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Überraschung, Phase 5

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Meine Buchungsnummer heißt M791UZ. Donnerstags werde ich hinfliegen, samstags zurück, also an verkehrsschwachen Tagen. Dabei weiß ich noch gar nicht, wohin!

Ich habe mich für die Themengruppe »Stadt Osteuropa« entschieden, weil ich da wenig kenne. Für jeweils 5 Euro habe ich die Reiseziele Prag und Riga ausgeschlossen und zahle somit für Hin- und Rückflug inklusive aller Gebühren 48 Euro. Die Deutsche Bahn würde mich für diesen Preis von Erfurt nach Halle und zurückgondeln.

Es kann Zagreb sein, Sofia, Budapest, Warna, und ich öffne die E-Mail, und es ist … Katowice! Super, Katowice in Polen! Ähm, und was ist da genau?

Es ist wie ein Befehl von oben, dass ich nach Polen fliege, denn Ewa, eine polnische Bekannte, beobachtet zutreffend: »Die Daitsche fahre immer wohin und vorhäar kucken, was alläs gibt. Fir was? Musst wohin fahren und schauen, was da gibt. Ist viel schänar.«

Am Kölner Flughafen sitzt im Wartebereich am Gate ein altes Paar, das einer Nonne Schwarz-Weiß-Fotos zeigt, vermutlich von dem Ort, wo jemandes Wiege stand. Ich riskiere aber nicht zu fragen. Stattdessen sehe ich mich am Bücherstand gegenüber bei den Reiseführern um. Kattowitz kann ich nicht entdecken, aber mehrfach Kraków. Ich erinnere mich grau, dass das in der Nähe liegt, aber nein: Keine Vorinfos, die Überraschung soll ja noch ein bisschen halten.

Einstweilen bildet sich am Gate wieder eine dieser unerklärlichen Schlangen, wo Menschen anstehen für … für was eigentlich? Das Spektakel Mensch = Schlachtvieh bleibt ein Klassiker. Mir unerklärlich, wieso wir uns nicht gegenseitig essen. Die Mieten würden sinken, es gäbe weniger Staus.

Eine halbe Stunde bevor das Gate geöffnet wird, stehen sie wie Kühe an, trotz nummerierter Plätze. Im Fußballstadion wird eine halbe Stunde vor Anpfiff wenigstens laut und unflätig gesungen. Dafür entpuppt sich nach dem Losfliegen eine Urkölner Seniorengruppe als Ansammlung ausgewachsener Spaßgranaten. Die greise Dame direkt hinter mir leidet offensichtlich unter mittelprächtiger Flugangst, was den Rentner neben ihr anfeuert, zu jubilieren und zu krakeelen nach der Gesetzmäßigkeit: Je bleicher sie wird, desto lauter wird er. Wie ein Dreijähriger quietscht er: »Hoooo … epp-paaaa, uuund jetzt linksrum. Uuuun jetzt jeit et rückwääärts. Un jetzt jeit et abwäääärts.« Und tatsächlich bollern wir gegen dicke Wolken und sacken in kleine Luftuntiefen.

Nur etwa jeder Fünfte kauft ein Getränk oder Essen, der Beweis, dass bei der ansonsten üblichen Gratisverteilung nur aus Langeweile gegessen und getrunken wird.

Mitten im Flug, nach einer guten Dreiviertelstunde, meldet sich der Heiopei aus der Pilotenkanzel und begrüßt uns an Bord. Als wäre man mit einer flüchtigen Bekanntschaft mitten im Geschlechtsverkehr und fragt kurz vor dem Orgasmus: Zu mir oder zu dir?

Ich frage das polnisch-kaschubische Paar neben mir, was ich in Kattowitz machen soll. Und sie sagen mir: Gar nichts, weiterfahren. »Nach Częstochowa, das ist Tschenstochau, ja? Oder Auschwitz, na ja, wissen Sie. Oder Wieliczka, das ist Salzbergwerk. Oder Zakopane, ja? Oder am besten Kraków, das ist daitsch Krakau, ja?« Und sie empfehlen mir, niemanden auf Deutsch anzusprechen, sondern immer erst englisch zu sprechen.

Kattowitz ist unter den Flughäfen das Eisenhüttenstadt, nur neuer. Davor stehen zwei Kleinbusse, einer nach Kattowitz, was wohl wirklich eine passende Partnerstadt für Herne wäre, und einer nach Kraków. Vor der Abfahrt, die sich danach zu richten scheint, wann der Bus mit Fahrgästen voll ist, raucht der Fahrer noch eine, dann qualmt ein Fahrgast noch eine, dann dampft der Fahrer noch eine, dann raucht ein anderer Fahrgast noch eine, und dann fahren wir ab, nachdem wir alle noch eine gequarzt haben.

Für 15 Euro nach Kraków. Für lau ein Sitznachbar aus Griechenland, Erasmus-Student, ungeheuer gut aussehend. Er hatte die Ouzo-Idee, in Athen Deutsch zu studieren, erklärt mir auf der gut einstündigen Fahrt die Welt: Dass polnische Gastarbeiter in Griechenland (Sachen gibt’s!) durchaus einen guten Ruf hätten, nicht wie in Deutschland. Dass einige türkische Städte eigentlich griechisch sind, Konstantinopel natürlich, auch wenn es momentan Istanbul heißt, aber auch Istanbul sei ja griechisch (»eigentliß grießiß«). Dass sehr viele Deutsche nach Griechenland gezogen sind. Ich bekomme den griechischen Familienvater aus dem Film »My Big Fat Greek Wedding« als One-Man-Show in 3-D-Animation.

Und ich bekomme Erkenntnisse, auch ohne schicksalsgläubig zu sein. Hat mir etwa ein moldawienstämmiger Kumpel eine Reise abgesagt, damit mich die Fluggesellschaft »Deutschflügel« in eine polnische Stadt fliegt, in der ich aber auf keinen Fall bleiben soll, geschweige denn deutsch reden, damit mir ein griechischer Germanist erklärt, dass es die Türkei eigentlich gar nicht gibt?

Der Grieche hat klare Einsichten: Griechen rauchen mehr als Deutsche, Deutsche trinken mehr als Griechen. Und um die griechische Weltbeherrschung zu belegen, fährt prompt ein polnischer Lkw vor uns mit der Aufschrift »attik«, und mein Begleiter strahlt »wie Attika, die Gegend bei Athen«. Wieso das englische »attic« Dachspeicher bedeutet, kann er weder sich noch mir erklären. Erst bei der Ankunft betrachte ich den glutäugigen Mädchentraum in Gänze, und mir schießt durch den Kopf, dass Polen als eines der schwulenfeindlichsten Länder Europas gilt. Zum Abschied lächelt der Grieche mich an: »Iß heiße Adonis. Wie der grießiße Halbgott.« Klar, wie sonst.

Wie Kapitän Zufall mein Schiff nun mal steuert, gehe ich vom Busbahnhof los, immer schön zickzack, lande vor einem ausgebuchten Aparthotel, gehe weiter, diesmal zackzick, und stehe vor Apartamenty, die eigentlich nix frei haben.

»Nur ein Dreier-Apartment.«

»Das nehme ich.«

Da draußen über dreißig Grad sind, sehe ich keinen Sinn, weiterzusuchen.

»Na ja, das sind aber drei Zimmer.«

»Was kostet das?«

»Na ja, das sind eigentlich drei Zimmer je Apartment.«

»Ja, gottverdammt noch mal, willst du 20 000 Złoty die Nacht oder was?«

Er lacht und schämt sich für den Preis, den er mir nennen muss: 120 Złoty. Das sind 40 Euro, und jetzt schäme ich mich.

Elegant ist es nicht. Neues Ikea. Un-Möbel. Er schließt zwei Räume ab, damit ich nicht alle Betten nacheinander durchprobiere, und geht von alleine auf 100 Złoty runter. Und ich habe ein Zimmer mit Aussicht auf einen gemischten Bürokomplex. Die Lüftung dröhnt herüber. Wenn ich die Augen schließe, kann ich so tun, als rauschte das Meer vor meinem Fenster.

Da ich mit Minimalgepäck reise, suche ich einen Laden, in dem es Einwegrasierer gibt. Und der erhoffte Laden um die Ecke entpuppt sich als Shoppingmonstrum von astronomischen Ausmaßen! Die Galeria Kraków besteht aus 270 Läden, verfügt über 1400 Parkplätze und drei bis vier Millionen flanierende gazellenhafte Studentinnen in Miniröcken, die wir Normaleinkäufer alle mitbezahlen müssen. Muss das sein? Ich würde ja was sagen, aber ich bin Deutscher.

Abends strolche ich um die Ecke und mache einen veritablen Tanzsaal mit Liveband ausfindig! »Ermitaż?« präsentiert das Fieseste aus den Achtzigern, Neunzigern und von heute. Jajaja kokotschambo! Der Eintritt ist frei, dafür herrschen Sittenstrenge und Garderobenpflicht. Die Altersklasse ist im Grunde keine, etwa 30 bis 60, und keine Senioren. Auf Deutsch besonders angepriesene Gerichte: »Brennender Schüssel« und »Ei in Schinken auf einem Salat«. Stelle mir vor, wie ein ganzes Ei in Schinken eingerollt wird und einer der Kellner mit Fliege um den Hals diese Speise auf einem Salatkopf balancieren muss.

Ich frage meinen gelangweilten Thekennachbarn, ob hier jeden Abend getanzt wird, und mein Polnisch ist offenbar unbrauchbar, denn er antwortet mir leidenschaftslos: »Opole«, was vermutlich seine Herkunft meint. Er raucht die Zigarettenmarke »Tiger«, und ich erkenne den richtigen Zeitpunkt, nach Hause zu gehen.

Vor dem Zubettgehen erschlage ich noch alle Insekten an der Wand mit dem Handtuch, zappe durch alle polnischen TV-Kanäle, andere gibt es nicht, also keine Russen, kein CNN, nix. Die Lüftung des Bürokomplexes gegenüber rauscht nachts wie Motörhead beim Soundcheck, selbst bei geschlossenem Fenster, und ich beschließe, mein Bett in den Flur zu schieben. So geht’s.

Frühstück gibt es im Apartamenty-Haus natürlich nicht, aber auf dem Herweg fiel mir gestern die Bar Barcelona auf: sozialistische Bestellkultur, wie weiland in der UdSSR sind die Papierservietten in Trinkgläser gestellt auf schreiend rosa und orangefarbige Tischdecken. Der Kaffee verscheucht Bandwürmer, dafür ist der Käse aus der Packung – die Bar »Barcelona« ist so katalanisch wie Schwerin. Aber authentisch polnisch.

Mir wird bewusst, dass ich zwar erst den zweiten Tag hier bin, aber schon am dritten Tag zurückfliege, und erkundige mich am Busbahnhof nach dem Kleintransporter zum Flughafen Kattowitz. Er ist ausgebucht. Kurwa! (Die Flüche lernt man als Erstes, dann die Biersorten, der Rest steht in den Reiseführern.)

Am Bahnhof regieren wie in den sozialistischen Zeiten diese kleinen Buden, Läden, deren Fensterchen sich mitten in den Warentürmen etwa auf Kniehöhe befindet, in das man seine Bestellung hineinschreit und Geld hineinwirft. Ein Nebeneinander aus Kaugummis, Porno-CDs, Zigaretten, Shampoo, Ballerspielzeug, Corel Draw. Dann fuchtelt ein Arm heraus und lässt die Ware zu Boden fallen.

Heute wird’s heiß. Da heißt es trinken, trinken, trinken. Und dann soll man ja auch noch Wasser zu sich nehmen. Ich spaziere in die Stadt. Bereits die erste Kirche hat etwas mit dem verstorbenen Johannes Paul II. zu tun, der auf einem großen Foto laut Unterzeile augenscheinlich eine Marienstatue heiligspricht. Ich identifiziere das als Quatsch oder das Foto als Fälschung, oder aber mein Impro-Polnisch ist Quatsch. Gläubige betreten das Gotteshaus, bekreuzigen sich vor einem gemalten bärtigen wilden Mann auf einem Boot hinter dem Altar und wenden sich sofort nach links und knien sich hin, manche auf eine gepolsterte Hinknievorrichtung, andere direkt auf den Steinboden. Dieser Seitenaltar scheint wichtiger zu sein.

Im Park ist eine öffentliche Fotoausstellung mit Aufnahmen vom toten Papst und vom lebenden, wie ein Daumenkino für sehr große Daumen. Bizarr, wie sich die alten grauhaarigen Männer auf den Plakaten scheinbar gegenseitig zuwinken und sich mit ihren Goldkreuzen bedrohen.

Der Krakówer Hauptplatz ist der größte mittelalterliche in Europa, aber wie man an Boxergigant Nikolai Walujew sieht, ist der größte nicht immer der schönste.

Die Welt besteht nur aus Sonnenschirmen mit Aufdrucken von Carlsberg, Lucky Strike und Tyskie-Bier, welche diese monumentale Sonnenschirm-Installation finanzieren.

Ich steige als pflichtbewusster Kulturtourist diesen einen Turm hoch, der mitten auf dem Platz steht, ich will ja überrascht werden. Auf jedem Zwischenstockwerk ist irgendetwas Altes ausgestellt. Eine Etage befasst sich mit dem »Sachsenspiegel«. Auf Deutsch! Finanziert von Sachsen-Anhalt, erklärt man mir das älteste deutschsprachige Gesetzbuch, und schon beim Lesen des ersten Satzes klappen mir die Augen bleiern zu.

Der Cityring erinnert von der Form an Dortmund, eine Straße heißt »Westerplatte«, da, wo in Dortmund der Ostwall ist, auch der Bahnhof liegt außerhalb des Rings, in der Nähe wird Kohle abgebaut.

Endlich bewiesen: Růħřgębíęt ist polnische Exklave.

Schindlers Fabrik war hier, überhaupt viel Jüdisches. Sengend heißer Nachmittag am Weichselufer, wo selbst das Wasser zum Fließen zu faul ist.

Zur Kirchenführung im Burggelände Wawel komme ich zu spät, lese später, dass ich das wichtigste Gebäude von ganz Polen verpasst habe, denn die Kathedrale dort besteht aus vier Baustilen auf einmal, ist got., rom., bar. und ren.

Aber ehrlich, für Kirchen bezahle ich nie Eintritt. Andere Leute haben andere sinnlose Prinzipien.

Von der Wawel-Burg geht es für ein paar Złoty eine Wendeltreppe hinunter in die Drachenhöhle. Eine Farce. Verarsche mit Drachenskulptur am Ausgang.

Erst jetzt fällt mir auf, dass mein Herbergsvater der Apartamenty Maksymilian Salpeter heißt!

Der zweiundzwanzigjährige Aushilfsrezeptionist fragt am Abend schelmisch, ob ich eine freie Wohnung in Brüssel wüsste, weil ich aus Köln komme, das ja haarscharf neben Brüssel liegt (200 km). Er will da BWL studieren, um Diplomat zu werden. Ich deute an, dass ich vielleicht eine Putzhilfe kenne, die vielleicht Putzhilfen in Brüssel kennt, da praktisch die komplette EU, zumindest deren Büros in Brüssel, von polnischen Frauenhänden blank gewienert wird. Der Student lächelt unsicher, höflich und versichert mir, dass es bestimmt im Internet tausend andere Wege gibt, eine Bude in Brüssel zu finden. Die Geburt eines Topdiplomaten.

Abends setze ich mich irgendwo an der alten Stadtmauer ins Freie und genieße Sznycel Wiedeński, Wiener Schnitzel, gut und gynstych. Hinter mir quäkt eine Bontempi-Orgel ununterbrochen ein wehmütiges Heimatlied Marke »Junge, komm bald wieder«. Ich mutmaße einen musikalischen Kaugummiautomaten, beschließe, ihm nonchalant den Stecker rauszuziehen, und finde mich vor einem leibhaftigen blinden Seemann wieder! Ich bitte ihn in meinem freundlichsten Polski-Englisch, er solle wenigstens einen anderen Song spielen. Ungerührt klimpert er »Junge, komm bald wieder«, aber jetzt eine Oktave höher. Making friends …

Am nächsten Morgen keine Zeit für Sozialistenfrühstück bei Exilkatalanen, es muss schnell gehen. Also ins Paar-Sterne-Hotel um die Ecke, viel zu viel bezahlt für ein viel zu großes Büfett, aber wer keine Zeit hat, muss eben berappen.

Im Zug nach Kraków ist es heiß, und er bewegt sich sehr beschaulich. Mir zuliebe, damit ich was sehe! Dass das Taxi zum Flughafen fast so viel kostet wie Hin- samt Rückflug, muss eben so sein. Überraschung.

Ich erspare Ihnen die Geschichte des überbuchten Flugs und dass die Fluglinie deshalb ein anderes Flugzeug chartern muss und wie sich die überwiegend deutschen Fluggäste angesichts solcher Imponderabilien und ihrer Platzreservierung verhalten … Nein, viel lieber möchte ich Ihnen die schöne Geschichte des Krakauer Drachen in Kurzform erzählen.

Das war so: Der Drache mordete und brannte Häuser ab und fraß das Vieh der Krakauer. Jeden Monat bekam er als Luxushappen ein junges Mädchen vor die Höhle gelegt. Alle anrückenden Ritter barbecuete der Drache mit seinem Feueratem. Als nur noch die Königstochter Wanda am Leben war, tauchte der Schusterlehrling Dratewka auf, füllte ein totes Lamm mit Schwefel und legte es vor die Drachenhöhle. Der Drache, blöd, wie er war, fraß es. Er bekam Durst, lief hinunter zur Weichsel und trank, bis ihm der Bauch platzte. Der Rest ist Knutschen, Heiraten, König werden und so. Schön, nicht?

Endstation Reisen

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