Читать книгу Der Nornen Knoten - Sylvia Koppermann - Страница 16
Kapitel 9
ОглавлениеJeden Tag wanderte die Familie nun nach getaner Arbeit, am frühen Nachmittag, zur Bucht, die knapp eine Stunde Fußmarsch, südöstlich des Hofes lag. Während Tjark bereits aufgeregt war und dem Wasser entgegenfieberte, den ganzen Weg plapperte, wie sehr er sich vornahm, bereits am Abend besser zu schwimmen, als sein älterer Bruder Leif, wirkte Bjarne eher missmutig und unwillig. Dies entging dem Honigmacher und seiner Frau natürlich nicht und auf ein Nicken von Hjördis, ließ Roald sich ein Stück von der übrigen Familie zurückfallen, um neben dem bummelnden Bjarne zu gehen. So abseits der Anderen, sprach er ihn direkt an. „Was ist los, mein Freund? Du scheinst Dich ja gar nicht darauf zu freuen, endlich schwimmen zu lernen.“ Bjarne grunzte nur verächtlich und drehte bockig den Kopf weg. Eine solche Reaktion hätte Roald nicht erwartet. Bjarne war kein Mensch großer Worte, aber wenn man ihn ansprach, verweigerte er normalerweise die Antwort nicht. Während der Honigmacher noch grübelte, was in Bjarne vorging, wurde ihm plötzlich bewusst, dass der Junge wahrscheinlich noch nie in seinem Leben schwimmen war und das Vorhaben der Familie ihm sehr furchteinflößend vorkommen musste.
„Kann es sein, dass Du Angst vor dem Wasser hast?“ freundschaftlich knuffte Roald Bjarne in die Seite. Dieser wand dem Mann den Kopf zu. Fast blitzartig und viel zu schnell, antwortete er trotzig „Ich habe gar keine Angst!“ und schob schmollend die Unterlippe vor.
Abrupt blieb Roald stehen, fasste mit den Händen nach Bjarnes Schultern und drehte ihn zu sich herum, so dass der junge Mann vor ihm stehenbleiben musste. Dieser starrte zu Boden, weigerte sich, Roald in die Augen zu sehen und schnaufte entnervt, weil es ihm gar nicht gefiel, nun reden zu müssen. Denn er wusste, sein väterlicher Freund würde ihn nicht eher weitergehen lassen, bis er zur Antwort bekam, was er wissen wollte. Doch das behagte Bjarne gar nicht. Ja, er hatte Angst vor dem Wasser, in dem er schwimmen lernen sollte. Noch nie war er in mehr Wasser gewesen, als in den kleinen Zuber passte, in dem seine Mutter ihn als kleinen Jungen gewaschen hatte. Und selbst damals hatte er sich nur ungern waschen lassen, denn es war ihm unangenehm, wenn er das Nass ins Gesicht bekam, es aus dem Krug über sein Haar floss und er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Seit seine Mutter nicht mehr da war, hatte er sich zwar täglich gewaschen, jedoch reichte es ihm, dies mit der Wassermenge zu tun, die in einen kleinen Eimer passte. Er wollte nicht in den See, um keinen Preis. Und schwimmen lernen, wollte er erst recht nicht. Was, wenn er ertrinken würde?
Roald seufzte. Ihm war bewusst, dass er die richtige Ahnung hatte und Bjarne nur versuchte, seine Angst zu verstecken.
„Höre mir zu, Bjarne, es gibt nichts, was Du fürchten musst. Leif und ich, sind bei Dir. Selbst Hjördis würde nicht zusehen, wenn Du untergehst. Dir kann nichts passieren.“ seine Stimme klang sanft, jedoch erreichte sie den jungen Mann nicht. Bockig starrte er weiter zu Boden und ließ sich nicht einmal anmerken, Roald verstanden zu haben. Der Honigmacher seufzte. „Nun gut, wenn Du es so gar nicht möchtest, brauchst Du auch nicht ins Wasser gehen. Schau einfach zu, vielleicht bekommst Du später noch Lust, Dich uns anzuschließen.“ Bjarne antwortete nicht, schüttelte nur leicht den Kopf und wand sich aus Roalds Griff, um weiterzugehen. Ratlos schloss der Honigmacher sich ihm an.
Tjark wäre am liebsten gleich mit Kleidern in den See gestürmt. Leif konnte ihn im letzten Moment zurück reißen und unfreundlich anfahren, sich gefälligst erst zu entkleiden. Hjördis hatte sich zwischen halbhohen Grasbüscheln nieder gelassen und wickelte Ylvi aus dem Tragetuch. Sie musste über den Eifer ihres jüngeren Sohnes lachen, der nun von seinem älteren Bruder zu ihr geschleppt wurde, um sich auszuziehen. Im Nu war Tjark nackt und schickte sich an, sofort wieder auf das Ufer zuzurennen, als Roald ihn zurückrief. „Immer mit der Ruhe, junger Mann, Du wirst das Wasser schon nicht verpassen, wenn Du auf uns wartest.“
Ungeduldig hüpfte Tjark von einem Bein auf das andere und feuerte seinen Vater und Bruder an, sie mögen sich bitte beeilen. Er bräuchte ja eigentlich nicht mehr schwimmen lernen, da er überzeugt sei, es längst zu können. Lachend stürmten der Honigmacher und seine Söhne los, nachdem sie alle nackt waren. Das Wasser spritzte, als sie hinein rannten, sich schließlich nach vorn warfen und zu schwimmen begannen. Zumindest Leif und Roald. Tjark, der es ihnen gleichtun wollte, kam erschrocken und nach Luft schnappend, aus den Fluten geschossen und warf sich rückwärts, wieder dem Ufer und flacheren Wasser zu. Roald lachte laut auf, wendete und kam zurück zu seinem jüngsten Spross. „Na, so ganz klappt es wohl noch nicht mit dem Schwimmen, oder?“ dabei zerzauste er seinem Sohn das nasse Haar. Dieser grinste verlegen. „Ja, Vater, ich glaube, das muss ich wohl doch erst lernen.“
In den nächsten Stunden waren der Honigmacher und seine Söhne nicht aus dem Wasser zu bekommen. Tjarks Lippen schimmerten schon bläulich, aber verbissen übte er weiter, was Vater und Bruder ihm immer wieder geduldig vormachten. Er wollte heute schwimmen lernen und würde das auch tun, so hatte er es sich vorgenommen.
Hjördis saß einige Meter entfernt, Ylvi auf dem Schoß, die begeistert in die dicken Händchen klatschte und laut lachte, während sie die Jungen und den Ziehvater im Wasser beobachtete. Hin und wieder versuchte sie, sich Hjördis Griff zu entwinden und auf das Ufer zuzukrabbeln, aber ihre Ziehmutter war schneller und zog sie zurück auf ihren Schoß.
Bjarne saß ein Stück abseits. Er wollte weder bei Hjördis sein, noch dem Geschehen im Wasser zusehen. Eigentlich wollte er ja nicht einmal hier sein. Dabei merkte er selbst, dass er gar nicht wusste, warum er eigentlich grantig war. Niemand hatte ihm etwas getan. Während er grübelte, um sich zu verstehen, trug Roald den zappelnden Tjark aus dem Wasser und setzte das zitternde und frierende Kind neben Hjördis ab. „Wärme Dich einen Augenblick auf, mein Sohn. Dein Bruder und ich schwimmen ein Stück in den See hinaus und sind gleich wieder da. Dann können wir weiter üben.“ Tjark, so gar nicht begeistert davon, zu einer Pause gezwungen zu werden, wollte aufbegehren, aber ein strengerer Blick seines Vater reichte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Doch er wäre nicht Tjark gewesen, wenn er einfach aufgegeben hätte. Roald und Leif waren bereits ein gutes Stück hinaus geschwommen und Hjördis damit beschäftigt, Ylvi einzufangen, die wie ein Wirbelwind auf einen Schmetterling zu krabbelte, der einige Meter entfernt auf einer Distel saß, als er plötzlich aufsprang und zum Ufer lief. Mit lautem Juchzen stürzte er sich ins Wasser, versuchte mit den Armen in der Luft die richtigen Schwimmbewegungen zu machen, während er einfach immer weiter, ins tiefere Wasser lief. Hjördis hatte Ylvi gerade wieder eingefangen, drehte sich herum und sah, dass der Platz, an dem eben noch Tjark gesessen hatte, leer war. Mit einem Blick erfasste sie die Situation zwar sofort, blickte zum See, konnte sich aber vor Schreck nicht rühren, denn sie erkannte gerade noch, wie ihr jüngerer Sohn plötzlich Boden unter den Füßen verlor und unterging. Laut schrie sie auf, so dass selbst Roald und Leif sie hören konnten. Doch sie waren zu weit entfernt, um rechtzeitig bei Tjark sein und ihn retten zu können.
Alarmiert von dem Schrei, erwachte Bjarne aus seinem Grübeln, warf den Kopf herum und sah für einen Moment Tjarks blonden Lockenschopf aus dem Wasser auftauchen. Der Junge schnappte nach Luft, warf einen Arm empor und tauchte sofort wieder unter. Ohne nachzudenken, einfach nur von dem Gedanken besessen, seinen kleinen Freund nicht ertrinken zu lassen, sprang Bjarne auf und lief los. Er stürzte sich ins Wasser, die Stelle, an der er eben noch Tjark hatte auftauchen sehen fixiert und vergaß all seine Ängste vor dem Wasser. Nur noch wenige Meter, dann musste er an der Stelle sein. Wieder tauchte der Junge kurz auf, diesmal schon erkennbar schwächer, als beim letzten Mal und Bjarne warf sich instinktiv nach vorn, begann mit Armen und Beinen zu strampeln, sich wild durch das Wasser zu schieben und achtete nicht darauf, dass die Wellen immer wieder über seinem Kopf zusammenschlugen oder seine voll gesaugten Kleider ihn unter Wasser zu ziehen drohten.
Endlich war er dort, wo Tjark zuletzt aufgetaucht war. Panisch strampelte Bjarne mit Armen und Beinen, hielt sich mehr leidlich über Wasser, aber immerhin ging er nicht unter. Da, etwas vor ihm im Wasser bewegte sich. Er griff danach und fasste Tjarks Arm, an dem er zog, bis der Kopf des Jungen aus dem Wasser kam. Tjark drehte sich zu Bjarne, schlang seine dünnen Ärmchen um dessen Hals und klammerte sich fest an seinen Retter. Dieser wurde nun auch panischer. Er konnte sich selbst kaum über Wasser halten und hatte das Gefühl, dass der kleine Junge ihn hinabziehen würde. Beide keuchten, tauchten unter, kamen wieder hoch und schnappten nach Luft. Als sie wieder untergingen, spürte Bjarne unter seinen Füßen Boden. Er stieß sich mit aller Kraft ab und so schossen sie bis über die Schultern aus dem Wasser. Dabei warf Bjarne sich mit dem Oberkörper nach hinten, dorthin, wo er das rettende Ufer vermutete. Es waren nur wenige Ellen, die er so vorwärts kam, doch mit jedem Mal, wo er sich unter Wasser abstoßen und an der Wasseroberfläche gen Ufer werfen konnte, wurde das Wasser unter seinen Füßen seichter, bis er schließlich stehen konnte. Erschöpft und zitternd, stand er brusttief im Wasser, den weinenden Tjark eng umschlungen und wagte nicht, sich zu rühren. Hjördis stand am Ufer, Ylvi im linken Arm, die entsetzlich schrie und streckte die rechte Hand nach Bjarne aus. Inzwischen war Roald ebenfalls mit kräftigen Zügen bei ihnen angelangt, nahm Bjarne den Jungen ab und übergab ihn Hjördis, die ihn gleich ein sicheres Stück vom Ufer weg zog. Dann wendete sich Roald Bjarne zu, legte ihm den Arm um die Schultern und führte auch ihn aus dem Wasser heraus.
Keuchend saßen die beiden Männer auf den großen Steinen, die vereinzelt am Ufer lagen. Es dauerte eine Weile, bis der Honigmacher genug Atem hatte, um zu sprechen.
„Bjarne, Du Haudegen, Du hast gerade Tjarks Leben gerettet!“ Bjarne schüttelte nur den Kopf, bevor er in Tränen ausbrach. „Ich dachte, Tjark ertrinkt.“ schluchzte er laut, um dann mit bebenden Schultern und weiter nach Luft schnappend, auf dem Stein zu kauern.
Hjördis hatte Tjark inzwischen in ein Wolltuch gewickelt, damit er sich wärmen konnte und Leif heran gewunken, der Ylvi übernehmen sollte. Nun kam sie auf Bjarne zu, umarmte ihn und drückte ihr Gesicht an seine Schulter, um ihren Tränen der Erleichterung ebenfalls freien Lauf zu lassen. „Du bist der Retter meiner Kinder, Bjarne. Erst hast Du Ylvi das Leben gerettet und nun Tjark. Das werde ich Dir nie vergessen!“ schluchzte sie laut und so saßen sie eine ganze Weile weinend und sich im Arm haltend, einfach da.
Für diesen Tag hatte die Familie genug erlebt und brach bald darauf auf. Erleichtert, aber auch noch immer den Schreck dessen in den Gliedern, was sie vor kurzem erleben mussten. Auf dem Heimweg sprach niemand. Jeder hing erschöpft den eigenen Gedanken nach. Plötzlich riss sich Tjark von der Hand seines Vaters los, rannte zu Bjarne, zupfte ihn am nassen Wollhemd und schlang schließlich seine Arme um dessen Bein, während er nur „Danke!“ hauchte.
Später, zurück auf dem Hof und nach dem Abendmahl, druckste Bjarne herum, ergriff schließlich das Wort und verkündete Roald, dass er doch schwimmen lernen wollte. Dieser war überrascht, aber auch froh, diese Worte zu hören, nickte daher und versprach, Bjarne müsse keine Angst haben. „Du hast vielleicht heute keine richtigen Schwimmübungen gemacht, als Du Tjark rettetest, aber Du hast gezeigt, dass Du in der Lage bist, Dich über Wasser zu halten. Mit etwas Übung, wirst Du sicher sehr bald schwimmen können. Und Du wirst sehen, dann dauert es nicht mehr lange und Du hältst Dich selbst für einen Fisch.“ ernst sah er zu dem jungen Mann, der nur den Kopf schüttelte.
„Ich will gar kein Fisch sein, sondern Bjarne bleiben. Aber ich will schwimmen können, wenn wieder ein Kind zu ertrinken droht.“ nuschelte er vor sich hin. Diesmal lachte niemand. Im Gegenteil, ernst sahen der Honigmacher und seine Frau sich an, nickten und dankten in Gedanken den Göttern, dass diese Bjarne zu ihnen geführt hatten.
In der kommenden Woche gingen Roald, Bjarne, Leif und Tjark weiter täglich zum See und übten schwimmen. Manchmal, wenn die Arbeit es zuließ, begleitete Hjördis mit Ylvi die Familie. Verbissen und ausdauernd, übte Tjark nun im flacheren Wasser. Er hatte aus seinem ersten Schwimmabenteuer gelernt, auch wenn es ihm nicht gefiel, dass er gerettet werden musste. Schließlich war er doch, in seinen Augen, bereits ein Mann, der eher Andere rettet, anstatt wie eine nasse Katze aus dem Wasser gezogen werden musste. Aber er hatte eben auch eine wichtige Lektion gelernt: Sich niemals zu überschätzen und damit in Gefahr zu bringen.
Ab jenem Tag, konnte man eine Veränderung an Tjark beobachten. Er schien umsichtiger, berechnender, wenn er etwas plante. Das änderte nichts daran, dass er nun immer öfter auch Streiche seinem Bruder gegenüber ausheckte. Jedoch wirkten diese geschliffener, als zuvor noch seine oft unbedachten Taten und Leif stellte immer öfter fest, dass er auf der Hut sein musste, wollte er Tjarks nächsten Schritten vorausschauend begegnen.
Bjarne lernte ebenfalls schwimmen. Nicht so, dass er sich tatsächlich, wie Roald vorausgesagt hatte, wie ein Fisch im Wasser fühlte, aber eben immerhin gut genug, um sich einigermaßen angstfrei über Wasser halten zu können. Roald ermutigte ihn. „Das wird mit der Zeit schon, glaube mir. Hauptsache ist, dass Du uns jetzt jedenfalls nicht mehr einfach so ertrinkst, wenn Du ins Wasser fällst.“
„Und ich kann die Kinder aus dem Wasser holen, wenn sie untergehen!“ stolz schob Bjarne die Brust heraus und grinste.
Bereits eine Woche früher, als geplant, brachen Roald und Bjarne schließlich nach Uppsala auf. „Je früher wir gehen, je eher sind wir auch wieder zurück.“ der Honigmacher küsste sein Weib zum Abschied innig und streichelte Ylvi, die von Hjördis auf dem Arm gehalten wurde, zärtlich über den Kopf. Tjark saß mit wichtiger und grimmiger Miene auf einer leeren Klotzbeute, die er sich mitten auf den Hof geschoben hatte. In der Hand hielt er ein Stück Holz, das von ihm mit einem kleinen Messer so lange bearbeitet wurde, dass es fast aussah wie ein kurzes Schwert. Und das war auch beabsichtigt, denn noch am Abend zuvor hatte er seinem Vater feierlich gelobt, er würde seine Familie und den Hof verteidigen, wie einer der großen Krieger, von denen Vater ihnen manchmal vor dem Schlafengehen erzählte. Er wollte sich auch nicht von Roald verabschieden. Männer, wie er, brauchten keine rührseligen Abschiedszeremonien.
Bjarne stand bereits neben der guten Mutter und hielt die Lederriemen, die am Geschirr befestigt waren und ihm die Führung der Stute erleichterten. Das nun gut einjährige Hengstfohlen blieb auf dem Hof, auch wenn es aufgeregt im Pferch herumlief und nach einer Möglichkeit suchte auszubrechen, um seiner Mutter zu folgen. Nur Leif hielt sich etwas abseits, mit einem traurigen und zugleich etwas beleidigten Blick. Er wäre zu gern mit seinem Vater und Bjarne nach Uppsala gereist, doch ihm wurde geheißen auf dem Hof zu bleiben.
Roald seufzte und ging auf seinen älteren Sohn zu, beugte sich zu ihm hinunter und knuffte ihm liebevoll gegen die Schulter. „Noch immer grimmig mit mir, mein Sohn?“ er lächelte Leif an. Dieser schniefte vernehmlich, unterdrückte jedoch krampfhaft die Tränen.
„Vater, ich weiß doch, dass ich nicht mitkommen kann. Mutter, Tjark und Ylvi brauchen mich hier. Und ich verstehe ja auch, dass Bjarne nicht an meiner Stelle hierbleiben kann, weil er die Stute besser führt, aber ich würde so gern auch einmal in die Stadt reisen, in der unser König lebt, um ihn vielleicht sogar zu sehen. Bereits beim letzten Opferfest konnten wir dort nicht hingehen, weil Mutter Tjark erwartete und der Weg zu lang und beschwerlich für sie war.“ geräuschvoll zog er die Nase hoch.
„Aber Leif, natürlich wirst Du irgendwann mitkommen, nach Uppsala. Wenn wir unsere Waren dort wirklich so gut verkaufen können, werden wir auch im kommenden Jahr wieder dorthin gehen, wie in jedem folgenden Jahr auch. Wer weiß, vielleicht lässt sich die gute Mutter im nächsten Jahr sogar von Dir gut führen und Du kannst, statt Bjarne mitkommen. Wir werden sehen, aber glaub mir, eines Tages wirst auch Du mit nach Uppsala gehen.“
„Und wenn die Waren sich dort nicht gut verkaufen lassen?“
Roald überlegte kurz. „Dann spätestens zum nächsten Opferfest, das verspreche ich Dir.“
Noch immer traurig, aber schon ein wenig getröstet, seufzte Leif. „Kommt heil und bald wieder nach Hause, Vater, und habt viel Erfolg auf dem Markt.“ der Junge richtete sich gerade auf und sah seinem Vater tapfer in die Augen. Roald klopfte ihm die Schulter, zwinkerte kurz und wandte sich dann an Bjarne. „Auf geht’s!“ rief er und schon setzten sich Bjarne und die Stute mit dem Wagen in Bewegung.
Trotz des schwer beladenen Karren, kamen sie schneller Vorwärts, als sie erwartet hatten. Bereits am Abend des dritten Tages lag die Hauptstadt vor ihnen und Bjarne war gebannt von all den unzähligen Straßen, den vielen Menschen, dem Trubel und der Vielfalt der Gerüche. Sowohl der angenehmen und verlockenden, als auch den abstoßenden, die zumeist vom Unrat oder den frei in den Gassen herumlaufenden Tieren entströmten. Sie reihten sich ein und ließen sich mit den Massen von Menschen und Wagen mitziehen, die in die Stadt wollten, während neben ihnen ein anderer Strom die Menschen aus der Stadt herausführte. Haus an Haus, in unterschiedlichen Größen, reihte sich stellenweise aneinander und selbst da, wo kleine Lücken zeigten, dass die Langhäuser Grundstücke hatten, waren diese doch so winzig, dass Bjarne sich kaum vorstellen konnte, wie die Familien darin genug Nahrung anpflanzen konnten, um davon zu leben.
„Viele der Häuser haben nach hinten ihre Gemüsegärten.“ erklärte Roald, der Bjarnes Gedanken erraten hatte „Aber hier in der Stadt betreibt kaum jemand genug Landwirtschaft, um ausschließlich davon leben zu können, wie wir es tun oder Du es von Deinem Vater her kennst. Hier haben meist Handwerker und ihre Arbeiter und Händler ihre Häuser. Sie leben vom Verkauf ihrer Waren und tauschen oder kaufen dafür das, was sie zum Leben brauchen. Auch Beamte des Königs, genauso wie einige hoch angesehene Krieger leben in den prächtigeren Häusern. Und schau, dort drüben,“ er deutete auf ein imposantes Bauwerk aus mächtigen Baumstämmen, vor dem eine große Schale mit brennendem Öl stand „da ist auch einer der vielen Tempel der Stadt. Jeder Gott und jede Göttin hat einen eigenen Tempel. Im Zentrum befindet sich die große Tempelanlage, die wie eine eigene Stadt wirkt. Dort findet auch alle neun Jahre das große Opferfest statt. Warst Du schon einmal auf dem Opferfest?“ kaum hatte Roald die Frage gestellt, schalt er sich bereits. Natürlich war Bjarne noch nie auf einem der Opferfeste gewesen. Und so erklärte er dem jungen Mann, dass aus dem ganzen Land Menschen zum Opferfest in diese Stadt kämen, um den rituellen Opferungen beizuwohnen und die vielen Märkte zu besuchen. Auch ein großes Thing würde abgehalten, bei dem der König persönlich Recht spräche. Bjarne lauschte fasziniert und doch etwas angewidert. Es missfiel ihm zu hören, wie all die Tiere, neun einer jeden Art, als Opfer in den Bäumen erhängt wurden. Für ihn waren die Götter zwar auch keine sanften Lämmer, aber es wollte nicht in seine Vorstellungskraft vordringen, dass sie den Tod forderten, um sich besänftigen zu lassen.
Je weiter sie in die Stadt hinein kamen, je mehr schien der Strom, von dem sie sich hatten mitziehen lassen aufzulösen. Zwar waren auch hier unzählige Menschen, sowie ihre Karren und Wagen, jedoch gingen und liefen sie in verschiedene Richtungen.
„Wo werden wir wohnen oder müssen wir hier auf den Straßen schlafen?“ verunsichert schaute Bjarne sich um und Roald begann zu lachen. „Nein, keine Sorge, mein Freund. Gunnmarr hat mir einen Freund von ihm empfohlen. Halfdr ist Pfannenschmied und wir sollen ihn von Gunnmarr grüßen. Mit etwas Glück, wird er uns einen Platz geben können, wo wir während unseres Aufenthalts in der Stadt schlafen können.“
Und sie hatten Glück. Zwar war es schon fast dunkel, bis sie sich zu Halfdr durchgefragt hatten, aber sie wurden von dem älteren Mann freundlich empfangen, nachdem sie an seine Tür geklopft und Gunnmarrs Grüße ausgerichtet hatten. Es war ein eher bescheidenes Haus, in dem der Pfannenschmied allein mit einem Gesellen lebte, doch er bot Roald und Bjarne gern für die nächsten Tage eine Unterkunft in seinem beengten Heim. Stute und Wagen wurden in einem kleinen Stall, hinter der Hütte, bei einer Ziege und ein paar Hühnern untergebracht. Zum Dank für die freundliche Aufnahme, stellte Roald einen kleinen hölzernen Krug Met auf den Tisch, sowie Beutelchen mit getrockneten Pilzen und Beeren, ebenso Fischen, die Roald in der kleinen Bucht gefangen und Hjördis in Salz eingelegt hatten.
Es gab mehrere Märkte in der Stadt und Halfdr verriet dem Honigmacher, auf welchem sich bevorzugt Händler aus dem Süden und Osten nach Waren umschauten, die in ihrer Heimat begehrt waren. Auch bei wem sie wie viel zu entrichten hatten, um einen eigenen Marktstand eröffnen zu können, erfuhren sie von dem Pfannenschmied, so dass sie gleich am nächsten Morgen aufbrechen und bereits verkaufen konnten, als die Stadt gerade erst richtig zu erwachen schien.
Der Platz, an dem sie ihren Marktstand aufstellten, oder besser, ihren Wagen ab luden und so die Waren anboten, befand sich unweit des Hafens, den man am Fluss Fyrisån errichtet hatte. Händler aus so vielen, Bjarne unbekannten Ländern, landeten hier mit ihren Schiffen, mit denen sie von der Ostsee aus in die Flussmündung fuhren, kauften und verkauften. Der junge Mann war fasziniert von der Vielfalt der ihm fremden Sprachen, den Kleidungsstilen oder Aussehen dieser Menschen. Hier gab es Dinge zu kaufen, die er noch nie gesehen hatte und von denen er nicht einmal wusste, wie man sie verwendete. Einmal entfernte sich Bjarne neugierig ein wenig vom Stand und betrachtete sich Waren anderer Händler, als eine Gruppe Jugendlicher ihn umringten. Sie lachten über ihn, stießen und traten nach ihm und als er schließlich entkommen konnte, um zu Roald zurück zu laufen, folgten sie ihm, während sie Steine nach ihm warfen. Bjarne war völlig irritiert, wusste nicht, was er falsch gemacht hatte, um den Zorn der Heranwachsenden zu erregen. Ein Stein traf ihn am Kopf. Es schmerzte fürchterlich und Bjarne begann im Laufen wild um sich zu schlagen. Tränenblind rannte er fast in Roald hinein, der die Gruppe auf sich zurennen sah und seinem Freund zur Hilfe kommen wollte. Er packte Bjarne, schob ihn hinter sich und stellte sich mit verschränkten Armen und finsterem Blick vor Bjarnes Verfolger, die abrupt stehenblieben und Anstalten machten, auch gegen den Honigmacher zotige Sprüche zu klopfen. „Wenn Ihr Euch nicht umgehend davon schert, werdet Ihr Euren Müttern niemals mehr verzeihen, Euch geboren zu haben.“ knurrte er finster und ein schlaksiger Junge, scheinbar der Anführer der Bande, trat mutig hervor um sich leidlich mutig vor Roald aufzubauen. „Was willst Du? Wer bist Du überhaupt, dass Du glaubst, uns daran zu hindern, den Tölpel aus unserer Stadt zu vertreiben? So welche wie den“ er zeigte auf Bjarne „wollen wir hier nicht haben.“ dabei machte er einen Schritt nach vorn, woraufhin auch seine Gefährten ihm folgten. Schienen sie auch zu glauben, in der Gruppe stark genug zu sein, sich mit einem erwachsenen Mann und dem so anders aussehenden Bjarne anlegen zu können, wurden sie schneller eines Besseren belehrt. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Roald einen Schritt vor gemacht, den Jungen gegriffen und mit einer Wucht gegen seine Kameraden geschleudert, dass diese in einem wilden Durcheinander auf die staubige Straße purzelten. Roald wollte noch einmal nachsetzen, als die Jugendlichen von vier Männern gepackt wurden. Sie waren groß, muskulös und trugen einen Brustpanzer aus Lederplatten, sowie ein Fell, das über ihren Schultern lag. Roald wusste, dies waren Krieger des Königs, hielt inne und nickte den Männern zu. Einer von ihnen, der sich den Burschen gegriffen hatte, den Roald eben noch seinen Freunden entgegen geschleudert hatte, wies, mit dem Jungen am Arm, auf Bjarne. „Haben diese Bengel Euch belästigt?“ fragte er in hartem Tonfall. Roald sah sich kurz nach seinem Begleiter um, wandte sich dann wieder dem Krieger zu und antwortete „Sie haben meinen Gehilfen verspottet, angegriffen und gejagt.“ Der Soldat nickte. „Wir dulden ein solches Benehmen nicht. Die Burschen werden wir mitnehmen und einsperren, bis unser Hauptmann festlegt, welche Strafe sie erhalten.“ damit drehten die Männer sich um und gingen, ohne ein weiteres Wort, während sie die nun plärrenden Jungen mitschleiften.
Bjarne stand noch immer da, wohin Roald ihn geschoben hatte und zitterte am ganzen Körper. Noch nie war ihm von Fremden so viel Hass entgegengebracht worden. Auf dem Hof seines Vaters wohl. Dort war er nie willkommen, aber er kannte die Menschen, die ihn stießen von Geburt an. Von ihnen wusste er, dass sie ihn nicht mochten, wenn auch nicht, warum dies so war. Fremden war er kaum begegnet und wenn, hatten diese ihn meist völlig ignoriert, denn sie respektierten Fjodors Entscheidung, Bjarne auf seinem Hof leben zu lassen. Roald ging nun zu ihm, legte ihm den Arm über die Schultern und versuchte Bjarne zu beruhigen. „Das waren dumme Kinder. Dir werden noch oft dumme Menschen begegnen, die ihnen ähneln. Versprich mir, dass Du Dir von solchen Tölpeln nie einreden lässt, Du seist schlechter als sie!“
Bjarne schluchzte. „Hat Hjördis solche Menschen gemeint, als sie sagte, wenn ich dumm bin, würde sie sich eine Welt voller Dummer wünschen?“ Roald wusste von dem Gespräch, das ihm Hjördis berichtet hatte und nickte.
„Ja, mein Freund, solche Menschen meinte mein Weib. Das sind die wahren Dummen dieser Welt und es gibt sie leider zu Unzähligen.“
„Ich werde mich nicht mehr von Dir entfernen, solange wir hier sind.“ versprach Bjarne leise „und auch wenn sie mir wehgetan haben, tun sie mir leid. Wenn sie tatsächlich dumm sind, wissen sie doch gar nicht, warum sie mich hassen.“
Wieder einmal konnte Roald nur den Kopf über Bjarne schütteln. Was auch immer geschah, der Junge versuchte in allem nur das Gute zu sehen. Im Stillen bewunderte der Honigmacher seinen jungen Freund dafür.
Innerhalb von nicht einmal vier Tagen, hatten sie alle Waren verkauft. Roald konnte kaum fassen, zu welchen Preisen ihm ein Händler aus dem Süden das gesamte Wachs, die restlichen Kerzen und sogar sechs kleine, noch verbliebene Fässer Met abgekauft hatte. Gerade einmal acht Töpfchen Honig waren nach dem Handel noch verblieben. Vier tauschte er gegen Säckchen mit feinem Salz ein, zwei weitere gegen einen Beutel helles Mehl, das ihm eine Frau anbot. Sie selbst hatte es bei einem Händler eingetauscht, der von südlich der Ostsee kam. Er pries ihr dieses Weizenmehl an. So fein, dass Könige sich nur davon Brot und Naschwerk backen lassen würden. Natürlich hatte sie schon vom Mehl aus Weizen gehört. Dieses Getreide, das im rauen Klima des Nordens so gar nicht recht gedeihen wollte, wurde oft von den Händlern hoch gelobt, wenn sie feststellten, dass ihnen die Backwerke aus dem dunklen Roggenmehl, die sie im Norden vorgesetzt bekamen, zu herb erschienen. So wurde Weizenmehl im Norden zur begehrten Ware, doch nicht alle Menschen im Land Svitjod, konnten ihm eine Vorliebe abgewinnen. Sie waren seit Generationen Roggen- und Gerstenmehl gewohnt und taten sich mit Neuem schwer. So kam Roald zum ersten Säckchen Weizenmehl, das er Hjördis mitbringen würde. Und schmeckte ihnen, was sie daraus buk, so nahm er sich fest vor, würde er ihr in jedem kommenden Jahr, indem sie so erfolgreich handeln konnten, einen Beutel Weizenmehl mitbringen.
In einer kleinen Ledertasche, am Gürtel des Honigmachers, klimperten Silbermünzen aus fernen Ländern und er wusste, dass er dafür in Aros mehr kaufen konnte, als sie zum Leben im kommenden Jahr bräuchten. Trotzdem beschloss er, nur etwas mehr zu kaufen, als Hjördis ihm aufgetragen hatte und einen kleinen Teil der Münzen beiseite zu legen, um für Notfälle noch etwas zu haben. Den Rest wollte er verwenden, um Geschenke für die Familie zu kaufen. So erstand er für Hjördis zwei kleine Ballen feines, aber dicht und warm gewebtes Tuch, so wie vier schöne, schlichte Fibeln, mit denen sie und Ylvi ihre neuen Gewänder zusammenhalten konnten. Bei Halfdr bekam der Honigmacher, im Tausch gegen die verbliebenen beiden Honigtöpfe, noch einen kleinen Kochkessel für sein Weib. Zwar war der Kessel weit mehr wert, als die beiden Honigtöpfe, aber der Pfannenschmied ließ es sich nicht nehmen, Roald diesen Handel aufzudrängen. Ihm waren die Gäste, die ihm sein alter Freund Gunnmarr geschickte hatte, in den wenigen Tagen ans Herz gewachsen und so verabredeten sie, dass Roald auch im nächsten Jahr wieder bei Halfdr wohnen würde. Dann, so versprach der Honigmacher, würde er dem alten Pfannenschmied wieder ein Fass Met mitbringen.
Im Gepäck hatten sie, als Roald und Bjarne schließlich aufbrachen, noch ein Messer mit Knochengriff für Leif und ein kleines, hölzernes Schiff für Tjark, das einem großen Drachenboot verblüffend glich. Auch Bjarne bekam ein Messer, das er stolz an seinen Gürtel band. Zudem überreichte der Honigmacher seinem Freund noch ein Lederband, an dem ein kleines Stück Bronze hing, in die ein Pfeil geritzt war, der nach oben zeigte. „Dies ist eine Rune, Bjarne. Runen sind Schriftzeichen, haben aber auch eine besondere Magie. Diese steht für Mut und Kraft, die ich Dir auf ewig wünsche.“
Immer wieder tastete der junge Mann in den nächsten Tagen ihrer Reise nach der Rune. Er hatte einen Schutz, etwas, was ihm Stärke und Selbstbewusstsein verlieh. Und tief im Inneren spürte er, dass die Rune bereits wirkte, denn wenn er nun auch wusste, was Hjördis mit den wahren dummen Menschen meinte, war er sich sicher, dass sein Amulett ihm half, ohne Zorn oder Angst, zukünftig auch solchen Menschen begegnen zu können. Sie hatten nicht mehr die Macht, ihn zu verletzen. Sie konnten es einfach nicht, denn etwas war stärker, als sie: Das Bewusstsein, von seiner Familie so geliebt und geachtet zu werden, wie er eben war. Einfach nur Bjarne.