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Der Bote

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Das Jahr 1617 war zu Ende und noch immer gab es keine Nachricht aus dem Amt Lauenstein. Unser Amtsvogt, ebenso seines Hauses beraubt wie wir, hatte sich nach Lauenstein zurückgezogen und ward für lange Zeit nicht mehr gesehen. Doch eines Januartages kam ein Bote und brachte Nachrichten: eine für den Magister Heisius und eine für den Consule Schmides.

Umständlich kletterte der Bote vom Pferd und wandte sich mit würdigem Gesicht an den Bürgermeister.

„Seid Ihr Consul Schmides, Bürgermeister des Fleckens Wallensen? Wenn Ihr es nicht seid, darf ich Euch diese Botschaft nicht vorlesen! Wenn Ihr es seid, ist alles gut, dann ist die Nachricht für Euch! Aber Ihr müsst mir beweisen, dass Ihr es wirklich seid, denn sonst…“

„Nun lies schon!“, fuhr der Schmides ihn ungeduldig an. Er kramte das Siegel mit dem Wallenser Wappen aus seinem Lederbeutel am Gürtel, das er seit dem Brand immer bei sich trug, selbst im Schlaf. „Sieh her, hier ist der Beweis, den du brauchst.“

Der Bote entrollte ein Pergament, langsamer als sich eine Schnecke zur Nacht fertig macht, und räusperte sich ausgiebig. Die versammelten Menschen verfolgten jede seiner Bewegungen und hätten ihn am liebsten geschüttelt, damit es schneller ging. Als er sich das drittemal räusperte, ballten einige Männer die Fäuste. Aber dann las er endlich:

„Ihro Gnaden, Herzog Friedrich-Ulrich von Braunschweig und Wolfenbüttel geruhen zur Kenntnis zu nehmen, dass über den Flecken Wallensen ein Brand gekommen und die Häuser Seiner Untertanen vernichtet hat. In Seiner übergroßen Güte erlässt Ihro Gnaden daher folgende Anordnung: …“

Der Bote ließ das Pergament sinken und sah Beifall heischend in die Runde. Senkfrieds Frau Anna legte beruhigend die Hand auf die angespannt zuckenden Armmuskeln ihres Mannes und flüsterte ihm zu: „ Gemach! Stör ihn nicht noch, sonst dauert es bis zum Morgengrauen...“

Wichtigtuerisch fuhr sich der Bote mit einem Tuch geziert über die Stirn und nahm sich die Zeit der Welt, sie eitel zu betupfen. Es war Januar! Anna musste alle Kraft aufbringen, um ihren Mann ruhig zu halten.

„Ihro Gnaden, Herzog Friedrich-Ulrich von Braunschweig und Wolfenbüttel“, fuhr der Bote endlich fort, „weist hiermit an, dass den Wallensern 200 Holzbalken und ebensoviele Sparren aus dem herzoglichen Forst im Amte Lauenstein zu übereignen sind. Diese herzogliche Güte wird gewährt unter der Bedingung, dass die Bürger ihre Häuser künftig fein auseinander und mit Stein gedeckt bauen.

Ferner ist in den nächsten 10 Jahren zur Tilgung ihrer Schuld von den Wallenser Bürgern neben dem Zehnten ein weiterer Halber an das Amt Lauenstein abzuführen.

Gezeichnet Ihro Gnaden der Herzog Friedrich-Ulrich von Braunschweig und Wolfenbüttel“

„Dies ist die Nachricht“, sagte der Bote zu der umstehenden Menge, die nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Diese letzte Bedingung war es, die sie vor Entsetzen stumm werden ließ. Zehn Jahre lang weit mehr als den Zehnten zahlen zu müssen, würde zehn Jahre lang ihr Überleben auf Messers Schneide stellen. Sie würden kaum genug haben, ihre Kinder satt zu bekommen.

Aber schließlich siegte die Erleichterung über das zugesprochene Holz im nahen Forst, die Aussicht darauf, bald ihre Häuser und Höfe wieder aufbauen zu können, über die zukünftigen Sorgen. Die Erwachsenen jubelten und warfen ihre Hüte und Hauben in die Luft, wir Kinder sprangen übermütig um sie herum und uns wurde seit drei Monaten das erste Mal warm.

Während unserer ausgelassenen Feierei tuschelte der Bote mit dem Magister Heisius, der ernst zuhörte, sich dann umdrehte und verschwand. Erst am Sonntag sollten wir erfahren, was dahinter steckte.

Der Bote übergab das Pergament an Consule Schmides und erklärte ihm, wo und wie wir an das versprochene Holz kommen würden, dann ritt er durch das Niedertor davon.

Es gab nur noch unser altes Pferd und die zwei magere Ochsen vom Bleibaum in ganz Wallensen, alle anderen waren gegessen worden bevor sie verhungerten, und die Tiere wurden für den Holztransport dringend benötigt.

Bereits am nächsten Morgen legte mein Vater dem Pferd ein notdürftig aus übriggebliebenen Hanfseilstücken zusammengebasteltes Geschirr über, alle Bewohner Wallensens hatten dazu gegeben, was sie konnten. Die Ochsen hatten sogar ihr echtes Zuggeschirr um den Hals, da der Bleibaum sie mit diesem aus der brennenden Stadt getrieben hatte. Sie waren allerdings fast zu schwach es zu tragen.

Das Holz war den Wallensern westlich von Hakenrode, knapp unter dem Ithkamm zugesprochen worden. Und so zog an diesem Morgen ein kümmerliches Häufchen vor Hunger fast schwankender Männer und Tiere aus dem Niedertor heraus und dann bergan in den Wald, hoffend, dass den dort reichlich wohnenden grauen Wölfen bereits ein fetterer Bissen zum Frühstück begegnet war.

Ich sah den Dunstwolken ihres Atems in der eiskalten Luft des Januars lange nach und ging dann, um Louise mit einer dünnen Wassersuppe zu füttern, damit ihr hungriger kleiner Magen wenigstens etwas warm und ihr Schreien etwas leiser wurde.

Es ging nur langsam voran mit den Holztransporten, die geschwächten Menschen und Tiere konnten die weite Strecke zum Holzlager pro Tag höchsten einmal und nur mit geringer Beute schaffen. So wurde es Februar bevor genügend Balken da waren, dass man mit dem Bau auch nur eines Hauses beginnen konnte.

Und ratet, welches es war? Die Mühle sollte als erstes wieder errichtet werden, denn meinem Großvater gehörte das Pferd, ohne das Holzholen gar nicht möglich gewesen wäre. Hans und ich, wir freuten uns grenzenlos und sogar meine Mutter, die seit Tagen blass und apathisch röchelnd mit einer schweren Erkältung in unserem Verschlag gekauert hatte, lebte etwas auf, als der Rat diesen Beschluss fasste.

Aber einen Beschluss fassen geht schnell, auch wenn man hungrig ist. Ihn in die Tat umzusetzen ist unglaublich viel schwerer, wenn der Hunger kein größeres Vergnügen kennt als knochige Arme und Beine zum Zittern zu bringen und der eisige Wind dicke salzige Tränen aus den Augen drückt, die das Sehen fast unmöglich machen.

Jeden Tag brachten die Männer zwei Balken ins Dorf. Nur zwei. Sie sammelten dann ihre ganze Kraft, um sie zu behauen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Wir Kinder sammelten Rinde und Gras, denn Bucheckern gab es längst nicht mehr. Und die Frauen sammelten den Mut, den sie brauchten, um ihren zu Tode erschöpften Männern und ihren bleichgesichtigen Säuglingen Suppen vorzusetzen, wie sie in guten Zeiten nur spielende Kinder kochen.

Der Gottesdienst am Sonntag brachte uns eine Überraschung. Der Magister Heisius sprach längst nicht so flüssig, wie er es sonst zu tun pflegte. Ich führte es zunächst auf den Hunger zurück, der ihn genauso quälte wie uns alle, dass er Sätze nicht zu Ende sprach, mit krächzender Stimme betete und sogar das Singen vergaß, das ihm sonst immer so wichtig gewesen war.

Doch schließlich sah er auf und betrachtete zweifelnd uns elende Versammlung zerlumpter Menschen, die wir in den Resten der Bänke kauerten.

Er breitete die Arme aus und sprach: „Liebe Gemeinde! Es gibt eine Nachricht, die uns gemeinsam betrifft. Der Herr hat beschlossen, mich weiterwandern zu lassen und hat mich als Superintendent in die Gemeinde Groß Freden berufen lassen. Im Frühjahr, wenn die Wiesen wieder grün sind, wird mein Nachfolger eintreffen und ich werde mich auf den Weg machen.“

Deutlich sah man widerstreitende Gefühle über sein Gesicht fliegen, einerseits war er betrübt, uns in unserem Elend allein zu lassen, andererseits gelang es ihm nicht zu verbergen, wie sehr er sich über seine Berufung und auch die Aussicht auf ein gemütliches Pfarrhaus mit Dach und einer Speisekammer freute.

Bis es soweit war, bekam der Magister allerdings noch reichlich zu tun. Kälte und Hunger füllten die Gräber, und die Heisiusschen Grabreden und unsere anschließenden Gebete waren oft die einzigen gesprochenen Worte eines Tages. Niemand von uns vergeudete mehr Kraft zum Sprechen.

Es war den ganzen Tag über still in Wallensen. Tiere gab es nicht mehr. Keine Hühner, die gackerten, keine Kühe und Schweine, die brüllten und quietschten, keine Esel, die schrien. Keine Spur vom Lachen der Frauen beim gemeinsamen Brotbacken, keine Männer, die anderen Männern lautstark Befehle erteilten. Es war ganz still.

Nur die eintönigen Laute der Beile, wenn die Balken in Form geschlagen wurden, wechselten sich mit dem hellerem ‚Pick‘ der Spitzhacken ab, die den gefrorenen Boden wieder für ein neues Grab öffnen mussten. Es war wie ein Wettlauf zwischen ihnen, aber kein besonders gerechter.

Doch die Beile hatten die Hoffnung auf ihrer Seite und gewannen. Als die ersten frischen Grashalme in den Bächen zu sehen waren, hatten sie genügend Holz bearbeitet, das es für das Grundgerüst der Mühle reichte und auch erste Balken für den Wiederaufbau der Brauerei beiseitegelegt wurden. Der Bierbrauer Beinling war Mitglied des Rates und hatte alle von der Notwendigkeit einer schnellen Wiederaufnahme des Brauereibetriebs zu überzeugen gewusst, auch wenn das nötige Korn dafür in weiter Ferne war.

Marthe

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