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Weihnachtswunder

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Als es Weihnachten wurde, geschahen einige Wunder, die sich auf leisen Sohlen herangeschlichen hatten, um den Geburtstag des Herrn besonders prachtvoll zu gestalten.

Der Magister Heisius hatte mit großem Nachdruck in den letzten Wochen dafür gesorgt, dass das kümmerliche und erschöpfte Häufchen Wallenser das Beten nicht vergaß. Jeden Morgen hatte die Marienglocke uns in die Kirche gerufen, unser Gebet überwacht und uns einen tiefen Atemzug gegönnt, bevor sie uns wieder an unsere Arbeit schickte. Am Morgen des 24. Dezember jedoch blieb die Glocke stumm und die Kirchentür verschlossen. Der Magister Heisius stand davor.

„Geht arbeiten!“, sagte er nur. „Ihr werdet hören, wenn es soweit ist.“

Keiner wagte zu widersprechen. Unsicher schlichen alle zurück zu ihren Holzbalken und Äxten, zum Steine sammeln und Reisig klauben.

Es wurde Mittag in Wallensen, für uns normalerweise ohne große Bedeutung, denn zu essen gab es nichts, heute aber von ängstlicher Erwartung begleitet. Nichts passierte, die Kirchentür blieb geschlossen.

Allmählich brach die Dämmerung herein und das Arbeiten wurde schwieriger. Wir sammelten unsere Werkzeuge, klopften so gut es ging unsere Kleider aus und wischten mit einem Tuch über unsere immer rußigen Gesichter.

Gerade als meine Mutter der hungrig weinenden Louise ihren Daumen in den Mund gesteckt hatte, um sie zu beruhigen, begann es zu läuten.

Eine nach der anderen setzten sich alle vier Glocken in Bewegung. In das leise Bim-Bim der Beichtglocke fiel das Lachen der Marienglocke ein, die tiefe Stimme der Bürgerglocke trug die anderen noch höher und schließlich vergaß sogar die Uhrglocke ihr stündliches Pflichtbewusstsein und ließ sich anstecken. Ich hatte das Gefühl, glänzende Silber- und Bronzetöne in den dämmrigen Himmel schweben zu sehen, in feinen Wirbeln und kräftigen Strahlen.

Zum ersten Mal seit dem Brand läuteten die Glocken wieder zusammen und ihr mächtiges Lied begleitete uns in die Kirche. Ich ging zwischen den Erwachsenen und weinte. Hunger und Kummer hatten meinen Körper schwankend gemacht, der überirdische Klang holte meine Seele ab und ich wäre bereit gewesen zu sterben und mit ihm in den Himmel zu ziehen.

Ich war so schwach, dass ich nicht begriff was ich sah, als wir die Kirche betraten. Hinter der Kirchentür wurde es dunkler und auch wieder nicht. Es wurde nicht wärmer als draußen, aber irgendwie doch. Es roch nach Feuchtigkeit, verwahrlosten Menschen und schmutziger Kleidung und nach etwas ganz anderem, ungewohntem.

Die Menschen hinter uns drängten sich durch die Seitentür und schoben uns in Richtung Altar. Dort brannten zwei große Kerzen aus gelbem Bienenwachs. Ihr Licht erschien unwirklich. Zwischen ihnen hing ein neues Kreuz und erstrahlte in warmen Farben. Zwei weitere Kerzen steckten in den Wandleuchtern zwischen den Fenstern und erhellten den Raum.

Wochenlang war für uns die Sonne einzige Lichtquelle gewesen und die hereinbrechende Dunkelheit machte unsere Augen nutzlos. Und heute, am Heiligen Abend, hatte der Magister Heisius uns das Licht wiedergegeben. Zu Ehren Jesu und zu seinem Geburtstag.

Dieses Licht erschien mir als ein Wunder und wie in Trance erlebte ich die Predigt des Magisters, seine schönen Worte und das Singen der Gemeinde. Draußen war es dunkel, drinnen war es hell und durch die vielen Menschen warm. Ich wurde ohnmächtig.

Mein Vater trug mich nach Hause. In unser kümmerliches Zuhause, was uns doch so kostbar war. Die kleine Hütte an der Stadtmauer, aufgebaut aus den Resten verkohlter Balken, dort, wo noch vor kurzem unsere prächtige Mühle gestanden hatte, notdürftig gedeckt mit trockenem Gras, schützte uns, wenn auch nicht vor Kälte doch wenigstens vor Regen und Schnee. Meine Mutter hatte aus gemahlenen Bucheckern einen Fladen gebacken, um den wir uns hungrig scharrten. Und Hans hatte noch eine Überraschung für uns.

Bei unserer Flucht aus der brennenden Stadt hatte er den Weihnachtsschinken gerettet und trotz aller Hungersnöte der letzten Tage für uns aufgehoben. In einem geheimen Versteck, das er uns nicht verraten wollte, hatte er ihn aufbewahrt für Weihnachten.

„So wie es sein soll!“, sagte er stolz, während er für jeden eine dicke rote Scheibe davon abschnitt.

Adam, der ohne Familie war und auch nach dem Brand bei uns untergekommen war, hatte für jedes Kind aus dem Kern verkohlter Holzreste ein Spielzeugtier geschnitzt. Hans bekam ein Pferd, ich eine Katze und sogar Louise erhielt einen rundlichen, schuppigen Fisch, den sie mit ihren kleinen Händchen fassen konnte.

Am nächsten Morgen rumpelte ein Leiterwagen, gefolgt von einigen Männern und Frauen auf das Mühlentor zu. Voller Aufregung liefen Hans und ich ihm entgegen. Er war mit Getreidesäcken, einigen verschnürten Bündeln und kleine Päckchen beladen. An der Seite hingen kopfüber drei Hühner und krakeelten ärgerlich in der Winterluft.

Der Kutscher lenkte den Wagen auf den Marktplatz und sprang herunter. Es war der Bürgermeister von Thüste, der sich mit einigen Bauern auf den Weg nach Wallensen gemacht hatte. Eilig wurden die Consules Schmides und Bleibaum geholt, um den verheißungsvollen Besuch würdig zu empfangen, alle anderen rannten so schnell sie konnten dazu.

„Liebe Wallenser!“, begann der Bürgermeister von Thüste. „Wir haben euch nicht vergessen in eurer Not. Es war keine gute Ernte in diesem Jahr und wir haben selber gerade genug zum Leben. Aber euer Unglück ist auch unser Unglück und wir fühlen mit euch. So haben wir heute an Weihnachten beschlossen zu geben, was wir können. Jeder Thüster das, was er entbehren kann. Es ist nicht viel, etwas Mehl und Getreide, einige Hühner, wenig Butter und Stoff, aber vielleicht kann es etwas von der Not lindern, die euch quält.“

Er winkte einigen Männern, die begannen, die Gaben abzuladen und auf dem Marktplatz zu stapeln. Der Consule Schmiedes drückte ihm und allen die mitgekommen waren, mit Tränen in den Augen die Hände und alle Wallenser taten es ihm nach.

„Danke“, hörte man es flüstern. Immer wieder „Danke“.

Marthe

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