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Ein Wagen kommt

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Saatgut. Kleine verheißungsvolle Körner, die glatt und rund aus der Hand perlen, sich hinter den Krumen der warmen feuchten Frühlingserde verstecken und dort beginnen, ihr ganz eigenes Leben zu leben. Deren energisches Wachstum fast mit bloßem Auge beobachtet werden kann und Bilder von duftenden braunen Brotlaiben und einem fröhlichen Erntedankfest heraufbeschwören.

Wir hatten kein Saatgut.

Das tückische Feuer hatte gewartet, bis all unsere Vorsorge für den Winter und das kommende Frühjahr sicher in den Fächern und Kornböden verstaut war und hatte sich dann den Oktober für seine Tat gewählt, um uns völlig mittellos zu machen.

All die schweren Tätigkeiten, pflügen, eggen und harken, bei denen uns sonst die Lerchen im Frühjahr spöttisch und ob ihrer eigenen Freiheit jubilierend, beobachtet hatten, waren nutzlos ohne Saatgut. Die Lerchen hatten in diesem Jahr 1618 die schnell verkrautenden Felder ganz für sich alleine.

Wie auf ein Wunder hoffend, kämpften die Frauen trotzig in ihren Gärten hinter den Häusern gegen das Unkraut, welches sich beschwingt und gut genährt durch die schwarze Asche in grünen Flecken ausbreitete. Sie jäteten und harkten und standen am Abend verloren vor der blanken und fruchtbaren braunen Erde, wie eine Mutter vor der leeren Wiege ihres frisch verstorbenen Säuglings. Ein Gefühl das viele von ihnen aus den letzten Monaten nur zu gut kannten.

Ein Garten allerdings ist ein treuer Freund, wenn man ihn aufmerksam behandelt. Als unser Fleckchen Erde hinter der Mühle merkte, dass wir ihm nichts Neues bieten konnten, kramte es in seinem Schatzkästlein und zauberte hier und da den Trieb einer vergessenen Bohne oder Erbse aus dem letzten Jahr hervor. Der Gute Heinrich, ein wohlschmeckender kleiner Busch hatte sich vom Feuer nicht beeindrucken lassen und ganz hinten im Garten, wo im letzten Herbst ein Sack umgekippt war, spross ein leuchtend grünes Feld dichtgesäter Linsen.

Jedes dieser kleinen Wunder barg meine Mutter mit äußerster Sorgfalt, pflanzte es in Reihen und wachte mit Argusaugen über sein Wachstum. Denn jedes einzelne Pflänzchen bedeutete ein winziges bisschen Hoffnung auf Überleben in dieser schweren Zeit.

Meine Aufgabe war es, Schnecken und Raupen zu sammeln, die kleinen Pflanzen vor Louises täppischen Füßchen zu beschützen, die ihre ersten Gehversuche machte, und warnende Blicke auf jeden zu werfen, der sich unserem Gärtchen näherte.

Als ich gerade einen schweren Krug mit Saalewasser in den Garten balancierte, um unsere Kostbarkeiten ausreichend feucht zu halten, kam Hans völlig außer Atem in den Garten gerannt.

„Der neue Pastor ist da!“, schrie er. „Der neue Pastor ist durchs Obertor gekommen!“

Hin- und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und Neugier trat ich unschlüssig von einem Bein auf das andere. Als aber sogar mein Großvater sein Werkzeug sinken ließ und sich langsam in Richtung Markplatz aufmachte, konnte ich mich auch nicht mehr halten. Wie der Wind rannte ich hinter Hans her, der schon wieder zurückgelaufen war.

Mitten auf dem Marktplatz umringten die Wallenser ein braunes Pferd und einen stabilen Leiterwagen. Ein hagerer Mann ganz in Schwarz gekleidet, war vom Bock geklettert und sah sich um. An der Hand hielt er einen ordentlichen kleinen Jungen, etwa so alt wie ich. Beide standen da, die Körper wie in Stein gemeißelt, lediglich ihre Köpfe schienen beweglich und so maßen sie das, was von Wallensen übrig war, mit Blicken, die schieres Entsetzen ausdrückten. Die Consules Schmiedes und Bleibaum waren schon da und zogen mit einer Verbeugung die Kappen vor dem Herrn, doch dieser schien sie nicht wahrzunehmen, seine gemessenen Kopfdrehungen waren einem weitaus schnelleren, ungläubigen Kopfschütteln gewichen.

Erst eine ganze Weile später sagte er tonlos: „ Seid gegrüßt, Gemeinde von Wallensen. Mein Name ist Vitus Ulrici, das Amt Lauenstein hat mich als Pastor zu euch gesandt. Und dies ist mein Sohn Conrad.“

Die Männer verbeugten sich und die Frauen knicksten, der Pastor nickte ihnen zu.

„Das Pfarrhaus?“, fragte er zweifelnd. „Wohin muss ich mich wenden?“

Die Wallenser sahen sich betreten an.

„Das Pfarrhaus ist im letzten Oktober abgebrannt, wie alle unsere anderen Häuser. Nur die Kirche ist übrig geblieben!“, wagte schließlich der Consule Schmides zu erwidern.

„Dann bringt mich zum Amtsvogt!“, forderte Ulrici, der sichtlich um Fassung rang.

„Der Amtsvogt wohnt seit dem Brand nicht mehr hier, sondern auf der Burg Lauenstein. Es ist ihm zu trostlos hier, wie er sagt.“

Der Consule Bleibaum konnte einen verbitterten Unterton nicht unterdrücken, als er dem Pastor die schlichte Wahrheit unserer alleingelassenen Existenz überbrachte.

Niemand hatte es für nötig befunden, dem Vitus Ulrici mitzuteilen, dass seine zukünftige Wirkungsstätte in Schutt und Asche lag. Frohgemut war er mit seinem Sohn aus Hajen aufgebrochen, wo ihn die Erinnerungen an seine jüngst verstorbene Frau quälten, und hatte sich auf den mühsamen Weg über den Ith gemacht. Das Pferd hatte den Wagen über den steilen Pass geschleppt und vor Anstrengung geschnauft. Und dies war in etwa auch das Geräusch, das nun unwillkürlich unser neuer Pastor laut über den Marktplatz schickte.

Wir Kinder kicherten und während die, die in Reichweite ihre Mütter standen sich dafür eine Kopfnuss einfingen, fiel mir ein verzweifelter Blick des Pastorensohns Conrad zu. Sofort schämte ich mich.

All die entsetzlichen Dinge um mich herum, waren mir in den letzten Monaten so selbstverständlich geworden und da ich keine Wahl hatte, als sie zu akzeptieren, war ich über jede Gelegenheit zum Fröhlichsein dankbar. Der arme Conrad sah all das zum ersten Mal, war erschrocken über die Fassungslosigkeit seines Vaters, den er sonst nur als unerschütterlichen Fels in der Brandung kannte und stand nun auch noch vor einer Horde kichernder zerlumpter Kinder, die über ihn lachten.

Verwundert über meinen eigenen Mut ging ich zu ihm, nahm in an der Hand und sagte: „Ich bin Marthe. Komm ich zeige dir alles.“

Verblüfft stolperte er hinter mir her, seinem Vater fiel nicht einmal auf, dass er verschwand und wir liefen zwischen den vielen frischen Gräbern hindurch über den Kirchhof davon. Mit der ersten Berührung zwischen uns färbte meine schmutzige Hand die seine mit rußigem Schwarz, der Farbe Wallensens, und als er sich erhitzt vom Laufen, damit die blonden Haare aus der Stirn strich, sah er fast schon aus wie ein Wallenser Bürger.

Ich lachte, er besah seine Handflächen, lachte auch und damit waren wir Freunde. Conrad und Marthe, zwei Kinder in Wallensen.

Marthe

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