Читать книгу TREU - Sven Hornscheidt - Страница 13
ОглавлениеMARINA
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Eine Popcorntüte knisterte neben Marina, als sie sich zur Seite drehte. Bläuliches Licht zeichnete Konturen auf Lukas’ Gesicht. Er konnte richtig hübsch sein, wenn er nur von der richtigen Seite und dem richtigen Licht angestrahlt wurde. Die Sitze waren sehr bequem, man konnte wunderbar in ihnen versinken. Sie schmunzelte. Naja, so ganz „ihr Typ“ war er ja eigentlich nicht, zumindest nicht optisch. Sein Gesicht war sehr markant und kantig, und obwohl er erst achtzehn war, wirkte er ein paar Jahre älter und auch irgendwie ernster. Seine Nase war relativ unspektakulär, in einer Broschüre für „Normnasen“ würde sie wahrscheinlich den ersten Platz gewinnen. Seine dichten, braunen Locken wucherten heute etwas wild, er sollte sich mal wieder die Haare schneiden lassen, dachte sie und musterte ihn weiter.
In seinem schwarzen Kapuzenpulli versunken wischte er mit seinem Daumen über das Display seines Smartphones. Eigentlich hatte er sich nur überreden lassen, mit Marina ins Kino zu gehen, denn so richtige Lust hatte er nicht. Er hasste das ganze „Chi Chi“ ums Ausgehen und die Kartenpreise waren in den letzten Jahren in astronomische Höhen geschossen. In seiner linken Hand hielt er die zusammengefaltete Plastikbrille, die ihnen einen außergewöhnlichen Kinoabend bescheren sollte – oder einen Anflug heftigster Kopfschmerzen, je nachdem, in welcher Verfassung man sich gerade befand. Er verstand diesen ganzen Irrsinn mit den 3D-Kinofilmen nicht. Ging es nicht eigentlich um die Geschichte? Das geht doch auch ohne Kopfschmerzen. Die letzten 3D-Filme, die sie sich im Multiplex Kino angesehen hatten, waren alle relativ inhaltsleer gewesen. Er erinnerte sich an die Ausführungen seines Kunstlehrers, als er über die Anfänge des bewegten Bildes referiert hatte. Damals waren angeblich die Menschen scharenweise panisch aus den Kinos gerannt, weil sie das erste Mal das bewegte Bild einer sich nähernden Lokomotive sahen und Angst hatten, von ihr zermalmt zu werden. Da reichte ein banaler Film, um die Menschen zu faszinieren, doch dieser 3D-Hype in der heutigen Zeit zerstörte seiner Meinung nach das Genre. Video kills the radio star – die nächste Etappe.
„Du könntest wenigstens so tun, als hättest du Lust auf’s Kino!“,
sagte Marina mit einem enttäuschten Unterton.
„Ich freu’ mich doch!“ Bei Lukas war es immer schwer, Sarkasmus und Ernst auseinander zu halten.
„Der Film soll echt gut sein!“
„Mir wird davon schlecht und das Bild ist immer so dunkel.“
Marina verdrehte die Augen und griff in seine Popcorntüte.
„Ey, meins!“, raunte Lukas.
„Du hättest dir ruhig das Süße holen können, salzig ist voll widerlich!“ Marina verzog den Mund.
„Damit DU mir alles weg isst ... Worum geht es überhaupt?“ Lukas schlürfte an seiner Cola.
„Da sind Menschen auf einem anderen Planeten und die Außerirdischen wollen sie nicht bei sich haben. Dann verliebt sich ein Mensch in eine Außerirdische ...“
„Oh, neee, Liebesfilm?“
„Nein! Also, da sind wohl echt tolle Bilder und die Story ist auch gut!“
„Wenigstens sind die alle blau!“ Er lachte über seinen eigenen dummen Witz und zog provokativ die Popcorntüte weg.
„Ich kann mir ein Loch unten rein schneiden und meinen Hosenstall aufmachen, vielleicht habe ich dann etwas mehr Spaß bei dem Film.“
Wieder verdrehte Marina die Augen.
„Jetzt verdirb mir nicht den Abend!“
Endlich wurde es im Kinosaal dunkel.
„Und nun sei still. Und mach das Handy aus!“
Er steckte sein Smartphone widerwillig in seine Tasche und setzte sich die Buddy Holly-3D-Brille auf die Nase. Mit ein paar Handgriffen versuchte er sie so auszurichten, dass das Bild möglichst scharf wurde. Der Surround-Sound vibrierte in den Sitzen, als der Film begann. Lukas fläzte sich in seinen Sitz und nutzte die Rückenlehne vor sich als Fußablage.
„Lukas ....!“, zischte Marina.
Er drehte sich zu ihr hin und nahm seine Füße in Zeitlupe wieder nach unten.
„Ja, Mama ...“
Dann stopfte er sich noch eine Handvoll Popcorn in den Mund und verschränkte griesgrämig seine Arme.
Der Film begann.
Der Besuch der letzten Spätvorstellung bereitete ihnen den Komfort, dass die ganze vorgeschaltete Werbung wegfiel. Einziger Nachteil: Die Popcornkrümel auf und in den Sitzen nahmen ein fast schon ekliges Ausmaß an. An der Reinigung wurde hier offenbar gespart.
Aus Lukas Hose summte es.
„Schhhhht!“, kam es aus der hinteren Reihe
„Lukas ...“, flüsterte Marina.
Hektisch griff Lukas in seine Hosentasche und drückte den Anrufer blind weg.
„Willst du es nicht ausmachen?“
„Schhhht ...“
„Ruft schon keiner mehr an.“
„Schhhhhhht ...“
Lukas drehte sich genervt um und warf dem doppelt bebrillten Mann hinter sich einen finsteren Blick zu. Es kehrte wieder Ruhe ein. Marina verdrehte die Augen. Lukas griff wieder in seine Popcorntüte und produzierte ein provokativ lautes Knistern. Dann stopfte er sich wieder eine Handvoll in den Mund und streckte gähnend seine Arme nach oben, um es noch etwas auf die Spitze zu treiben.
Wieder summte es in seiner Tasche, diesmal aber unbemerkt, da die laute Intromusik des Films inzwischen aus den Lautsprechern dröhnte. Er versuchte es auszusitzen, doch das Summen hörte nicht auf. Marina warf ihm einen vernichtenden Blick zu, als er es aus seiner Tasche zog. Wieder wurde sein Gesicht in blaues Licht getaucht. Hinter ihm trat jemand gegen seine Rückenlehne.
„Es knallt gleich“, murmelte Lukas kaum hörbar.
„Frechheit!“, erwiderte der Mann hinter ihm.
Lukas schaute auf sein Display – Moritz ruft an.
Marina las es auch.
Lukas drückte den Anrufer erneut weg und stopfte sich das Smartphone wieder in seine Tasche. Auf der Leinwand schwebte ein schwereloser Astronaut durch den dreidimensionalen Raum eines Raumschiffes. Perfekt animierte Illusion – fast zu perfekt.
„Warum ruft Moritz dich denn dauernd an?“, flüsterte Marina.
Lukas zuckte genervt mit den Schultern. Ihm wurde etwas schwindelig und er zog sich seine 3D-Brille ab. Doch nun sah er alles doppelt. Auch nicht gut. Also zog er sie wieder auf.
„Kannst du mal fünf Minuten still sitzen?“, zischte Marina.
„Schhhhhhht!“
Lukas griff in seine Tüte und steckte sich jeweils ein Popcorn in jedes Ohr und schaute Marina aberwitzig mit einem albernen Gesichtsausdruck an.
Wieder summte das Handy. Lukas schaute nach unten und seine biologisch abbaubaren Ohrstöpsel fielen auf seinen Pulli.
„Willst du nicht ran gehen?“ Marina blickte sich um und setzte ihr charmantestes Lächeln Richtung Brille auf.
„Nein!“
„Vielleicht ist was passiert ...“
„Nein!“
„Könntet ihr das BITTE draußen klären!“, meinte die Brille.
Lukas zog das Smartphone aus seiner Tasche, um den Anruf wieder abzuwürgen, doch Marina kam ihm zuvor und zog es ihm, flink wie eine Schlange, aus der Hand. Sie entsperrte es, stand auf und ging mit einem „Warte kurz, Mo!“ Richtung Ausgang.
Ein paar Kinobesucher, die besonders lustig sein wollten, klatschten Beifall, als sie hinter der schweren Tür verschwand. Lukas legte seine Füße wieder auf seinen Vordersitz und verschränkte die Arme.
„Hey Moritz, Marina hier. Wir sind gerade im Kino, was ist denn?“
Stille breitete sich aus. Sie hörte nur ein leises Schluchzen.
„Hallo ...“, sagte Moritz leise.
„Weinst du?“
„Nein ...“
„Hört sich aber so an!“
„Warum ist Lukas nicht dran gegangen?“
Marina fing an, etwas genervt zu sein, sie drehte sich zum „EXIT“-Schild um, das ihr den Weg zurück zum Film, den sie so gerne sehen wollte, wies.
„Du, Moritz, es ist gerade echt schlecht, der Film läuft schon!“
„Okay ...“ – Stille – dann wieder ein Schluchzen.
„Moritz ... was ist los?“
Stille.
„Ich weiß, wir kennen uns noch nicht so gut, aber wir machen uns Sorgen. Sollen wir vorbeikommen? Willst du reden?“
„Nein ...“ Es war einfacher, sich mit einem leeren Spint zu unterhalten.
„Es tut mir leid“. Seine Stimme wirkte noch immer nicht gefasster.
„Was tut dir leid?“
Marina blickte umher, um sich eine Sitzgelegenheit zu suchen. Anscheinend würde das hier länger dauern. Sie ging zu der Eingangstür der Kinoetage, vergewisserte sich, dass sie ihre Eintrittskarte noch in der Tasche hatte, und ging vorbei an den Kontrolleuren zum Treppenhaus, wo sie sich auf die oberste Stufe setzte.
„Also?“ Marina wusste nicht so recht, wie sie sich in ihn hineinfühlen sollte. Moritz hörte sich schlimm an, aber eigentlich kannte sie ihn nicht so gut, um sich als adäquater Gesprächspartner zu fühlen.
„Ich kann es nicht sagen ...“
Jemand stupste sie leicht am Rücken an. Lukas stand mit seinem Colabecher hinter ihr.
„Was will der denn schon wieder?“ Er sprach so laut, dass er davon ausgehen konnte, dass Moritz mithören konnte. Marina reichte es nun. Ihre Blicke hätten töten können. Den ganzen Abend hatte er sich schon ziemlich beschissen verhalten, doch in diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass er fehl am Platze war.
„Geh rein!“, zischte sie und ihr Blick ließ keine Widerrede zu.
Lukas drehte sich um und trottete wieder, vorbei an den Aufsehern, denen er seine Kinokarte zeigte, zurück in den Kinosaal.
„Toller Film übrigens!“, rief er noch und verschwand dann hinter der schweren Tür.
„War das Lukas?“, fragte Moritz schüchtern.
„Ja, was denkst du denn?“
„Tut mir leid, wenn ihr jetzt Stress wegen mir habt.“
„Moritz, wir haben keinen Stress wegen DIR. Kannst du mir mal sagen, was eigentlich los ist? Habt ihr Streit?“
„Nein ...“
„Moritz! Ich leg’ gleich auf ... !“
„Ich bin schwul.“
Stille
Ihr fiel es nun wie Schuppen von den Augen. Das komische Verhalten in letzter Zeit, die launischen Gefühlsausbrüche, die Abneigung, die er sie immer spüren ließ. Alles machte auf einmal Sinn.
„Was?“, wollte sie sich noch einmal vergewissern.
„Sag’s bitte nicht Lukas“, flüsterte er, begleitet von einem Schniefen.
Sie überlegte kurz, was sie sagen sollte, und aus dem Bauch heraus gab sie in ihrer beruhigendsten Tonlage eine Antwort:
„Moritz, es spielt keine Rolle, wer das weiß und wer das nicht weiß. Du bist immer noch Du! Ich weiß, du magst mich nicht besonders, aber ich mag dich und alle anderen mögen dich. Es ändert sich doch überhaupt nichts. Aber ich habe das Gefühl, dass du es für dich akzeptieren musst. Nicht die anderen müssen dir Angst machen, du bist es doch selber, der es in der Hand hat, glücklich zu sein. Ich freue mich, dass du es gerade mir anvertraust. Danke. Ehrlich. Wie fühlst du dich jetzt?“
„Okay ...“ Er klang nicht sehr überzeugend.
„Pass auf, Lukas hat schon ganz miese Laune, weil er ohnehin nicht in den Film gehen wollte, aber ich sitze hier auf der kalten Treppe in einem zugigen Flur und muss ganz dringend auf’s Klo. Was hältst du davon, wenn ich nach dem Film vorbeikomme? Wir können quatschen, wenn du willst, oder wir können schweigen. Was dir lieber ist. Das dauert nur ein paar Stunden hier. So halb zwei, zwei. Ich komme auf jeden Fall. Deine Eltern sind doch noch im Urlaub?“
„Ja, ... aber ich will keine Umstände machen.“
„Ich will aber eine Flasche Wein haben! Roten. Und nicht zu trocken!“
„Okay“, Moritz hörte sich klarer an, was sie ein wenig beruhigte.
„Und, Marina?...“
„Ja?“
„Danke.“
„Bis gleich dann, und ruf’ jetzt nicht wieder Lukas an, sonst werden wir im Kinosaal gevierteilt.“
„Okay ...“
„Bis später ... ich freu mich.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb sie noch eine Weile sitzen. Den Oberkörper auf die Knie aufgestützt, sinnierte sie über das kurze Telefonat nach. Sie spürte eine Woge des Wohlbefindens. Es fühlte sich gut an, dass er ausgerechnet ihr vertraute. Auch Erleichterung schwang mit. Sie fühlte sich gut.
Sie ging noch schnell auf die Toilette und betrat dann wieder den Kinosaal. Lukas verriet sie nichts vom Inhalt des Gesprächs, auch wenn er sie, von Brilles Flüchen bombardiert, löcherte. Nun wollte sie wenigstens noch die letzte Hälfte des Films in Ruhe genießen.
Auch Moritz lächelte.