Читать книгу Marthe - Tanja Flügel - Страница 9

Feuer

Оглавление

Es wurde kalt in Wallensen, viel kälter als üblich im Oktober und obwohl die Menschen jetzt wieder in Häusern wohnten, ging ihnen der Wind durch Mark und Bein. Er wehte den Frauen spöttisch die schweren leinenen Röcke wie Fahnen vor den Körper. Er fegte den Männern mit rauer Hand die Mützen vom Kopf und färbte den barfüßigen Kindern Zehen, Ohren und Nasen erbarmungslos rot.

Jeder versteckte sich in der Behausung, die er sich hatte schaffen können, und in den kürzer werdenden Tagen des Herbstes verbündete sich die Dunkelheit mit dem Wind.

Das böse Paar trieb die Menschen zur Eile bei ihren Tagesgeschäften und machte sich einen Spaß daraus, sie mit allerlei schrecklichen Geräuschen, unsichtbarem Heulen und dem Knacken von frischgeschlagenem Holz in ihren Häusern zu ängstigen, wenn die Sonne hinter dem Ith verschwunden war.

Wir hatten nicht, wie ihr heute, allerlei künstliche Sonnen, die man nach Belieben an- oder ausschalten kann. Nein, unsere Sonne war unsere Verbündete, unsere Uhr, unsere Wärme und unser Lebenslicht. Ohne sie waren wir nichts.

Dunkelheit und Wind aber berieten sich flüsternd und ersannen einen grausamen Scherz für uns Wallenser, am Donnerstag nach Galli. Während die Sonne unterging und ihre letzten wärmenden Strahlen die Häuser so schön rot färbten, dass sich auch das Gemüt noch ein wenig an dem Anblick aufwärmen konnte, bevor die Nacht begann, trieb der Wind einen kleinen, heißen Funken aus einem noch glimmenden Kochfeuer. Er führte ihn durch die Straßen und bettete ihn schließlich zärtlich in eine trockene gelbe Strohgarbe, die er sich aus einer Scheune geliehen hatte und dann heuchlerisch dorthin zurückbrachte.

Die Dunkelheit indes lehnte ruhig in einer Ecke und hielt sich zurück, so dass den Menschen der aufkommende Feuerschein noch immer als herzerwärmender Rest der Sonnenglut erschien.

Die Tiere merkten zuerst, dass etwas nicht stimmte. Die Schweine schrien, obwohl ihre Tröge längst voll mit Fraß waren. Die Kühe brummten und drückten nervös mit ihren Hörnern den Lehm aus dem frischen Fachwerk der Ställe, der den Hühnern vor die Füße fiel, die bereits mit dem Leben abschlossen und eins nach dem anderen vor Angst starben.

Der Brandgeruch war es schließlich, der die Menschen aus den Häusern lockte. Und als sie ihr Publikum auf dem Marktplatz beisammen hatte, sprang hohnlachend die Dunkelheit aus ihrer Ecke und bildete einen dramatischen Hintergrund für hoch lodernde, orangerot leuchtende Flammen, die ihr Kumpan der Wind an immer neue Futterstellen lockte.

„Feuer, Feuer“, hallte der Schrei durch die Nacht. Er verkündete das Offensichtliche, aber Unaufhaltbare. Zum Löschen war es längst zu spät. Zwei Häuser am Marktplatz brannten schon lichterloh in den Himmel, die umstehenden wurden bereits tückisch von den Flammen umarmt.

Bartholomäus Weihberg, der wohlhabendste Ackerbürger unserer Stadt, zerrte drei seiner Kinder aus dem Scheunentor, seine Frau, mit dem Jüngsten auf dem Arm, schaffte es gerade noch, einem bereits herabfallenden brennenden Balken zu entkommen.

Entsetzt rannten mein Bruder und ich zur Mühle zurück, wo mein Großvater bereits mit gefasster Stimme Befehle erteilte. Die Frauen mussten auf einen Handkarren laden, was sie tragen konnten, meinen Vater und den ersten Knecht schickte er, die Tiere zusammenzutreiben und er selber hob mit den Müllerburschen das hölzerne Mühlrad aus der Verankerung, um es flach in die Saale zu legen. Er hoffte, es so vor dem Verbrennen retten zu können, denn daran, dass das Feuer auch unsere Mühle erfassen würde, hegte er keinen Zweifel.

An Ostern 1582 war es gewesen, als die Wallenser ihre Gebete und Feierlichkeiten zu Ehren des Gottes Sohns abrupt hatten unterbrechen müssen, um ihr eigenes Leben zu retten, weil des Feuers heißer Atem sie aus der Kirche vertrieb und ihnen bis an die Stadtmauern nachsetzte, von wo aus sie als ohnmächtige Zuschauer ertragen mussten, dass aus ihren mühsam errichteten Häusern Asche wurde.

Auch damals hatten die Flammen keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, zwischen Gut und Böse gemacht und hatten über die verzweifelten Löschversuche mit Saale-Wasser nur gelacht.

So bewies mein Großvater die Weisheit eines alten Mannes, indem er uns und sich zwang, sein Lebenswerk, die eigenhändig in harter Arbeit gebaute und noch nach frischem Holz riechende Mühle im Stich zu lassen, und uns mit unnachgiebigen Kommandos befehligte, keinen Gedanken mehr an die reiche Flut von prall gefüllten Kornsäcken auf dem Zwischenboden und das kostbare Linnen in den Schränken zu verschwenden.

Mit den notwendigsten Dingen schwer beladen drängten wir uns zusammen mit blökenden Schafen und brüllenden Rindern durch die Mühlenpforte. Hans zog mit vor Anstrengung rotem Gesicht einen viel zu schweren Sack Mehl hinter sich her, der jeden Augenblick zu zerreißen drohte. Aus seinem Rucksack quollen, notdürftig hineingestopft, unsere raren Kleidungsstücke, die unser seit Wochen kostbarstes Gut schützten, den duftenden und für das kommende Weihnachtsfest gehegten Schinken, der bis eben noch Vorfreude heischend an einem Balken in der Küche gehangen hatte. Ich schleppte Brote und zwei schwere irdene Krüge mit Bier, hatte einige Küchenutensilien gerettet und in aller Eile mein geheimes Töpfchen mit Kräuteröl aus seinem Versteck gezogen.

Die Männer zerrten und schoben, vor Anstrengung fluchend, den schweren Handkarren, hoch beladen mit Säcken, Werkzeugen, Sensen, dem großen Kochkessel, einigen Hühnern im Holzkäfig und der gebrechlichen Urgroßmutter, die zahnlos und blind nicht mehr selber fliehen konnte.

Unser altes Pferd war nicht zu beruhigen, wieherte und stieg am Strick des Knechts. Daran, es anzuspannen war nicht zu denken, wir mussten unseren großen Leiterwagen zurücklassen, den wir nicht den steilen Weg nach Thüste hochschieben konnten.

Inmitten ihrer Familie und mit Louise auf dem Arm, stolperte meine Mutter, womöglich noch verzweifelter als beim letzten Mal, mit tränenblinden Augen durch die Mühlenpforte, in der Gewissheit, wieder einmal alles zu verlieren.

Nachdem wir keuchend und schwitzend auf der Anhöhe angekommen waren, wo wir uns sicher wähnten, warfen wir einen Blick zurück auf die brennende Stadt. Hell erleuchtet war der Himmel von den im Wind flackernden Flammen. Wir zogen noch ein Stück weiter und konnten von dort das Niedertor und die daraus flüchtenden Menschen sehen. Manche bepackt wie wir, die meisten jedoch in nacktem Entsetzen und nur mit dem, was sie am Leibe trugen. Sie schrien und stolperten, sie schubsten und drängelten, dazwischen brüllendes Vieh und vor Angst kreischende Kinder.

Das Feuer hatte sich nicht länger mit den Höfen am Marktplatz zufrieden gegeben, die enge Häuserreihe zum Niedertor stand bereits in Flammen und der Wind sprach ihnen Mut für neue Taten zu. Getragen von einem heftigen Luftstoß sprang das Feuer über die Straße und schnitt den letzten Fliehenden, wie eine undurchdringliche Wand, den Weg ab. Noch heute jagen mir ihre Schreie Schauer durch die Knochen.

Ich musste mit ansehen, wie das Feuer meine gerade noch entkommene Spielgefährtin Elisabeth ein Stück vor sich hertrieb, wie die Katze eine verwundete und verwirrte Maus, um ihr schließlich mit einem übermütigen Tatzenschlag das lange, seidig blonde Haar in Brand zu stecken. Mit einer gleißenden Tiara um den Kopf lief sie noch einige Schritte und wurde dann von den Flammen überrollt, die inzwischen gierig aus dem Niedertor heraus leckten.

Starr vor Entsetzten stand ich da, mein kleines Öltöpfchen umklammert, und als meine Hände mechanisch über seine raue Tonhaut streichelten, immer wieder und wieder, kam mir ein furchtbarer Gedanke. Ob das Feuer eine Strafe war? Eine Strafe dafür, dass ich am Galli-Sonntag so froh und so stolz gewesen war? Der Magister Heisius wurde schließlich nicht müde zu predigen, dass Gott keinen Hochmut duldet und der Mensch bescheiden und fromm seine Tage gestalten möge. Ob Gott böse war, weil ich bei Louises Taufe stolz auf mich und so wenig bescheiden gewesen war? Und ich ihn auch noch gefragt hatte, ob er damit einverstanden sei, statt demütig meine Sünden zu bereuen. Hatte er deshalb die Menschen in Wallensen verlassen?

Ich konnte kaum mehr atmen, mein Hals schien zugeschwollen und meine Augen füllten sich mit salzigen, rußgeschwärzten Tränen, die heiß über mein schmutziges Gesicht liefen. Ich war acht Jahre alt, ohne Zuhause und fühlte die ganze Schuld der Welt auf meinen mageren Schultern.

Inzwischen hatten sich die Übriggebliebenen alle auf dem Berg eingefunden, dichtgedrängt und hustend starrten sie auf das flammende Inferno im Tal. Im roten Feuerschein und Qualm sah die Menge gespenstisch aus, den meisten hatte es die Stimme verschlagen und es wurde so entsetzlich ruhig, dass man nur zu gut das Prasseln der Flammen und die herabstürzenden Holzbalken hörte, wenn sich wieder ein Haus ermattet ergab.

Sie mussten sich nicht lange quälen, unsere Häuser. Der heiße Feuersturm war ein schneller und gründlicher Arbeiter. Nach und nach wurde es dunkler, als er nach getanem Handwerk sorgfältig die Lichter löschte. Mit dem achten Schlag der Uhrglocke, der aus Thüste herüber wehte, waren die letzten Brandnester verschwunden als hätte ein Nachtwächter sie pünktlich ausgeblasen.

Nach einer guten Stunde Höllenfeuer herrschte völlige Finsternis in Wallensen.

Marthe

Подняться наверх