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Moritz

5

Moritz wusste an diesem Morgen nichts mit sich anzufangen. Die schlechte Laune war zwar etwas verflogen, doch ein Motivationsschub zum Start des Tages ließ noch auf sich warten. Er schlurfte in sein Zimmer und setzte sich auf das Bett. Draußen schneite es schon den ganzen Morgen. Er knipste den Fernseher an und zappte durch die Programme, bis er ihn gelangweilt wieder ausschaltete. Auf seinem Schreibtisch türmten sich etliche Broschüren der Studienberatung, doch so richtig festlegen wollte er sich noch nicht. „Erst mal die Weihnachtsferien überstehen und danach die Zielgerade zum Abitur“ – so hatte er sich das vorgestellt, aber so weit wollte er noch gar nicht denken.

Abitur – und was danach? Lukas hatte sich vorgenommen, in Berlin zu studieren. „Ich weiß zwar noch nicht was, aber Hauptsache weg aus dem Kaff hier“, sagte er immer. Moritz wollte nicht, dass er wegzog, genauso wenig wie er wollte, dass sich überhaupt irgendetwas änderte. Er mochte seine momentane Situation zwar nicht, aber sie war immer noch besser als Veränderungen. Er hasste Veränderungen. Weihnachtsgeschenke hatte er noch keine besorgt, er wusste einfach nie, was er schenken sollte, genauso wenig wie er wusste, was er sich wünschte. Einen Herzenswunsch gab es natürlich, doch selbst das bittende Flüstern zu einem Gott, an den er nicht glaubte, brachte keine kleinen Wunder hervor. ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ thronte in von seiner Mutter gestickten Lettern eingerahmt an der Wand über der Haustür. Welch eine Ironie. Am liebsten würde er es abreißen und in die Mülltonne werfen, doch die anderen Sprüche, die in gestickter Weise im ganzen Haus verteilt waren, waren auch nicht wirklich besser.

Er warf seinen Kopf nach hinten auf sein Kopfkissen und starrte die Decke an. Kaum sichtbare Schatten, die von den Schneeflocken vor dem Fenster an die Zimmerdecke geworfen wurden, verwandelten das spärliche Tageslicht in ein graues Flimmern. Moritz schloss seine Augen.

Das Telefon klingelte.

Er schreckte aus seinem Tagtraum auf und tastete hektisch um sich.

„Ach ...“, murmelte er, als er begriffen hatte, dass das Klingeln nicht von seinem Smartphone kam, sondern vom Haustelefon im Erdgeschoss. Das konnten nur seine Eltern sein, die sich aus dem Urlaub meldeten und vergewissern wollten, ob alles in Ordnung sei.

Moritz verdrehte die Augen und stürmte die Treppen hinunter.

Das kurze Gespräch mit seiner Mutter verlief, wie erwartet. Mit kurzen „Jas“, „Okays“, „Ist guts“ und weiteren Einsilbigkeiten quittierte er ihre Fragen, die sich für ihn oft so anhörten wie die Checkliste eines übereifrigen Feldwebels, der seine Rekruten danach fragte, ob all ihre Ausrüstungsgegenstände im Gepäck verstaut waren, bevor sie in den Kampf zogen.

Nachdem er aufgelegt hatte, schloss er die Haustür auf und tastete mit seinen dünnen Armen durch den Schlitz des Briefkastens, der an der Außenwand neben der Eingangstür hing. Er war leer, die Tageszeitung hatten seine Eltern vorsorglich für die Dauer des Urlaubs abbestellt.

Sein Blick fiel auf die Stickerei über der Haustür. Er schüttelte den Kopf und schlenderte zur Fensterbank, um die Blumen zu gießen.

Er zog die Rollladen hoch und ging in die Küche. Als er den Kühlschrank öffnete, bot sich ihm gähnende Leere. Er nahm einen angebrochenen Tetrapack Milch heraus und stellte ihn auf die Arbeitsfläche. In einer Schublade fand er die Einzelteile eines Espressokochers für die Herdplatte. Er füllte den unteren Teil des kleinen Kännchens mit Wasser, vervollständigte das Ritual mit zwei Löffeln Espressopulver im Siebaufsatz und schraubte das kleine Edelstahlwunder zusammen. Es war Wochenende und die Bäckereien, die jetzt noch geöffnet waren, erschienen ihm zu weit weg, zumal er das Auto bei diesem Wetter lieber stehen lassen würde. Also fiel das Frühstück heute wohl eher karg aus. Ein Stück Käse und ein trockenes Croissant von gestern mussten reichen.

Der Espressokocher begann zu zischen.

Er goss etwas Milch in eine Tasse, auf der ein Einhorn abgebildet war. Mit verschnörkelten Buchstaben stand darauf All you need is trust and a bit of pixie dust. Seine Mutter hatte diese Tasse in irgendeinem Kitschladen erstanden, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was Moritz wohl von diesem klischeebelasteten Motiv halten würde.

Sie wusste es nicht besser – wie auch? Trotzdem mochte Moritz diese Tasse. Nicht so sehr wegen des Motivs, sondern wegen der Selbstverständlichkeit, mit der er sie benutzte. Vielleicht etwas trotzig, vielleicht war es auch dem Wunsch geschuldet, normal und unbefangen mit seinen eigenen Gefühlen umgehen zu können.

Die Kanne begann zu pfeifen.

Mit einem Finger verrührte er Milch und Kaffee und trank in einem Zug aus. Dann ging er noch einmal nach oben ins Bad, um sich sein Smartphone zu schnappen, knipste alle Lichter aus und trottete wieder die Treppenstufen hinunter.

In der offenen Haustür stehend, beobachtete Moritz die Flocken, die langsam hinabrieselten. Die Straße, in der er mit seinen Eltern lebte, war in klinisches Weiß getaucht. Er liebte diesen Anblick, nur gab es leider nicht mehr so viel Schnee wie früher, als er noch klein war. Hinter dem Haus gab es einen kleinen Berg, wo im Sommer Schafe grasten. Vor ein paar Jahren rasten sie dort immer mit dem Schlitten herunter, sobald der erste Schnee lag. Der Maschendrahtzaun am unteren Ende des Hanges war noch immer von ihren Einschlägen ramponiert und thronte wie ein Mahnmal einer sorglosen Kindheit der Zeit entgegen. Das hatten sie Jahre nicht mehr gemacht und wahrscheinlich waren sie nun auch zu alt dafür. Oder ihnen erschien der unbefangene Spaß auf dem Holzschlitten einfach zu kindisch. Moritz vermisste das sehr. Wie die Zeit alles veränderte ...

Er fröstelte und schob seine Hände tief in die Taschen seiner Jeans. Dann drehte er sich noch einmal um, nahm eine daunengefütterte Jacke von der Garderobe und setzte sich eine schwarze Strickmütze auf. Er schloss die Tür hinter sich zweimal ab, prüfte noch einmal am Türgriff, ob sie auch wirklich verschlossen war und ging die Stufen hinauf zum Bürgersteig, der von zu vielen Autos zugeparkt war.

Ein Adrenalinstoß flutete seinen Körper, als sein Blick auf sein Auto fiel. Jemand hatte auf der Windschutzscheibe des VW Polo ein kleines Kunstwerk hinterlassen. Schmierig war im Schnee ein großer Penis aufgemalt, aus dessen rudimentär gezeichneter Eichel ein paar Tropfen herausspritzten. Irgendein Text war daneben gekritzelt, doch er ließ sich nicht mehr entziffern, zu sehr hatte der Schnee die Konturen überdeckt.

„Arschlöcher“, murmelte er leise und wischte quer über die Windschutzscheibe. Er drehte sich nach allen Seiten um, doch es war alles still. Der Boden war weiß und unberührt. Keine Fußabdrücke zeugten mehr von der verräterischen Spur des Künstlers. Wahrscheinlich war es reiner Zufall gewesen, dass ausgerechnet sein Auto als Leinwand missbraucht wurde. Er grübelte darüber nach, wer wissen könnte, wie es um seine Gefühle bestellt war, doch ihm fiel niemand ein.

Er zog sein Smartphone aus der Tasche – keine Nachricht. Dann machte er ein Panoramafoto von der weißverschneiten Szenerie und postete es auf Facebook mit der Überschrift „Schneewanderung“. Solch einen kommunikativen Irrsinn hatten sie früher nicht gebraucht, doch nun schien die digitale Welt ein steter Begleiter zu sein, der einen immer daran erinnerte, dass das eigene Leben vielleicht doch nicht so spannend war. Er hasste die ständigen Posts der anderen Leute. Fotos unter Palmen, aus New York oder von Tempelruinen in Kambodscha. Manchmal fragte er sich, ob die Leute nur an außergewöhnliche Orte reisten, um damit auf Facebook anzugeben, und nicht, weil es ihr Herzenswunsch war.

Er trocknete seine kaltnassen Hände an der Hose ab und machte sich auf den Weg zu Lukas. Warum er jetzt zu den Trümmern einer Party vom Vorabend ging, wusste er auch nicht. Aufzuräumen hatte er nun wirklich keine Lust, doch sein Bauch wollte diesen Weg einschlagen.

Sein Smartphone vibrierte. Marina hatte sein Foto geliked.

Ausgerechnet Marina ...

Die Straße war menschenleer. Anscheinend verspürte niemand den Drang, sich in den Schnee zu wagen. Nur hier und da befreiten gewissenhafte Hausbesitzer den Eingangsbereich und Bürgersteigabschnitt von ihrem Eigentum vom Schnee.

„Spießer“, dachte Moritz. Sein Lieblingswort, wenn es darum ging, die konservative Welt um sich herum zu beschreiben.

Ein Hund kläffte, als er mit seinen viel zu kurz geratenen Beinen versuchte, einen von seinem Herrchen geworfenen Stock im Schnee wiederzufinden. Er hüpfte hin und her und manchmal schaute nur noch die Rute aus dem Schnee heraus, bis sein Kopf frohlockend mit einem dicken Ast im Maul wieder aus einer Schneewehe auftauchte. Moritz mochte Hunde. Aber lieber die Großen, so wie Bella, als solch kurzbeinige Schoßhündchen.

Seine Eltern hatten ihm als Kind nie den Wunsch erfüllt, auch einen Hund anzuschaffen. Vielleicht war das auch gut so, denn eigentlich war er viel zu spontan und zu faul, um jeden Tag bei Wind und Wetter Gassi zu gehen.

Auf der Hauptstraße angekommen, änderte sich das Bild. Es war schon gestreut worden und es bildete sich eine transparente Matschschicht, die nicht weniger rutschig war als der frische Schnee, aber sicherer für diejenigen Autofahrer, die es wieder einmal nicht rechtzeitig geschafft hatten, ihre Sommerreifen auszuwechseln.

„Hey, Mo!“

Von der anderen Straßenseite aus winkte Max ihm grinsend zu. Er war immer der Erste, der nach einer durchzechten Nacht wieder zu Kräften kam und auch der Erste, der sich darauf verstand, morgens möglichst schnell wieder zu verduften, damit er nicht aufräumen musste.

„Alles klar? Warum bist du gestern so früh abgehauen? Wir haben noch die halbe Nacht Mario Kart gespielt. Du hättest Jan mal sehen sollen, er hat den ganzen Papierkorb vollgekotzt!“

Moritz wurde es wieder flau im Magen, als er sich diese Szene vorstellte.

„Ich hatte keine Lust mehr“, rief er quer über die Straße.

Ein älterer Herr, ganz in Grau gekleidet, der an einer Bushaltestelle stand, beobachtete den Wortwechsel und schüttelte griesgrämig den Kopf.

„Warum sind ältere Herren immer Grau gekleidet?“, fragte sich Moritz.

„Wo willst du denn hin?“, fragte Max mit seiner knabenhaften, fast schon froschartigen Stimme.

„Warte, ich komm rüber!“

Der Mann schaute ihm zu, wie er die glitschige Straße überquerte. Sein mittägliches Unterhaltungsprogramm schien nun wohl beendet zu sein.

Sie schlugen sich mit geschlossener Faust gegenseitig ein.

Max grinste, doch sein Atem verriet, dass es seinem Magen noch nicht so gut ging wie seiner Stimmung. Abgesehen davon, dass er ein richtiger Morgenmuffel sein konnte, war er eigentlich immer gut gelaunt, worum Moritz ihn ein bisschen beneidete. Er war kein Freigeist wie er und konnte mit jeder Situation umgehen, ohne sich überfordert zu fühlen. Selbst, als seine Mutter verstorben war, war ihm nach einigen Wochen fast nichts mehr anzumerken. Zumindest nicht äußerlich. Wie es in seinem Innersten aussah, wusste niemand, doch Moritz konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine entspannte Laune nur Fassade war, dazu hatte er eine zu gute Menschenkenntnis.

Es gibt halt solche Menschen – „Warum kann ich nicht so sein?“, – fragte er sich.

Vielleicht sollte er es ihm als Erstes sagen, sinnierte er, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Er dachte an das Kunstwerk auf seiner Windschutzscheibe.

„Ich wollte mal bei Lukas vorbeischauen. Sind die anderen noch da?“

„Da sieht es noch immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.“

„Und du hast dich verdrückt?“, grinste Moritz ihn an.

„Was meinst du denn? Denkst du, ich hänge da noch Stunden rum, bis alle einigermaßen wach sind, um dann den Putzlappen durch das Haus zu schwingen?“

Ein bisschen egoistisch war er ja schon, aber man konnte ihm einfach nicht böse sein.

„So schlimm?“, entgegnete Moritz.

„Schlimmer! Und Lukas hat echt eine miese Laune heute. Ich weiß auch nicht, was mit ihm wieder los ist. Also, an deiner Stelle würde ich da jetzt nicht aufkreuzen. Es stinkt, alle sind verkatert und Lukas motzt nur herum.“

„Und Marina?“, fragte Moritz.

„Die ist direkt unter der Dusche verschwunden und hat sich dann wieder mit ihrem Laptop ins Bett verkrochen. Als ich gegangen bin, haben bis auf Lukas, Marina und Bella alle noch gepennt. Naja, Jan war zwar wach, aber irgendwie doch nicht. Er musste es gestern mal wieder übertreiben. Ich war gerade noch kurz bei Tom, also, kann sein, dass sie jetzt schon frühstücken, oder so. Was willst du überhaupt da? Bist du so scharf aufs Aufräumen?“

„Nein, mir ist einfach langweilig.“

„Und dann räumst du lieber auf?“

Max verstand nicht so ganz, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte, also wechselte er das Thema.

„Nächstes Mal feiern wir einfach bei dir!“

„Nee, besser nicht. Das gibt nur Stress mit meinen Eltern.“ Langsam fing Moritz an, von Max genervt zu sein. In seinem Leben drehte sich alles nur um Party, Kirmes und sonstige Events. Immer von der Angst getrieben, etwas zu verpassen.

„Und was machst du noch?“, fragte Moritz ihn.

„Eigentlich müsste ich noch Mathe büffeln, aber heute Abend wollte ich noch mit Tom was trinken gehen.“

Rastlos ...

Ein kurzes Schweigen entstand und Max merkte, dass Moritz nicht wirklich Lust hatte, sich mit ihm noch weiter zu unterhalten. Er klatschte ihm auf die Schulter.

„Na dann ...“

„Mach’s gut!“

Moritz drehte sich um, steckte seine Hände wieder tiefer in die Taschen und trottete die Straße entlang, weiter in die Richtung, in der Lukas wohnte. Ein Schneeball schlug neben ihm an einem Parkverbotsschild ein.

„Nächstes Mal!“, rief Max ihm noch nach und machte sich dann auch auf den Heimweg. Moritz musste lächeln.

Es war noch ein gutes Stück zu laufen, aber die kalte Luft tat ihm gut. Er sog sie tief ein, bis er fast husten musste, hielt sie noch eine Weile an und atmete dann sein dampfendes Inneres bewusst wieder aus. Er musste noch durch das Industriegebiet, in dem sie vor ein paar Jahren Fotos vor einem inzwischen abgerissenen Indus- triebau gemacht hatten, als Moritz gerade seine neue Spiegelreflexkamera bekommen hatte. Und dann bergab durch ein kleines Wohngebiet, an dem sich am unteren Ende der Wald anschloss, an dessen Rand das opulente Haus von Lukas’ Familie in einer relativ neu entstandenen Siedlung stand.

Er stapfte weiter durch den Schnee und hinterließ seine Abdrücke auf dem Gehweg. In der Ferne lachten Kinder und versteckten sich hinter ein paar Mülltonnen, als sie sich gegenseitig mit Schneebällen bombardierten.

Einmal nur wieder frei sein.

TREU

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