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Zigeuner – im Fahren erfahren

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»Personen mit häufig wechselndem Aufenthaltsort« – da klingt Zigeuner doch viel besser als dieser verbale Zahnschmerz aus dem Polizeideutsch, das außerdem auch die Bezeichnung »mobile ethnische Einheiten südeuropäischer Herkunft« verbrach. Ob sich die Gemeinten unter der heute verwendeten Bezeichnung »Landfahrer« wohler fühlen?

Natascha Winter nennt sich gerne Zigeunerin. Und Natascha Winter hat es geschafft. Die eifrige Sintidame hat verschiedene Stämme unter einen Hut gebracht, der sich »Sinti Allianz« nennt. Auf ihrer Website tanzt eine »schöne Zigeunerin«, erklingt Rigo Winterstein, dreht sich ein Wagenrad. Die Frau mit der klaren rheinischen Sprachfärbung hat keine Probleme mit Klischees. Zunächst will ich wissen, ob es in der Sintisprache das Wort »Reise« überhaupt gibt.

»Für Reise haben wir kein Wort. Das müssen wir inhaltlich umschreiben. Wir können sagen ›über Land fahren‹. Und ›Tourist‹ gibt es auch nicht, denn so was existierte nicht im alten Indien, wo unsere Sprache herkommt. Aber heute ist sie mit vielen Lehnwörtern durchzogen. Wir verwenden also die deutschen Wörter ›Fliegen‹ und ›Flugzeug‹.«

Sind Zigeuner überhaupt noch ein »fahrendes Volk«? Oder ist das – und das Wort gibt es tatsächlich – antiziganistisch? Schwere Frage, denn Sinti und Roma sind mindestens so unterschiedlich wie Deutsche und Schweizer. Damit es richtig kompliziert wird, sagen Sinti, sie seien eine Volksgruppe wie etwa die Friesen, Roma aber sehen sich als nationale Minderheit. Lassen wir mal die Roma beiseite, denn mit denen liegt Frau Winter im Clinch. Aber sie kann schätzen, wie viele Sinti noch fahren.

»Was heißt eigentlich fahren? Da muss man vorsichtig sein. Aber ich schätze, vielleicht ein Drittel sind Berufsreisende, Musiker, Künstler, Puppenspieler. Die sind im Sommer unterwegs, aber auch nur, solange ihre Kinder noch klein sind. Viele sind auch Antiquitätenhändler oder ganz allgemein Händler. Ja, etwa ein Drittel, vielleicht auch nur ein Viertel.«

Reisen Sie anders als ich?

»Wenn ich beruflich unterwegs bin, bin ich genauso im Hotel wie Sie. Aber Zigeuner haben eine Aversion gegen Züge. Das steckt uns noch in den Knochen vom Dritten Reich, von den Deportationen. Manche können deswegen bis heute keine Straßenbahn fahren. Wir kommen meistens nur dahin, wo man mit dem Auto hinkommt. Aber das gilt jetzt für uns Ältere wie mich. Bei der Urenkelgeneration ist das schon anders.«

Stimmt das Klischee, dass Sie Mercedes gegenüber anderen Automarken bevorzugen?

»Grundsätzlich gibt es da keine Präferenzen. Aber die Berufsreisenden fahren ja meistens mit dem Wohnwagen, das geht ja nicht mit ’nem Goggo oder Käfer. Da brauchen Sie viel PS, sonst kommen Sie die Berge nicht hoch. Deswegen Mercedes, BMW oder manchmal auch Opel.«

Also hat das Reisen eine andere Bedeutung als für andere Leute.

»Bei den Sinti ist das so: Sobald die Sonne rauskommt, werden wir unruhig, wir halten uns gerne draußen auf. Das ist ein großes Problem für Leute, die durch ihre Berufe eingesperrt sind. Traditionell sind Sinti Künstler und Händler, üben mobile Berufe aus. Wenn sie auf einer Dorfhochzeit gespielt haben, dann gab es nach der Feier nichts mehr zu tun, also musste man weiterfahren. Wissen Sie, ich würde sofort tauschen mit dem Leben von früher. Die Gemeinschaft war viel stärker. Wir wohnen ja heute auch verstreut über mehrere Orte, da müssen Sie mit dem Auto fahren. Früher konnten Sie aus Ihrem Wohnwagen raus und in den nächsten wieder rein. Viele Leute würden noch mehr reisen, aber der Strukturwandel … Das fing mit den Musikboxen an, ein Elend für die Musiker. Früher gab es in jeder Kneipe am Wochenende Livemusik. Und dann kamen die Discos auf. Oder die Händler. Früher waren wir die Einzigen, die über Land gefahren sind. Dann kamen die Kataloge auf, die Leute haben sich Waren schicken lassen. Daher können wir unsere Berufe nicht mehr ausüben.«

Anspieltipps zum Thema: »Gypsy« von Uriah Heep & »Zigeunerjunge« von Alexandra & Schnuckenack Reinhardt (alles).

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