oft, ob sie nicht bei ihrer Geburt vertauscht worden waren. Er war so anders als er. Doch er beschützte seinen Bruder und las heimlich die Gedichte und Kurzgeschichten, die er schrieb, ohne viel daraus für sich mitzunehmen. In dieser Hinsicht war Lukas eher einfach gestrickt. Nicht weniger intelligent, aber auf seiner Empathieebene durchaus ausbaufähig.

In der Ferne hörte man das Grölen der anderen Kinder, die vermutlich schon den ein oder anderen Stunt auf dem Fahrrad hingelegt hatten.

„Was nun?“, fragte Lukas ungeduldig.

Jakob popelte gerade in seiner Nase, sah sich das Ergebnis auf seinem Finger an und schnipste es ins Gras.

„Ich habe echt keine Lust ...“

Er versuchte, ein ernstes Gesicht zu ziehen, um weitere Nachfragen zu vermeiden, was auch funktionierte.

Lukas seufzte.

„Pussy!“

Er drehte sich von ihm weg, stemmte sich auf seine Pedale und setzte das Fahrrad Richtung Wald in Bewegung.

Jakob war froh, diese Diskussion schnell hinter sich bringen zu können. Er schaute seinem Bruder noch eine Weile hinterher, dann kramte er in seiner Hosentasche und holte ein in Papier eingewickeltes Kaubonbon heraus. Langsam und bedächtig öffnete er die bunte Verpackung und steckte sich das Bonbon in den Mund. Dann zwirbelte er die beiden Seiten des Papiers zu zwei Stacheln zusammen, die er dann nach hinten faltete. Er hielt sein Werk mit zusammengekniffenen Augen in der Hand und streckte es in den Himmel. Das Glühen der Sonne warf leuchtende Konturen auf das bunte Papier und je nachdem, wie er es drehte, sah es fast so aus, als wäre es ein kleiner Vogel, der der Sonne entgegen fliegen wollte. Er musste nur darauf achten, nicht direkt in die grelle Sonne zu blicken. Kauend blickte er wieder nach unten. Er zupfte die Kanten noch einmal glatt und ging zu einem rissig gewordenen Holzpfosten, der am Rande des Weges stand. Auf einem angerosteten Blechschild wurde ein Wanderweg gekennzeichnet, dessen Bezeichnung aber nicht mehr lesbar war. Jakob löste einen dünnen Nagel aus einer Ecke des Schildes und steckte ihn in die morsche Spitze des Holzes. Dann drapierte er sein kleines Kunstwerk auf den rostigen Nagelkopf und umzwirbelte ihn noch etwas mit einer Papierecke. Lange würde sein Vogel dort nicht überdauern, aber für den Moment war es Jakobs Ziel, ihn nicht der schnellen Vergänglichkeit zu überlassen. Er lächelte und schaute ihn sich noch eine Weile an, bevor er sich auf den Heimweg machte.

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