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ELISABETH NOELLE-NEUMANN

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DIE SPHINX VOM BODENSEE

Es empfängt mich der Autor des »Kochbuchs

für Füchse«, Professor Dr. Heinz Maier-Leibnitz,

Atomphysiker, ehemals Präsident der Deutschen

Forschungsgemeinschaft, Kanzler des Ordens

Pour le Mérite, Friedensklasse.

Deutschlands prominentester »Gastrosoph« hat für

seine Frau und mich gekocht – in der kleinen Küche

des bescheidenen Häuschens am Bodensee, das

Deutschlands renommierteste Meinungsforscherin

schon seit 1947 bewohnt.

Frau Noelle-Neumanns rasante Mobilität ist ebenso berühmt wie gefürchtet. Vormittags konferierte sie noch in Mainz mit Ministerpräsident Vogel, nun erwarten wir sie beim Sherry in der winzigen, aber mit bibliophilen Schätzen vollgestopften Bibliothek.

Das erste, was wir von ihr sehen, ist ihr Fahrer. Er schleppt Taschen und Koffer, schließlich Akten, Papiere und Bücher herein. Dann steht sie selbst in der Tür, vergnügt und energisch wie eh und je, die lebhaften großen braunen Augen haben sofort alles erfaßt und durchdrungen: »Zweieinviertel Stunden Fahrt, kein schlechter Durchschnitt«, sagt sie.

Was hält sie vom Tempolimit 100?

»Wir werden immer das Äußerste herausholen.«

Schon ist sie wieder weg. Treppe hoch, umziehen, nach knapp zehn Minuten nimmt sie huldreich den Toast mit gebratener Hühnerleber aus der Hand des Gatten entgegen. »Danke, Lieber«, das Telefon klingelt. Sucht der Bundeskanzler ihren Rat am Freitag nachmittag?

Der Professor und Liebhaberkoch, geboren 1911 in Eßlingen, bittet liebenswürdig zu Tisch, er muß in einer Stunde zum Flughafen Zürich, da er heute abend in Oxford eine Herrenrunde hat, allesamt Hobbycooks und Wissenschaftler.

Die Fenster des Eßzimmers bieten Ausblick auf einen Frühsommertag über der idyllischen Reichenau. Schon weht sie wieder herein, die »Sphinx vom Bodensee«, aber weder sie noch ihr Ambiente hier zeigen irgendeine Spur von Mythos oder Mystik. »Ich bin Statistiker, bitte setzen wir uns doch.«

Kennt sie Robert Musils hintergründige Bemerkung im »Mann ohne Eigenschaften« – »Die Statistik ist das Schicksal«?

»Damit meint er vielleicht dies: Individualität geht im statistischen Mittel unter, persönliche Meinung in der öffentlichen.«

In ihren Umfragen finden wir uns plötzlich alle in bestimmten Gruppen wieder, in statistischen Trends. Und die können zum Schicksal werden. Sie hört so intensiv zu, daß sie zu atmen vergißt.

Sie bringt das Kunststück fertig, immer in Bewegung zu sein und nie unruhig zu wirken. Weißen Wein oder roten? Sie greift vom Fensterbrett den 82er Wertersheimer Karlsberg Kabinett für sich und für mich. »Und du, Lieber? Roten?« Ihre Fürsorglichkeit ist allgegenwärtig, auch wenn jetzt ein anderes Telefon schnarrt. Sie ist schon dran, die Suppe aus passiertem Kopfsalat muß einen Augenblick warten. Er sagt: »Ich habe Helmut Schmidt zum 60. Geburtstag meine Suppenrezepte geschenkt.«

»Hat er deshalb neuerdings so zugelegt?« Ein diskretes Lächeln.

Sie ist wieder zurück. »Drüben im Institut haben sie mitgekriegt, daß ich da bin. Jetzt ist Schluß mit dem Telefonieren, gehe nachher sowieso ’rüber.« Aber hat sie nicht selbst erfragt, daß die alten Tugenden kein Thema mehr sind in unserer Bundesrepublik? Fleiß zum Beispiel?

»Gilt nicht für Allensbach, Freitag nachmittag ist die Mannschaft an Bord.«

»Wie viele?«

»Neunzig, abzüglich der Urlauber und der Leute im Außendienst und derjenigen, die wir zur University of Chicago schicken oder mit Chicago austauschen.«

Hat sie tatsächlich Deutschlands kleines aber feines Demoskopie-Institut nach Chicago verschenkt?

»Ja – und mit Freuden. Das Max-Planck-Institut wollte es nicht haben, also . . . Chicago ist tonangebend in den social Sciences. 1500 Professoren kommen da auf10 000 Studenten, es ist eine Forschungs-Uni. Wir haben einen fabelhaften Vertrag geschlossen. Allensbach wird so erhalten wie es ist, das auf der Welt einzigartige Archiv mit Jahrzehnten von langfristigen Umfrageprogrammen bleibt unangetastet, wird weitergeführt.«

Stolz auf ein Lebenswerk? »Gleichsam, ja . . .« Diese beiden Worte sind charakteristisch für sie. Sie erforscht mit Vorliebe soziale Spannungsfelder, ihr »gleichsam« schlägt Brücken. Ja? Ihre Fragen – und sie formuliert auch ihre härtesten Feststellungen lieber in Frageform – schließt sie mit diesem suggestiven »Ja?« ab, ihre Art von »nicht wahr«. Aber Chicago noch aus einem anderen Grund. »Grundlagenforschung muß in unserem Fach international sein. Uns interessieren die anthropologischen Konstanten – wie und was ist der Mensch überhaupt? Und dann darin die kulturspezifischen Varianten – wie und was ist der Amerikaner, der Deutsche. Allensbach – Chicago, ja?«

Das kommt alles selbstbewußt und durchdacht, aber ohne jede Anmaßung oder Überheblichkeit – gleichsam selbstverständlich. Die Ehrenbürgerin von Allensbach verleugnet keine Sekunde die Berlinerin. »Wollten Sie mich doch im Lexikon neulich verjüngen, ja. Unsinn. Zahlen müssen stimmen. Ich bin 1916 geboren, nicht früher, nicht später. Mit 19 schickten mich die Eltern auf eine Weltreise, ganz allein.« Sie waren offenbar großzügig und hatten Weitblick, ungewöhnlich 1935 in Deutschland. »Vor allem hatten sie Mut. Und ich auch. Nichts ist mir passiert. Es war großartig, es hat mich geprägt. In der Geschichte der Menschheit liebe ich nichts so sehr wie das Zeitalter der Entdeckungen.«

Der Gastrosoph buddelt jetzt aus grobem Salz den Kapaun heraus. »Im Salz wird er zart und bleibt trocken. Kosten Sie die Trüffeln. Jetzt ein Glas Roten dazu?« Er bevorzugt den 70er Pomerol, Chateau Domaine de l’Eglise, grand cru. Als Beilagen reicht er knallgrüne Erbsenschoten, zartsüß und seine Lieblingskreation: Kartoffeln Gratin Dauphinois. Die Hausfrau rückt die heiße Kasserolle mit energischem Zugriff selbst in die Mitte der Tafel, die goldbraunen Kartoffelscheiben brutzeln noch.

Elisabeth Noelle aus Berlin, Tochter eines Fabrikbesitzers, Enkelin des Bildhauers Fritz Schaper, war in erster Ehe mit Erich Peter Neumann verheiratet; er starb 1973. Die Spötter unter ihren vielen Freunden und Feinden nennen sie nach ihrer Verbindung mit dem großen Physiker, der noch einen zweiten Doppelnamen in die Ehe brachte: Elisabeth Noelle-Neumann-Maier-Leibnitz.

Beide lachen, als ich ihnen berichte, daß in der neuesten Ausgabe des deutschen »Who’s Who« sie ihn 1979 heiratete, er sie aber 1980. »Lasse ich berichtigen«, sagt sie.

»Gretchenfrage: Stimmen die Zahlen bei Ihren berühmten Wahlprognosen?«

»Sie sind Weltspitze. Und entsprechend werden wir bewundert, ja. Und kritisiert, angegriffen.« Ist sie empfindlich gegen Kränkungen? »Natürlich. Sie nicht? Da wird die soziale Natur des Menschen verletzt. Es grenzt oft gleichsam an Ehrabschneidung.«

Ist Allensbach pro CDU?

»Ich gehöre keiner Partei an. Die CDU arbeitet ständig mit drei anderen Instituten. Wir haben zu einem Drittel Aufträge aus der Wirtschaft, zu einem Drittel von den Medien, zu einem Drittel aus der Politik. So bin ich unabhängig und kann es bleiben. Wir arbeiten absolut unideologisch. Nur so können wir doch ermitteln und sagen, was wirklich Sache ist, welches Meinungsklima tatsächlich in der Bundesrepublik herrscht und so weiter.«

»Und genau das will Helmut Kohl von Ihnen wissen? Sind Sie nun oder sind Sie nicht sein persönliches Orakel?«

»Wir haben auch für die Regierung Schmidt orakelt, wie Sie das zu nennen belieben. Wahr ist, daß Helmut Kohl schon als Fraktionsvorsitzender in Rheinland-Pfalz, da war er wohl 33 Jahre, mir behilflich war, den Lehrstuhl für Publizistik an der Universität in Mainz aufzubauen. Wahr ist auch, daß ich ihn oft beraten habe, schon bei Landtagswahlen. Heute ist es so: Ich kann ihn jederzeit anrufen, in Bonn oder auch zu Hause in Oggersheim. Er ruft gelegentlich mich an, zweimal im Jahr reden wir acht bis neun Stunden intensiv miteinander, er ist ein guter Zuhörer, stellt fast nur Fragen. Soll ein demokratisch gewählter Regierungschef denn nicht daran interessiert sein, was das Volk wirklich denkt – jenseits der veröffentlichten Meinung?«

Wir gehen auf den Rasen hinaus, ans Seeufer, in eine milde Sonne. Elisabeth, der nimmermüde Motor, kann auch ganz kontemplativ still aufs Wasser blicken, geradezu entrückt. Der Gastrosoph verabschiedet sich: »Alles im Mikrowellenherd gekocht; übrigens, ich arbeite an einem Buch darüber, Elisabeth muß wieder den Titel finden.«

Aus einem Fenster ihres Hauses blickt ein Falke, eine Nachbildung des ägyptischen Horus. »Sehen Sie, er hat eine Geschichte, sie hat gleichsam mit meinem Leben zu tun, mit Leben überhaupt. Ein Kollege brachte ihn als Geschenk für mich aus Chicago mit. Er packte ihn aus, die Schnabelspitze war abgebrochen. Er war verzweifelt. Nun, ich habe dem Falken eine goldene Schnabelspitze machen lassen. Und ist er nun nicht viel hübscher? Aus dem Unglück kann das Glück werden.«

Tischgespräche - Begegnungen mit Prominenten unserer Zeit

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