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Prolog

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Seit vierhundert Jahren lasse ich mir nun schon bei jedem Glockenschlag die Luft durch die Haare wehen. Sie ist mal eisig kalt, hier in der Kirchturmspitze, mal fliegt der warme Duft von frischgemähten grünem Mai-Gras zu mir hinauf.

Wenn die Sonnenstrahlen heller werden und die feinen Staubkörner wie Goldplättchen durch die Luft flirren, ist es wieder einmal Sommer geworden in Wallensen, diesem kleinen Städtchen, das sich in der ersten Falte des baumbestandenen Tischtuchs versteckt, dass das Weserbergland übermütig auf die Gegend wirft.

Durch die tiefste Stelle zwischen Thüster Berg und Ith, fließen die klaren Wasser der Saale. Die wallenden Wasser, die Wallensen den Namen gaben. Natürlich kennt man auch andere, weniger poetische Erklärungen des Namens, aber wer einmal auf das Tal geblickt hat, wie es im Sonnenschein daliegt, wer die tiefen kalten Seen kennt, durch die die Saale ihr Wasser führt und nach Wallensen bringt, wird diese anderen Erklärungen als Zeitvertreib neunmalkluger Wissenschaftler verwerfen.

Es ist viel Wasser die Saale hinuntergeflossen in den letzten vierhundert Jahren und ich beobachtete, wie auf den wallenden Wassern Veränderungen gemächlich ins Dorf schwammen, eine Weile ankerten und wieder fortgetrieben wurden. Ein winziges, fast quadratisches Städtchen war Wallensen einmal; mit einer hohen Stadtmauer, einem großem Wall und einem tiefen Graben drumherum. Auch in diesem Graben flossen die Wasser der Saale und gaben ihr Bestes, um die Bürger vor den kriegerischen Horden zu schützen.

Schon vor meiner Zeit musste die Saale wieder und wieder hilflos zusehen, wie Brandgerüche durch den Ort zogen und die Flammen jedes Mal so viel schneller waren, als die Saale mit ihrem Wasser helfen konnte. Generationen von vor Not und Elend hoffnungslosen Männern schöpften, mit letzter Kraft und immer vergeblich, Löschwasser aus ihr. Schreiende Frauen und Kinder flohen im roten Feuerschein durch ihr Bachbett aus Wallensen.

Die Saale wusste nicht, dass es die Spiegelberger Grafen waren, deren Streitigkeiten mit Brandpfeilen in unser Städtchen getragen wurden. Sie sah nur wieder einmal Flammen in Wallensen, die alle Häuser und die Kirche zerstörten.

Bis ich geboren wurde, sorgte das Feuer noch dreimal in hundert Jahren dafür, dass Wallensen vollständig zu Asche wurde. Und jedes Mal bauten die Bürger, wie die fleißigen Ameisen, ihre Häuser wieder auf und erweckten den Ort zu neuem Leben.

In einer Zeit neuen Lebens haben die Wasser der Saale dann auch mich gesehen. Damals, als ich noch nicht Zaubertöne aus den Kirchenglocken lockte, sondern ein kleines Mädchen in einem grob gewebten Kittelkleid war, das es liebte mit den Füßen durch den kühlen Bach zu planschen und die Forellen zu erschrecken.

Ich war Marthe und ich wurde 1609 in Wallensen geboren. Marthe war mein Name, bis zu jenem Tag im Juli, an dem ich mich mit den Klängen der vier Glocken verband und schwor, als Sonntagsgeläut dem Ort und meinem Liebsten auf ewig treu zu bleiben. Ach, wie wenig konnte ich ihm helfen, meinem Conrad. Aber wie wunderbar ist es, nun schon seit so vielen Jahrhunderten die schweren Glocken nur durch einen sachten Stoß meiner Finger zum Schwingen zu bringen und ihren Stimmen zu lauschen.

Mein Name ist verloren, doch in dem Geläut der Wallenser Glocken könnt ihr meine Geschichte entdecken.

Marthe

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