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Wenn das schlechte Gewissen plagt …
ОглавлениеMeist fängt es ganz harmlos an: Ich habe keine Lust, die Geschichte von »Töffelchen«, dem kleinen Bernhardiner vorzulesen, die Kinder sagen: »Nie hast du Zeit für uns!« Und dann geht’s los.
Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen.
Warum habe ich mir so lange die Fingernägel gefeilt, anstatt mich um die Kinderchen zu kümmern? Warum habe ich so lange mit meiner Freundin telefoniert und anschließend (große Vernachlässigungs-Sünde!) eine halbe Stunde auf dem Balkon geschlafen? Warum schlafe ich überhaupt? Wenn ich es recht bedenke, habe ich eigentlich immer ein schlechtes Gewissen.
Alles, was ich tue, scheint irgendwie nicht genug zu sein.
Ich gieße die Blumen der Nachbarin. »Schade, dass Sie das Basilikumpflänzchen in der Küche übersehen haben«, lautet der Dank nach zwei Wochen. Anstatt zu sagen: »Stellen Sie sich nicht so an wegen eines lumpigen Basilikumpflänzchens, das in jedem Supermarkt zu haben ist!«, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Wie unaufmerksam von mir. Wie schlampig. Wie lieblos. Bestimmt darf ich nie wieder ihre Blumen gießen. Und dann fühle ich mich so richtig schäbig.
Ich mache den Kindern einen Grießbrei. »Gibt es dazu Kirschsoße?«, werde ich gefragt.
»Nein«, murmele ich beschämt, denn in mir gurgelt bereits ein schlechtes Gewissen, das sich gewaschen hat. Du liebe Güte. Ich bin die Mutter dieser liebreizenden Kinder. Ich muss doch wissen, dass sie Kirschsoße zum Grießbrei sehr schätzen. Nun sind sie enttäuscht. Ich habe versagt, ich bin eine Rabenmutter, die nicht einmal weiß, was ihre Kinder gern essen.
Ich dekoriere den Tisch für unsere Gäste.
Robert sagt: »Dass du immer alles so übertreiben musst«, und mir wird klar, wie recht er hat, ich werfe Geld und Zeit zum Fenster hinaus, derweil die Kinder vernachlässigt im Türrahmen hängen und anklagend die zerfledderte Version von »Töffelchen« in die Höhe halten.
Ich habe es ihnen schon wieder nicht vorgelesen. Meine armen, armen Kinder. Da haben sie schon keine Kirschsoße bekommen und dann das.
»Liest du uns vor?«, kräht Mäxchen prompt. Meine Kinder haben ein sehr feines Gespür für mütterlich-moralische Schräglagen.
»Ich muss diesen Tisch erst decken«, krächzt die Rabenmutter. Dass es in der Küche noch ein Kilo Pilze zu hobeln sowie einige andere Kleinigkeiten zu erledigen gibt, behalte ich für mich. Die Kinder blicken betreten zu Boden. Ob sie weinen? Sie sind mit einer amüsierfreudigen, geltungsbedürftigen Mutter geschlagen, die hemmungslos Abendgesellschaften gibt und ihren Kindern keine Aufmerksamkeit schenkt.
»Ich habe euch doch vorhin drei Willi-Wiberg-Bücher vorgelesen«, wage ich einzuwenden und zupfe schamesrot an der Satinschleife, die ich über den Esstisch drapiert habe. Wie oberflächlich von mir.
»Aber nicht Töffelchen«, heult es dreistimmig.
»Meine Güte«, entfährt es mir, »Sanne ist zwölf Jahre alt, was hat die noch mit dem blöden Schäferhund zu tun?«
Jetzt bewegt sich Familie Wekwerth auf eine Krise zu. Entsetzt werden Kinderaugen aufgerissen. Den Blick meiner Tochter werde ich nie vergessen. Ich überlade sie nicht nur täglich mit der Verantwortung, sich um zwei kleine Brüder zu kümmern, nein, ich zwinge sie auch dazu, viel zu früh erwachsen zu werden.
»Töffelchen ist kein Schäferhund, er ist ein Sennenbernhardiner«, sagt Samuel mit kalter Stimme.
»Dann soll Papa es vorlesen«, erwidere ich.
Robert reißt den Kopf hoch, der eben noch friedlich über einer Zeitung geschwebt hat. »Ich?«, fragt er entsetzt. »Ich habe keine Zeit.«
Von schlechtem Gewissen hat er noch nie etwas gehört. Hat er überhaupt eins? Ob schlecht oder gut?
»Was machst du denn so Wichtiges?«, fauche ich, denn so allmählich geht mir mein eigenes Gewissen auf die Nerven. Aus der Küche riecht es brenzlig, das Wohnzimmer ist unaufgeräumt, die Satinschleife auf dem Tisch sieht aus, als hätte ich sie aus der Weihnachtskiste gekramt.
Mit ernstem Gesicht sieht mich Robert an. In seinen braunen Augen ist eine Menge zu lesen. »Nur weil du immer alles so perfekt machen willst …«, beginnt er einen Satz, dessen Ende ich mir gar nicht anhören will.
»Das sind auch deine Gäste, die in zwei Stunden zum Essen kommen, das sind auch deine Kinder, die das blöde Töffelchen hören wollen, ich bin auch deine Frau, die …«
An dieser Stelle unterbreche ich meinen Bericht besser. Robert hat allerlei Unerfreuliches zurückgeantwortet. Zum Beispiel, dass ich mich aufführe, als wäre ich eine TV-Kandidatin beim »Perfekten Dinner«.
Mit dem verbrannten Braten hätte ich da sowieso nicht gepunktet.
Dann hat Robert aufseufzend zum Kinderbuch gegriffen und hat die Geschichte von »Töffelchen« vorgelesen, die ich mit halbem Ohr, zwischen Küche, Wohnzimmer und Bad mitverfolgt habe.
Die Moral der Geschichte war, dass »Töffelchen« lernen muss, mehr an sich zu denken und es nicht immer jedem Recht machen zu wollen. Hätte ich doch meinen Kindern bloß schon viel früher diese reizende Geschichte vorgelesen. Von »Töffelchen«, dem netten, tapferen Sennenbernhardiner, kann ich noch viel lernen.