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Winter

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Die letzte Wärme, die das Jahr 1617 uns brachte, war tatsächlich die des Feuers gewesen. Die nun folgenden Wintermonate waren bitterkalt und verschärften unsere Leiden zusätzlich. In den wenigen hellen Stunden des Tages waren alle, die sich bewegen konnten, damit beschäftigt, in den schwarzverkohlten Trümmern zu wühlen, noch ansatzweise Brauchbares auszusortieren und vor dem Nachbarn zu schützen.

Wir Kinder wurden in den Wald geschickt, um Bucheckern und Reisig zu sammeln, denn sobald die Sonne untergangen war, wurden Hunger und Kälte unerträglich. Mit knurrenden Mägen und vor Kälte schlotternde Gliedern hockten sich die Familien enganeinander gedrängt um kümmerliche Feuerchen und beäugten misstrauisch und neidisch ihre ehemaligen Nachbarn und Freunde. Die Not war groß, von den Wintervorräten war nichts geblieben.

Auch wenn wir dank der Weisheit meines Großvaters einige Vorräte hatten retten können, ging unser Sack Mehl doch schnell zur Neige und unsere Decken schützen nur unzulänglich vor der grimmigen Kälte des hereinbrechenden Novembers. Unsere paar geretteten Hühner legten im Winter keine Eier und wurden mit jedem Tag magerer. Angesichts hungernder Menschen wäre es Verschwendung gewesen, sie leben zu lassen.

Der Amtsvogt, der am Tag des Brandes in Lauenstein gewesen war und erst am nächsten Morgen wieder in Wallensen eintraf, wendete sofort sein Pferd, um sich auf dem Amt Lauenstein dafür einzusetzen, dass uns und ihm geholfen würde.

Doch wenn Gott auch alles sieht auf Erden, verließen sich seine Stellvertreter lieber auf die eigenen Augen. Und so kam zunächst und ohne Eile eine Abordnung würdiger alter Herren aus dem Amt Lauenstein, um zu prüfen, ob es uns auch wirklich schlecht genug ginge.

Sie fanden alles zu ihrer Zufriedenheit elend und waren bereit, für uns ein gutes Wort bei Herzog Friedrich-Ulrich einzulegen. Schon um ihre Einkünfte zu retten, denn der zehnte Teil all unseres Wohlstandes, unsere Ernten und Vorräte gehörte von Rechts wegen ihnen und davon war nicht viel übriggeblieben. Nach dieser Besichtigung verschwanden sie. Zurück in die vor dem eisigen Wind schützenden Mauern ihrer Lauensteiner Burg, froh den hungrigen und frierenden Menschen in Wallensen den Rücken zukehren zu können.

Wir hofften das Beste und fürchteten das Schlimmste. Beim letzten Brandunglück hatte Herzog Erich zwar großzügig, aber ungehindert von jeglicher Ortskenntnis, 100 Eichenbalken und 250 Eichensparren im Solling zuweisen lassen, mehrere Tagesreisen von Wallensen entfernt und damit völlig nutzlos. Erst nach weiteren Bittbriefen und vielen kalten Wintern bekamen die Wallenser damals schließlich Holz aus dem umliegenden Forst.

Holz aus den eigenen kleinen Waldstücken der Bauern war kaum zu gebrauchen, durch die vielen Brände und Nöte der letzten Jahrzehnte waren die großen Bäume so gut wie alle gefällt worden. Übrig waren nur geschmeidige junge Stämme, in die man, wie in Kinder, große Hoffnungen setzten konnte, die zunächst aber noch der Pflege und Rücksicht bedurften.

Während wir warteten, suchten und bauten wir, was eben ging. Der Schmied Senkfried hatte seine Werkzeuge unter der Asche wiedergefunden und die Holzgriffe notdürftig erneuert. Die anderen Männer untersuchten jeden schwarzen Holzbalken auf ein brauchbares Innenleben, hauten und sägten die helleren Teile heraus und zeigten sie anschließend vor wie einen Schatz.

Großvaters Schatz, das Mühlrad hatte den Brand, im Saalewasser liegend, fast unbeschadet überstanden. Und hätte die Winterzeit nicht alles Wasser zu Eis erstarren lassen, hätte es schon wieder wertvolle Dienste leisten können. Denn die Einwohner von Hakenrode, die unserer Kirchengemeinde angehörten, beteten nicht nur mit und für uns. Nein, sie halfen auch so gut sie konnten mit ein wenig Getreide, getrockneten Früchten und etwas Milch für die Kinder, die sie sich vom eigenen Mund abgespart hatten. Sie hatten es nicht vergessen, dass ihre Vorfahren, ihre Eltern und Großeltern noch bis vor kurzem immer wieder Schutz in unseren Stadtmauern gefunden hatten, wenn die Spiegelberger Herren und andere mit ihnen spielten.

Trotz der Unterstützung durch die Hakenroder läutete die Bürgerglocke oft in den nächsten Wochen. Auch wenn der Tod eines Kindes gleich nach der Geburt nichts Ungewöhnliches war, machte die Not daraus eine schlimme Gewohnheit. Keiner der sechs Säuglinge, die in den zwei Monaten nach dem Brand geboren wurden, überlebte die ersten Stunden. Zu hungrig waren die werdenden Mütter gewesen, zu schwer hatten sie gearbeitet und zwei von ihnen fehlte die Kraft, nach der Geburt wieder aufzustehen, und so läutete die Glocke für Mutter und Kind gleichzeitig.

Auch für viele der Alten versammelte sich die Gemeinde zur letzten Feier. Die Base Klingbeil hatte sich von ihrer Verzweiflung nicht erholt, Hunger und Kälte hatten ein Übriges getan. Am Tag des heiligen Nikolaus standen wir vor ihrem mühsam in die gefrorene Erde gehacktem Grab, in das sie, nur in ein spärliches Tuch gewickelt herabgelassen wurde. Das Holz war zu kostbar für Särge in diesen Zeiten.

Ich weinte und weinte. Vor Kummer, weil sie meine liebste Verwandte gewesen war, weinte vor Hunger und weil meine Eltern immer weniger sprachen und ich in ihren Augen nur Hoffnungslosigkeit sah. Selbst Hans, der bisher trotz aller Nöte immer noch Kraft gehabt hatte mich zu ärgern, schlich sich nur noch stumm und frierend vom Kirchhof und arbeitete weiter. Um sich für einen stillen Moment nur der Trauer zu ergeben, war es zu kalt.

Marthe

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