Читать книгу TREU - Sven Hornscheidt - Страница 5
ОглавлениеLUKAS
2
Ein lautes Klopfen drang an Lukas’ Ohren und vermischte sich mit den düsteren Bildern seines Albtraumes. Er drehte sich mit halb geöffneten Augen auf die andere Seite, stöhnte leise, er war erledigt von der langen Nacht und dem vielen Alkohol, und versuchte, den Schlaf abzuschütteln.
„Aus, jetzt!“, rief er, aber er war froh, dass die verwirrenden Nachbilder seines Traumes verschwanden und er sich wieder in der sicheren Realität seines Zimmers befand. Neben ihm lag Marina – verschmierter Kajal und verklebte Haare machten sie am Morgen nicht gerade sexy. Er strich über ihr Haar und stützte sich mit einem Seufzen auf seinen Ellenbogen, um sich von einer höheren Position aus einen besseren Überblick zu verschaffen.
Klopf, klopf. – „Ist gut jetzt!“
Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Eine abgewetzte Jeans lag quer über das untere Bettende ausgestreckt, ein T-Shirt hing daneben über dem Bettpfosten. Halbleere Bierflaschen standen auf der Fensterbank und auf dem Laptop lief in unbarmherziger Manier die Dauerschleife eines DVD-Menüs mit der nervtötenden Musik eines Intros. Offenbar hatten sie noch angefangen, eine Folge ihrer Lieblingsserie anzuschauen, ehe sie einschliefen.
„Wie spät ist es?“, fragte Marina.
Lukas streckte seinen Arm Richtung Boden und kramte unter einer Socke.
„Halb eins schon!“
Er band sich seine Fitnessuhr um und setzte sich auf.
„War ganz schön lang heute Nacht.“
Er drehte sich um und blinzelte zum Fenster.
„Es schneit.“
„Dann viel Spaß beim Gassigehen“, grinste sie.
„Ach, Scheiße. Erst mal aufräumen.“
Klopf, klopf, scharr, klopf.
„Ich glaube, das sieht jemand anders“, sagte Marina.
„Aus, jetzt!“
Lukas stand auf und schlurfte zur Tür. Zu dem langsamen Klopfen gesellte sich ein schnelles Schlagen – die Rute eines fröhlichen Hundes, die im Viervierteltakt gegen die Tür schlug. Er öffnete seine Zimmertür und prompt stürmte Bella herein, sprang aufs Bett und drehte sich dreimal im Kreis, bevor sie sich hinlegte.
Marina stöhnte. „Ich hasse diesen Hund.“
„Tust du nicht“, grinste Lukas zurück.
„Sie stinkt!“
„DU stinkst!“
Sie lachten beide, wobei sich Lukas schmerzverzerrt an den Kopf fasste, einen schwankenden Schritt tat und stöhnte.
„Scheiß Kater!“
„Sind die anderen noch da?“
„Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich pennen die alle noch. Ich glaub’ kaum, dass sie schon angefangen haben aufzuräumen.“
Ein schaler Geruch nach abgestandenem Bier und kaltem Zigarettenrauch drang herein.
„Ich mach Bella mal eben was zu essen.“
„Tu’ dir keinen Zwang an!“
Nun stand auch Marina auf, zupfte an ihrem BH und bückte sich nach einem auf dem Boden liegenden T-Shirt.
„Ich geh mal duschen.“
„Tu’ dir keinen Zwang an!“
Dieses kommunikative Ritual wurde beiden nie langweilig. Als Devise galt, sich lieber zu necken als in romantischen Floskeln zu versinken. Eigentlich waren sie eher Freunde als ein typisches Paar, aber was war schon typisch ...
Lukas zog sich ein T-Shirt an und stapfte barfuß aus dem Zimmer. Bella ließ sich nicht zweimal auffordern, sprang mit einem Satz auf und folgte ihm mit einem Scheppern, als ihr Allerwertester eine auf dem Boden stehende Bierflasche umwarf.
Das Bild, das sich ihm bot, war einer gelungenen Hausparty würdig. Das pure Chaos. Der einzige saubere Ort war der lang gestreckte Flur, der sich längs des Raumes zog. In einer Nische des großen Zimmers war eine Sitzecke aufgestellt, mit zwei Sesseln und einer langen Schlafcouch, die aber nicht ausgezogen war. Auf einem kleinen Tisch stand ein alter Röhrenfernseher, der schon bessere Zeiten gesehen hatte und „Mario Kart“ wartete darauf, eine neue Spielrunde zu starten. Die Spielekonsole lag unter dem Tisch und ein undurchdringliches Kabelgewirr machte es unmöglich, Anfang und Ende der Schnüre auszumachen. Die Controller glänzten vor klebrigen Bierflecken. Chipskrümel umsäumten die Szenerie.
„Was für eine Sauerei“, dachte sich Lukas, während er, von einer umherhopsenden Bella bedrängt, nach einem Pizzakarton trat.
Max lag noch in voller Montur bäuchlings auf der Schlafcouch, sein rechtes Bein baumelte über den Rand hinab auf den Boden.
„Lass’ mich bloß in Ruhe“, murmelte er.
Auf einem Sessel daneben fläzte sich Jan unter einer billigen Wolldecke aus einem schwedischen Möbelhaus. In seiner Hand thronte noch eine halb leere Flasche, als wäre er ein resignierter König, der in den letzten Atemzügen lag, aber sein Zepter noch nicht aus der Hand geben wollte. Er schnarchte.
Lukas hob den Pizzakarton auf und warf ihn in seine Richtung. Jan schreckte auf, wobei Reste der Flüssigkeit seiner Bierflasche nach oben spritzten. Er zog seine Mütze zurecht und schloss wieder die Augen.
„Aufräumen!“, grunzte Lukas.
„Nur kein Stress!“
Hinter Lukas schlängelte sich Marina vorbei und trottete mit einem Handtuch bewaffnet quer durch den Raum, wo sich das Badezimmer befand. Die Tür ging auf, wieder zu und das Schloss klackte.
„Wie sieht die denn aus?“, witzelte Jan.
„Guck dich an ...“, grunzte Lukas.
„Ich hätte ein Foto machen sollen, um es auf ‚Insta‘ zu posten.“
„Und ich mache gleich ein Foto von meinem Fuß in deinem Arsch!“ Lukas war sichtlich genervt.
„Sehr witzig!“, antwortete Jan und schloss wieder seine Augen.
Max räusperte sich nun auch und drehte sich auf den Rücken.
Er musterte Lukas, Denkfalten bildeten sich auf seiner Stirn.
„Hast du deine Tage?“, fragte er.
„Bitte was?“ Lukas stand auf dem Schlauch.
„Du blutest!“
Max deutete auf seinen Schritt. Lukas schaute nach unten. Ein angetrockneter roter Fleck von der Größe einer Skatkarte durchbrach das Muster seiner Shorts. Vom Bund seiner rechten Leiste bis hin zu den drei Knöpfen in der Mitte.
„Scheiße!“
Er zog den Bund etwas nach vorne und sah sich die Ursache für den Blutfleck an.
„Ich will das nicht sehen“, sagte Max mit angewidertem Blick.
„Ach, halt die Schnauze!“
Es war harmlos. Ein circa zwei Zentimeter langer Schnitt zwischen Hüftknochen und Scham benetzte rot den Stoff. Nicht tief und kaum schmerzhaft. Ein Kratzer, weiter nichts. Und es war auch nichts Neues, dass er sich im Schlaf kratzte.
„Ich hab’ von euren SM-Spielchen gar nichts mitbekommen.“ Jans Scherze waren noch nie wirklich lustig. Doch Lukas’ drohender Blick brachte ihn zum Schweigen.
„Ist nichts. Ich habe mich nur gekratzt.“
„Dann wasch dich!“ Auch Max fing nun an zu nerven.
„Ich gehe eh gleich duschen“, antwortete Lukas. „Wo sind die anderen?“
„Unten.“
Na toll! Seine Eltern würden sich bestimmt freuen, wenn eine Horde Jugendlicher ihr halbes Haus besetzte. Sie waren für einige Monate im Ausland für „Ärzte ohne Grenzen“ im Einsatz.
Irgendwo in der Demokratischen Republik Kongo genossen gerade Flüchtlinge die fürsorgliche Kompetenz eines renommierten Internisten und die liebevolle Hand seiner Frau, gelernte Krankenschwester und Arzthelferin.
„Ich hoffe, die haben nicht das ganze Haus zerlegt ...“
„Wann kommen deine Eltern eigentlich wieder?“, fragte Max.
„Keine Ahnung, im Sommer irgendwann.“
Das Verhältnis zu seinen Eltern war eher pragmatischer Natur. Manchmal fragte er sich, ob sie lieber fremden Menschen in Krisengebieten halfen, als sich um ihren Sohn zu kümmern. Inzwischen war das kein Problem mehr für ihn. So hatte er seine Freiheiten, doch in den Händen einer Teilzeittagesmutter aufzuwachsen war nicht immer leicht für ihn und seinen Bruder.
„Und dein Bruder?“, fragte Max kleinlaut, wohl wissend, dass er damit heikles Terrain betrat.
„Was fragst du jetzt nach meinem Bruder?“, grunzte Lukas. „Der ist schon drei Jahre in Neuseeland und bleibt auch erst mal da.“
Falsches Thema ...
„Ach, nur so.“ Max wusste, dass er das Thema „Bruder“ lieber meiden sollte und zog ein schmollendes Gesicht.
Bella stupste ungeduldig gegen Lukas Wade. Er schaute nach unten und tätschelte ihren Kopf. Dann drehte er sich um und ging wieder in sein Zimmer. Er zog die oberste Schublade seiner Kommode auf und schnappte sich eine frische Unterhose. Bella verstand nun auch, dass es sich bis zu ihrem Frühstück wohl noch etwas hinziehen würde und legte sich mit einem grummelnden Laut in die Ecke des Zimmers, wo immer eine Decke für sie parat lag. Argwöhnisch beäugte sie Lukas und begann, an ihrer Vorderpfote zu kauen, was sie immer tat, wenn sie gerade nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Lukas kümmerte das nicht, sie würde warten.
Er verließ sein Zimmer und stapfte die Treppe neben dem Bad hinab in den Keller, ohne im ersten Stock Halt zu machen, um sich dem Rest der verkaterten Truppe zu widmen. Er öffnete die Tür des Waschraumes und kramte im Putzregal nach einer Dose Fleckenpulver, das er dann großzügig ins Waschbecken streute. Er ließ heißes Wasser ein, zog sich die blutverschmierten Shorts aus und weichte sie ein.
Mit einer Handvoll warmen Wassers reinigte er seine Leiste von der Verkrustung und trocknete sie dann ab. Ein Pflaster war nicht nötig.
„Scheiße ... alles Scheiße“, murmelte er und zog sich die frische Unterhose an.