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Kindheit in der Mühle

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Der Geruch nach frisch gemahlenem Korn und das Plätschern des Wassers sind meine ersten Erinnerungen. Die Erinnerungen eines kleinen Mädchens, das durch das geheimnisvolle Halbdunkel der Mühle tappst, in dem sich knarrend große Holzräder drehen und die Luft den Staub kaum tragen kann. Verschwommen konnte ich meinen Großvater erkennen, der zusammen mit meinem Vater und dem Müllerburschen Adam Säcke schleppte, das Mühlrad kontrollierte und mit den Bauern, inmitten der Nebelschwaden aus Mehl, Geschäfte durch Handschlag besiegelte. Adam war ein freundlicher Junge, manchmal piekte ich ihn mit meinem kleinen Finger, wenn er einen Mehlsack auf dem Buckel an mir vorbei trug und er tat so als sei er schrecklich kitzelig, weil mich das zum Lachen brachte.

Mein Bruder Hans, drei Jahre älter als ich, hatte ebenfalls bereits seine Aufgabe in der Mühle. Er musste das herabgefallene Korn mit dem struppigen Reisigbesen zusammenfegen und in einen Sack füllen. Oft kam er abends nach vielen Stunden Arbeit mit rot geschwollenen Augen ins Freie und wusch sich wie besessen das Gesicht im klaren Wasser der Saale. Dann tat er mir leid. Aber meistens nicht lange, denn sobald es ihm besser ging, erzählte er mir entsetzliche Geschichten. Über weiße Frauen, die sich aus dem Nebel der Mühle zusammenrotten und kleine Kinder mit sich nehmen, um sie grausam umzubringen. Wie Speere im Rücken verfolgten mich diese Geschichten, wenn ich durch den Mühlenraum musste, um den Schweinen hinterm Haus Futter zu bringen und zufällig kein Erwachsener da war.

Außer Hans hatte ich noch drei weitere Brüder, aber sie alle waren kaum lange genug lebendig um einen Namen zu bekommen. Die wachsende Rundung des Bauches meiner Mutter endet zweimal damit, dass ich in aller Eile zum Magister Buchholz, den ihr in eurer Zeit Pastor nennen würdet, geschickt wurde, um ihn zur Nottaufe in die Mühle zu holen.

Das letzte Mal kam er Anfang des Jahres 1616 zu uns, selbst mit triefender Nase und geschwollenen Lymphen, übergab er den schwächlichen Säugling in Gottes Gnade. Bald darauf starb er selbst und bekam ein schönes Grabmal, das ihr noch heute im Turmraum der Wallenser Kirche besichtigen könnt.

Carl, mein jüngster Bruder, krähte fast ein Jahr fröhlich durch das Haus, bis er sich eines Morgens plötzlich mit hochrotem Kopf und glühenden Händchen in seinem Bett hin- und herwarf.

Dieses Mal wurde ich zur Kräuterfrau geschickt, die in einer kleinen Hütte weit außerhalb der Stadtmauern bachaufwärts wohnte und nur in äußersten Notfällen und heimlich in die Stadt gerufen wurde. Die Menschen hatten Gerüchte über ihre Hexenkünste gehört und vertrauten im Allgemeinen lieber der heilenden Kraft eines Gebetes anstatt sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Es musste ernst um Carl, meinen Bruder, stehen, wenn meine Eltern ein solches Risiko eingehen wollten.

Ich machte mich also auf den Weg. Im Bachbett ging ich entlang, gegen den Strom, denn einen anderen Weg gab es nicht, und hielt sorgfältig mein Kleid mit der Hand geschürzt. Auch wenn ich die Spaziergänge in der Saale liebte und sonst munter in der Strömung planschte, war mir doch heute bang ums Herz. Ich wollte auf jeden Fall meine Kleidung ordentlich halten, denn es bestand eine gute Wahrscheinlichkeit, dass ich heute Abend bereits tot oder verzaubert sein würde, wenn ich der Kräuterhexe begegnete. Und im ersten Fall wollte ich dem Herrgott unbedingt als ordentliches kleines Mädchen gegenüber treten.

Dass meine Eltern ebenfalls mit einer solchen Entwicklung rechneten, konnte man auch daran ablesen, dass sie mich und nicht meinen Bruder Hans schickten, der ja immerhin drei Jahre älter war als ich, nämlich inzwischen neun. Mich verwunderte das nicht weiter. Er war schließlich der - möglicherweise einzige – Erbe und ich war nur ein Mädchen, dessen Verlust zwar tragisch, aber leichter zu verschmerzen wäre.

So schritt ich voller Angst, aber mutig voran. Mal in der Saale, mal an ihrem Ufer, vorsichtig auf mein Kleid bedacht und auf den Krug Bier, den ich als Lohn für die Kräuterfrau bei mir trug.

Ich kam an der Quelle vorbei, deren Wasser salzig schmeckt und an der Stelle, an der heute, vierhundert Jahre später, der Paradiesteich liegt. Von großen Eichen ist er umgeben, die wie alte Leute weise auf das modrige Wasser blicken, das sie mit ihrem fallenden Laub jedes Jahr schwärzer machen. Ich bekam sehr schmutzige Füße, als ich einen Abhang mit merkwürdig trockener, braunstaubiger Erde vom Ufer empor kletterte, und stand schließlich vor dem Garten der Kräuterfrau in einer Lichtung im Wald. Zwischen sich und die Welt hatte sie einen spitzen Zaun aus gespaltenen Kastanienhölzern gestellt und ein kleines wackeliges Türchen, das sich nur von innen öffnen ließ.

Hexe kommt von Hagis, ‚die auf dem Zaun zwischen den Welten sitzen‘, so heißt es. Diese Kräuterfrau saß zwar nicht wirklich auf dem Zaun, aber wie aus einer anderen Welt sah sie schon aus, wie sie da im flirrenden Sonnenschein in ihren grünen und bunten Wolken aus blühender Melisse und duftender Pfefferminze stand.

Hinter ihr ragte mannshoher Liebstöckel empor, neben dem sie klein und zierlich aussah, und in der Hand hielt sie ein Büschel Ysop mit einer Unzahl kleiner lila Blüten.

Nein, furchterregend erschien sie mir nicht und so trug ich ihr vor, warum ich kam. Über den Zaun reckte ich ihr mein Geschenk, das Bier, entgegen. Sie nahm es und ließ mich genau schildern, wie der kleine Carl heute Morgen ausgesehen hatte, sah mich nachdenklich an und verschwand dann in der kleinen Eingangstür ihres Hauses. Ratlos stand ich da, sechs Jahre alt, mitten im Wald, einer Kräuterhexe auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und wagte nicht, mich von der Stelle zur rühren.

Als sie wiederkam, blickte sie mir ernst in die Augen und hätte ich zu denken gewagt, hätte ich ihr Gesicht vielleicht jung und nett gefunden, so aber sah ich, mit dem verschwimmenden Blütenmeer im Hintergrund, nur zwei eindringlich leuchtende dunkelblaue Augen und rote flüsternde Lippen.

„Dein Bruder wird bereits tot sein, wenn du nach Hause kommst. Nimm diesen Kräutersud für deine Mutter, damit sie kräftig bleibt und gesunde Kinder zur Welt bringen kann, als Dank für das Bier.

Nimm dieses Öl für dich und bewahre es gut auf. Eines Tages wirst du dir wünschen, zu sehen, was nicht von dieser Welt ist. Nicht heute und nicht morgen, es mag noch ein gutes Jahrzehnt dauern. Bewahre das Töpfchen kühl, dann wird es seine Dienste tun.“

Sie streckte ihre Hand über den Zaun, reichte mir die Gefäße und strich mir leicht wie eine Feder über mein glattes braunes Haar. Dann wandte sie sich wieder ihren Kräutern zu und schien mich vergessen zu haben.

Wie im Traum ging ich nach Hause, diesmal mit dem fließenden Wasser der Saale, aber meine Füße blieben hinter ihrer Geschwindigkeit zurück. War ich auf dem Hinweg voller Angst um mein Kleid gewesen, so trug ich jetzt meine Schätze von der Kräuterfrau wie kostbares Glas.

An der Mühlenpforte lief mir Hans entgegen. „Du kommst zu spät“, sagte er. „Der Magister Heisius ist schon auf dem Weg zu Carl.“ Der arme kleine Carl. Er bekam eine schöne Grabrede vom Magister Ludolfus Heisius, dem Nachfolger von Magister Buchholz, der ein poeta laureatus war, ein über die Grenzen von Wallensen hinaus anerkannter Dichter, dessen schöne Worte Carl sicher getröstet haben auf seiner letzten Reise.

Ich aber war von etwas anderem gefesselt: Sie hatte es gewusst! Die Kräuterfrau hatte von Carls Tod gewusst! Meine Tränke erschienen mir jetzt noch magischer.

Heimlich hatte ich meiner Mutter den Kräutersud zugesteckt. Sie verriet mir nicht, ob sie ihn tatsächlich zu sich nahm, da aber ihr Bauch schon wieder rund war, glaube ich, dass sie es tat. Vor allem weil meine Schwester Louise, die bald darauf geboren wurde, ein kräftiges Kind war, dem weder Masern noch Fieber und auch die anderen schrecklichen Geschehnisse des Jahres 1617 etwas anhaben konnten.

Marthe

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