Читать книгу Tischgespräche - Begegnungen mit Prominenten unserer Zeit - Thilo Koch - Страница 14
KURT SONTHEIMER
ОглавлениеFREUNDE, DAS LEBEN IST LEBENSWERT!
Professor Sontheimer, Politikwissenschaftler
am Geschwister-Scholl-Institut der
Münchner Universität, gefeierter Redner auf
Evangelischen Kirchentagen,
scharfsinniger Interpret Thomas Mannscher Ironie:
Er ist bedächtig, bescheiden und zuweilen
fast scheu. Man könnte sich ihn als Weinbauer in
den Reben des badischen Kaiserstuhls vorstellen . . .
Am Nebentisch nimmt Hans Jürgen Bäumler Platz, um ihn sieben Frauen. »Eine toller als die andere«, sagt Frau Sontheimer (Berlinerin). Ich versage mir hinzuzufügen: »Eiskunstläufer müßte man sein.« Der Professor aber schaut mich so hintergründig an mit seinen dunklen Augen hinter scharfer Brille, als dächte er dasselbe. Zweifellos aber würde sein so hochgeehrter kritischer Geist sofort abwiegeln, etwa so: »Sieben? Na, na . . .«
Otto Koch, mein Namensvetter, jedoch nicht verwandt oder verschwägert, betrachtet uns inzwischen väterlich mit erwartungsvollen Augen unter hoher weißer Mütze und über urigem Bart. Natürlich empfiehlt er sein Semmelknödelsoufflé, und natürlich denken wir dabei an Karl Valentins unvergeßlichen Dialog mit Liesl Karlstadt über die korrekt bayerische Aussprache des Wortes Semmeln-Knödeln. Chefkoch Koch versteht unser Lachen hoffentlich nicht falsch, denn er erklärt uns nun sehr ernsthaft seine Philosophie der Veredelung der bayerischen Volksküche und verweist dezent auf eine Weißwurst von Meeresfrüchten auf Senfbutter in seiner großen Speisekarte.
Inzwischen füllt Sommelier Marcel die Pokale mit dem Champagner des Hauses, und Professor Sontheimer erregt sofort das Entzücken des Oberkellners (»Moi, je suis Marcel de Lyon, Monsieur!«), als er mit ihm in makellosem Französisch über Lagen und Finessen der Weine der Champagne parliert. Schließlich hat der Homme de lettre Kurt Sontheimer in diesem Jahr die Memoiren Raymond Arons ins Deutsche übertragen und dafür – auch dafür – viel Lob geerntet. Der bedeutendste französische Politikwissenschaftler und Soziologe unserer Zeit steht zweifellos dem Denken Kurt Sontheimers nahe, und sollten sich beide Herren einander dermaleinst auf dem Parnaß der erlauchten Geister des Jahrhunderts begrüßen, werden sie die großen Gegenstände dieser Welt hier unten aus brüderlicher Sicht gemeinsam bedenken und bekritteln.
Die Stimmung des Abends ist aufgekratzt. Die Sontheimers wollen am anderen Morgen in den Urlaub nach Portugal aufbrechen. Der Professor hat einigen Ärger an der Uni in München und eine große Ehrung in Bonn hinter sich und – einen Herzinfarkt vor einigen Monaten. Ich schaue ihn mir näher an. Ich fand ihn immer vitaler, robuster, als er auf den ersten Blick wirkt und als seine sanfte, stets freundlich-verbindliche Art ahnen läßt. Hat ihn die durchaus lebensgefährliche Herzattacke verändert? Will der 57jährige nun womöglich in »die Zugabe« an Lebenszeit möglichst viel hineinpressen? Oder wuchs ihm klärend-abklärende Distanz zu?
Wir essen und trinken zu gut, reden zuviel, als daß ich so ernste Fragen an diesem Abend beantwortet finden könnte. Was verschlägt’s? Unsere Damen und wir beiden alten Freunde schwatzen und lachen kreuzweise durcheinander. Habe ich Kurt je so heiter erlebt? Oder ist jetzt doch ein bißchen mehr Lebenshunger in der Art, wie er diagonal zwischen den Themen hin und her hüpft, das Glas hebt, die Zigarette unterdrückt. Ich denke, später vor der Tür wird er singen: »Freunde, das Leben ist lebenswert . . .«
Das tut er jedoch keineswegs. Es wäre dem strikten Verkünder von Aufklärung und Rationalismus wohl doch zu enthusiastisch, zu emotional und unkontrolliert. Wir sprechen vom Reisen und – wie könnte es anders sein – vom Zustand der Demokratie »in diesem unserem Lande«. Es amüsiert ihn der »preußische Feldwebelbart« Marcels de Lyon, ein Bilderbuch-Moustache. Aber sein nächster Satz ist ernst und lautet: »Nein, die Gefahr der Verführung besteht nicht mehr. Ich habe Vertrauen in die politische und geistige Entwicklung der Bundesrepublik.«
»Haben wir der Nation etwas zu sagen?« fragt er mich später. »Und wer hat ihr etwas gesagt? Wer ist heute das geistige Deutschland? Marion Dönhoff, Weizsäcker, dieser Glücksfall eines Bundespräsidenten?«
Der gab ihm die Ehre, als er vor wenigen Wochen in Bonn den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik erhielt. Hans Maier sprach die Laudatio. Der bayerische Kultusminister würdigte Sontheimers Standardwerk »Grundzüge des politischen Systems in der Bundesrepublik«, seine Arbeiten über die Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, sein letztes Buch »Zeitenwende« mit der fundierten Absage eines Sozialdemokraten an alle linken Liebäugler mit »alternativer« Politik.
Sontheimer schätzt Maier, Maier schätzt Sontheimer. Da ist ein Grundkonsensus der beiden Münchner Professoren für Politikwissenschaft, der reicht über die verschiedene Konfessionsund Parteizugehörigkeit hinweg – und trägt. Auch weil sie beide aus der heitersten, lebensoffensten Provinz Deutschlands kommen, aus Baden? Sicher auch das, aber keineswegs nur das. »Laissez-faire – laissez-aller« nennt Kurt Sontheimer in dem informativen, höchst aufschlußreichen Fragebogen, den das FAZ-Magazin an Prominente verschickte, sein Motto (Schlagwort des wirtschaftlichen Liberalismus, insbesondere des 19. Jahrhunderts, nach dem sich die von staatlichen Eingriffen freie Wirtschaft am besten entwickelt / Schlagwort für das Gewährenlassen).
Wie das? Der Mann, der mir eben noch sagte: Man muß sich bekennen, als ich ihn fragte, warum er gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität München an Franz Josef Strauß zu dessen 70. Geburtstag gestimmt habe, derselbe Mann bekennt sich zu einer so liberalen Maxime? Gewiß doch – und gerade deshalb ist er gegen Personenkult und gegen große Männer, die seinem Ideal der Toleranz nicht ganz entsprechen.
Professor heißt Bekenner. Ich könnte mir Professor Sontheimer, den Politikwissenschaftler am Geschwister-Scholl-Institut der Münchner Universität, den gefeierten Redner Evangelischer Kirchentage, den scharfsinnigen Interpreten Thomas Mannscher Ironie auch als Weinbauern in den Reben des badischen Kaiserstuhls vorstellen. Er ist bedächtig, bescheiden und zuweilen fast scheu. Er ist down to earth; der Flug der Gedanken bleibt stets realitätsbezogen, wirklichkeitsnahe.
Gute Politik, das ist für ihn kein himmelstürmendes Gewabere der Ideologien, sondern sie soll ganz konkret und praktisch dem Menschen dienen. Und dem Menschenrecht!
Als die Damen die rosarotgebratenen Lammrückenscheiben nicht mehr schaffen, würdigt er auch noch dieses letzte Hauptgericht im »Le Gourmet« gebührend, schlürft den dekantierten edlen Roten aus Burgund und hat doch noch Lust, meine Frage »Was ist für dich politische Kultur?« blitzschnell mit einem einzigen Wort zu beantworten: »Stil.«
Zu der FAZ-Frage »Ihre Lieblingsbeschäftigung?« sagte Kurt Sontheimer: »Geistvolle Geselligkeit en miniature.« – Voilà!