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Warum bin ich nur so höflich?
ОглавлениеIst es nicht manchmal besser, ein paar kleine Unwahrheiten von sich zu geben, einfach um des lieben Friedens willen?
Sollte ich der besten Freundin wirklich sagen: »Dein neuer Lover ist ja nicht gerade ein helles Köpfchen!«? Ganz zu schweigen von den vielen Dingen, die man seiner Schwiegermutter zu sagen hätte!
Oder neulich Onkel Rudolph: Er saß an einem lauen Sommerabend bei uns auf dem Balkon, trank Weißweinschorle – und nach der dritten war er nicht mehr zu halten.
»Horcht!«, rief er, stach mit dem Zeigefinger in die Luft und starrte in den Wipfel der Blautanne, die auf unserem Hof steht. »Horcht! Das ist eine Heckenbraunelle!«
»Hä?«, murmelte Robert, der liebste Ehemann, unwirsch. »Ich dachte, das wäre eine Tanne.«
»Ein Vogel«, verbesserte Onkel Rudolph ungeduldig. »Erinnert an einen Sperling, doch der Schnabel ist feiner. Die Heckenbraunelle ruft ›stiiiiih stiiiiih‹.«
»Hat Onkel Rudolph Bauchweh?«, fragte meine Tochter Sanne besorgt.
»Stiiiiih«, wiederholte Onkel Rudolph mit hervorquellenden Augen, und hätte ich da nicht besser »Halt den Schnabel!« rufen sollen, anstatt Ausschau nach einer Braunelle in einer Blautanne zu halten?
Habe ich aber nicht, denn es wäre unhöflich gewesen. Mein Verständnis von Höflichkeit hatte allerdings zur Folge, dass uns Onkel Rudolph nun sein gesamtes fundiertes Vogelwissen unterbreitete.
»Während die Straßentaube eher ›dru-rrru-du‹ ruft, klingt es bei der Ringeltaube nach ›du-duu-du‹ …«
»Du, du, Onkel Rudolph«, unterbrach ich ihn gurrend, in der Hoffnung, es wäre ihm dann verständlicher. »Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?«
»Nun gut, wenn es euch nicht interessiert«, knarzte der Onkel beleidigt, und ich atmete erleichtert auf.
»Dann erzähle ich euch eben etwas vom Lanius collurio, dem so genannten Neuntöter, er ruft ›wäääd schack-schack‹ und lebt an Waldrändern, ›wääääd, wääääd‹!« Onkel Rudolph legte sich so richtig ins Zeug. Sanne begann zu kichern.
»Ja, richtig«, feuerte sie der erhitzte Onkel an. »Genauso klingt es, wenn der Karmingimpel singt. ›Tütje-hütja, widje-widje-hüü‹ … er hat ein rotes Köpfchen und einen roten Bürzel und ist in Osteuropa zu finden. ›Tütje-hütja‹ …«
Sanne bekam tatsächlich ein rotes Köpfchen. »Ich besitze keinen Bürzel«, sagte sie hoheitsvoll. »Gute Nacht allerseits und noch viel Spaß.«
Mit vielsagendem Blick zog sie sich in ihr Zimmer zurück, und ich beneidete sie. Onkel Rudolph saß im Korbstuhl wie ein Vogel im Nest und machte sich Gedanken über den Karmingimpel. Ich begann meinerseits, darüber nachzudenken, ab wann zu viel Höflichkeit in Unaufrichtigkeit ausartete.
Und dann fiel mir ein, dass ich neulich im Kaufhaus auch nicht gerade eine ehrliche Haut gewesen war – nachdem ich eine Hose anprobiert hatte, die so gut gesessen hatte wie noch nie – und dann feststellen musste, dass ich mein Portemonnaie vergessen hatte.
Was hätten Sie getan? Wenn Ihnen endlich mal eine Hose so richtig gut gefüllt und sie auch noch preisgünstig ist?
Und ganz unter uns: in Konfektionsgröße 40! Wann passt mir denn schon eine 40?
Ich habe das getan, was jede verzweifelte Einkäuferin getan hätte, ich habe die Hose ganz weit hinten, bei den Größen 48/50 »versteckt«.
Das war zwar unehrlich, aber so richtig schlimm war es wohl nicht. Außerdem vergrub ich noch eine seidene Bluse in einem Haufen reduzierter Unterwäsche und deponierte drei Spitzen-BHs unter einem Stapel langweiliger Pullover. Dann ging ich das Geld holen, und als ich wiederkam, hatte eine übereifrige Verkäuferin alles aufgeräumt. So ist mir die sagenhafte Hose in Größe 40 doch noch durch die Lappen gegangen. Vielleicht hätte ich sie einfach an der Kasse deponieren sollen? Darauf war ich gar nicht gekommen.
»Sissisisisi-siiii«, holte mich Onkel Rudolph in die Realität zurück Robert verdrehte die Augen und ließ die Flügel hängen.
›»Si siiiisi-siiii‹. So ruft das Sommergoldhähnchen«, erklärte der Onkel begeistert.
»Hast du noch Rückenschmerzen?«, unterbrach ich ihn, denn über seine Krankheiten spricht doch jeder gern.
»Nö«, schnarrte Rudolph. ›Nönööönökriiiiaaatschak-tschak‹!«
»Wir sollten ihm eine Taxe rufen«, sagte ich zu Robert
Wenig später wünschten wir einem unschuldigen Taxifahrer viel Glück und winkten erleichtert dem trällernden Onkel Rudolph hinterher, der den sehnsuchtsvollen Gesang einer Nachtigall imitierte.
»Es war die Nachtigall und nicht die Lerche«, grunzte Robert erleichtert, als das Taxi um die Ecke gebogen war.
»Als ob du das auseinander halten könntest«, gab ich zurück.
»Das werde ich wohl bald«, antwortete mein liebster Ehemann gähnend. »Onkel Rudolph hat uns nächste Woche in seinen Club der Vogelfreunde eingeladen, weil wir doch so interessiert gewesen wären.«
Sehen Sie! Das meine ich! Für meine Höflichkeit kriege ich gleich die Rechnung präsentiert.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: »Tütje-hütja-widje-widje TSCHACK!«