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Die Bürgerglocke

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Es war Spätsommer geworden. In Wallensen herrschte rege Geschäftigkeit und immer noch viel Bautätigkeit. Nachdem die Bürger ihre Häuser mit dem zuerkannten Holz stabiler als je zuvor errichtet und mit Stein statt mit Stroh gedeckt hatten, wandten sie sich ihrer Kirche zu.

Mit dem besten Ackerwagen, der zu finden war, reichlich mit bunten Bändern und Blumen geschmückt und von den schönsten Pferden des Ortes gezogen, kam die große Bürgerglocke nach Wallensen, für die jeder Wallenser soviel dazu gegeben hatte, wie er eben erübrigen konnte. In einem langen Umzug, angeführt durch die Bürgermeister Jasper Schmides und Curd Bleibaum sowie dem Magister Ludolfus Heisius, gefolgt von allen Wallenser Bürgern kam die in der Sonne leuchtende Bronzeglocke durch das Niedertor herein und fuhr durch alle Straßen des Dorfes.

Noch nie im Leben hatten wir Kinder so etwas Schönes von Nahem gesehen. Als der Wagen hielt, betrachteten wir die geprägten Bilder auf der Glocke. Mir gefiel besonders Maria mit dem Rind auf einer Mondsichel. Hans lief neben dem Wagen her und brüstet sich nachher, dass er das Relief des Löwenmedallions auf der Glocke berührt habe.

„Ich habe sie angefasst und sicher habe ich jetzt Goldstaub an den Fingern“, erzählte er Adam und mir in ehrfürchtigem Flüsterton, als wir zurück in der Mühle waren.

„Jetzt werde ich meine Finger nie mehr waschen, denn dort sitzt mein Reichtum.“

Ich schwankte, ob ich ihm glauben sollte, aber das mit dem Händewaschen nahm er meist sowieso nicht besonders genau. Ob unter dem Schmutz tatsächlich Gold war, konnte ich nicht nachprüfen und so ließ ich es darauf beruhen.

Mit einem Seilzug und sechs kräftigen Ochsen wurde die Glocke hoch in den Kirchturm gezogen. Alle sperrten Münder und Nasen auf, als sie gefährlich schwankend immer höher schwebte, bis der Magister Heisius energisch auf das Singen eines kräftigen Liedes drang, um die neue Glocke zu ehren.

1617 gestiftet von den Wallenser Bürgern und geweiht, hängt sie hier immer noch im Kirchturm. Sie ist nicht die Glocke, die der Sage nach mit Schwung in das Sumpfgebiet flog, welches heute Glocksee heißt, auch wenn man ihr eine solche Verzweiflungstat angesichts der kommenden Ereignisse wirklich hätte nachsehen können. Nein, die Bürgerglocke schwingt, auch nach vier Jahrhunderten und einigen Ausflügen in den Zeiten der Weltkriege, noch dort, wo sie an jenem denkwürdigen Tag ihren Platz fand.

Und ich, die ich einst Marthe war und jetzt mit den Glocken die Geschichte Wallensens begleite, lasse sie noch heute alleine sprechen, wenn ein Einwohner Wallensens sein Leben vollendet hat. Den Bürgerschauer schicken wir dem Verstorbenen als achtungsvolles Geschenk und euch Lebenden als einen Moment, in dem sich das Nachdenken lohnt.

Welch wunderbares Erlebnis, als die geweihte Glocke schließlich zum ersten Mal zusammen mit den anderen drei Glocken und Glöckchen in den besonderen Choral einstimmte, den sie seither gemeinsam Sonn- und Feiertags durch das Tal schweben lassen.

Noch im gleichen Jahr, wurde an Galli, im Monat Oktober 1617, meine Schwester Louise getauft. Es war die erste Taufe in meiner Familie, die ich in der Kirche miterlebte, denn Louise war das erste meiner jüngeren Geschwister, bei dem man sich in aller Ruhe an Gott wenden konnte, um seinen Segen und Schutz für sie zu erbitten.

Und ich war so stolz. War ich doch der festen Überzeugung, dass nur der durch meinen Mut herbeigebrachte Trank der Kräuterfrau dieses Ereignis möglich gemacht hatte. Es schien mir also nur recht und billig, dass die Glocken bei unserem Eintritt in die Kirche in all ihrer Großartigkeit läuteten.

Das wunderschöne neue Taufbecken aus hellem Sandstein, erst im Frühjahr desselben Jahres gestiftet von der Schwester unseres vertrauten und gerade verstorbenen Magisters Buchholz, es schien zu leuchten, als Louise darüber gehalten wurde, und ich wunderte mich nicht. Es passte zu dem Wunder von Louises kräftiger Stimme, mit der sie ihre Lebendigkeit der ganzen Kirche verkündete.

Als meine kleine Schwester während des Gottesdienstes ruhiger wurde und schließlich auf dem Arm meiner Mutter einschlief, ließ ich heimlich meine Gedanken schweifen. Der Magister Heisius war für seine wohltönende Stimme ebenso bekannt, wie für seine Dichtungen und so ließ ich mich in der dämmrigen Kühle der Kirche von seinen Worten forttragen und war bald auf meinen eigenen Wegen unterwegs.

Durch das Bachbett führten sie mich erneut zu der Kräuterfrau, die ich bei mir selbst die ‚Heilerin‘ nannte. Ich stellte mir ihr Gesicht vor und überlegte, was ich darin hätte lesen können, als sie mir sagte, ich würde den Wunsch haben, etwas zu sehen, was nicht von dieser Welt sei. Von einem Jahrzehnt, das noch vergehen würde, hatte sie gesprochen. Dann würde ich schon eine richtige Frau sein und wahrscheinlich verheiratet. Auf keinen Fall würde ich allerdings den Ludwig von gegenüber heiraten, da war ich mir sicher, denn der hatte ein zu kurzes Bein und schielte ganz entsetzlich.

Meine Mutter stieß mich unsanft an, als wir zum Abschlussgebet und Segen von den harten Holzbänken aufstehen mussten. Ich kehrte in die Gegenwart zurück und fragte nun betend Gott, ob ich wohl ein bisschen stolz auf meine bewiesene Tapferkeit sein dürfe.

Eine Antwort erhielt ich nicht und beim Verlassen der Kirche fröstelte mich. Ein kalter Wind wehte zwischen den Grabsteinen auf dem Kirchhof hindurch und er roch nach dem kommenden Winter.

Marthe

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