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Chirurgiereisen – Durchblick durch Weitblick

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Neulich an einem Mittwoch in Köln. Am ganzen Lenauplatz ist kein Mann unter 40 zu sehen, der keine Brille trägt. Ich bin aber mit einem Freund eines Freundes eines Freundes verabredet, der sich ganz frisch seine Augen in der Türkei hat lasern lassen. Es ist wie mit Schwangeren, die nur andere Schwangere sehen. So haben plötzlich alle Männer Brillen auf.

»Hi.«

Das ist Jürgen? Ich hatte einen herumtappenden unsicheren Menschen erwartet mit rot verquollenen Augen. Stattdessen ist der Typ auffallend gut aussehend, hat einen klaren Blick und leuchtende graugrüne Augen, in denen ich etwas suche, das nicht da ist. Hier schwimmt keine Kontaktlinse, hier ist keine Ader geplatzt. Jürgen sieht einfach gut.

Wir setzen uns ins Café Wicleff, und ich beobachte ihn, wie man einen Affen beim Bananenschälen anglotzt. Er studiert ganz normal die Getränkekarte. Er bemerkt es und grinst.

»Gerade Frauen haben vorher gesagt, warum lässt du dir denn die Augen lasern, das ist doch so toll mit Brille.«

So etwas können nur Leute sagen, die Fensterglas tragen. Wer die Wahl hat, labert Qual.

Jürgen ist Mitgeschäftsführer des privaten Nachhilfeunternehmens »Mind Unlimited«, wo laut Eigenwerbung »Kinder lernen lernen«, und es ist nicht leicht, ihm etwas vorzumachen.

Hast du dir vorher in Deutschland eine Augenklinik angeschaut?

»Nö.«

Aber du hattest Vorinformationen, oder bist du etwa blind in die Türkei geflogen?

»Ich habe lange mit dem Gedanken gespielt, irgendwann, wenn ich mal groß bin, meine Augen lasern zu lassen. Und ich habe keine Kontaktlinsen getragen und auf einer Party meine Brille geschrottet. Dann habe ich eine Woche im Internet recherchiert und bin auf Istanbul gestoßen und habe Erfahrungsberichte gelesen. Von der Entscheidung bis zur OP waren’s zwei Wochen.«

Im Netz wird ja nun auch gelogen. Als Klinikbetreiber würde ich auch positive Bewertungen in Foren lancieren.

»Im StudiVZ fand ich auch solche Einträge. Aber auch Foren, die sich gegenseitig schlecht bewerten, da findet ein übler Kampf statt. Und vor Ort sagte der Fahrer, der mich zum Hotel gebracht hat, bei manchen Kliniken wäre es gang und gäbe, sich gegenseitig Kunden abspenstig zu machen.«

Kunden oder Patienten?

»Patient klingt immer nach Krankheit, aber ich war ja nicht krank. Ich wollte eine bestimmte Leistung.«

Ab wann hattest du eine Sehhilfe?

»Als Kind hatte ich eine Brille. Aber im Sommer wird die Nase fettig, da rutscht sie immer runter. Mit 18 bin ich auf Linsen umgestiegen. Klar ist auch eine Portion Eitelkeit dabei, außerdem habe ich mich immer auf meine Brille gesetzt.«

Vor zweitausend Jahren fuhren kränkelnde Römer zum Toten Meer, weil die Heilwirkung des Salzes bekannt war, im Mittelalter fuhr man in Europa zu Heilquellen. Heute aber fliegen Menschen in großer Zahl für Zahnersatz nach Ungarn, für Nasenverkleinerungen nach Asien, für Krebs-OPs nach China und Thailand. Demnächst begegnen wir wohl der neuen Spezies des Stammzellentouristen.

Und in der Türkei lassen sich manche sogar diesen stechenden Blick verwegener osmanischer Reiterscharen ins Auge einbohren, wie wir ihn vom Dönerblitz nebenan kennen.

Warst du direkt in Istanbul?

»Ja, und ich war da vorher noch nie. Und habe direkt drei, vier Tage Kurzurlaub gemacht. Ich hätte die Voruntersuchung auch in Deutschland machen können, die türkische Klinik lehnt immerhin 10 Prozent der Patienten ab. Hornhaut zu dünn und so. Aber das Risiko bin ich eingegangen. Hinterher sagten mir die türkischen Ärzte, dass von den Voruntersuchungen deutscher Kliniken neun von zehn Werten nicht korrekt seien.«

Hast du Angst gehabt?

»Ich bin schissig, ja, aber jeder Zahnarztbesuch ist unangenehmer. Ich bin morgens in Istanbul gelandet, wurde abgeholt und zur Klinik gefahren. Die Türken lieben Designerkliniken: ein imposantes Gebäude wie in einem Science-Fiction-Film, alles auf dem neuesten Stand, stylish, sauber. Dann wurden meine Augen ausgemessen. Und man hat mir die LASIK-Methode erklärt. Der Chefarzt erklärte mir, wie meine Sehstärke sein wird, links keine 100 Prozent, sondern nur 90, was aber reicht. Adleraugen bis 130 Prozent waren bei meinen Augen ausgeschlossen. Ich hätte es, glaube ich, riskiert.«

Ich nicht. Ich will aber auch nicht wie ein verwegener Osmane aussehen.

»Das endgültige Ergebnis steht erst nach einem halben Jahr fest, das Gehirn muss sich darauf einstellen. Die medizinische Leistung gilt vor allem inklusive lebenslanger Nachbehandlungen.«

Sofern es die Klinik dann noch gibt.

»Ach, weißt du, dieser türkische Arzt ist so ein George-Clooney-Typ. Da kommen aus Deutschland so Schickimickifrauen, die lassen sich die Augen nachlasern, nur um ihn noch mal zu treffen.«

Hast du in einem Krankenbett geschlafen?

»Nein, die OP ist ambulant. Die Klinik hat aber das Hotel direkt nebenan vermittelt. Fünf Sterne, die Nacht für 65 Euro mit Frühstück. Ich habe mich aber eh wenig im Hotel aufgehalten. Worauf ich geachtet habe, war die Hygiene. In die Klinik durfte sowieso keiner ohne Tüten über den Schuhen.«

Und das war ein reines Patienten-, Pardon, Kundenhotel?

»Eher geschäftsmäßig. 90 Prozent der Gäste waren deutschsprachig und der Rest US-Soldaten, die da unten eine Fliegerprüfung zum Piloten absolvieren. Noch ein paar Asiaten und ganz vereinzelt Türken.«

Hast du Kontakt zu den anderen Deutschen gehabt?

»Ich wollte bewusst die Stadt für mich alleine entdecken, auch gar nicht viel reden, habe mehr beobachtet und keine Gespräche gesucht. Ich hab mich aus den deutschen Gruppen ausgeklinkt, die sich abends gebildet haben. Ich habe auch vermieden, die Kellner auf Deutsch anzusprechen. Am nervigsten waren die Gespräche danach, der Heilungsprozessvergleich. Mein Auge heilt schneller als deins …«

Die Operation selbst dauert nur zehn Minuten. Danach brennen die Augen, und alle sagten Jürgen, es sei »süper« gelaufen. Wallah! Unruhe entsteht nur, wenn man danach überhaupt keine Schmerzen spürt.

»Aber man ist sehr, sehr groggy. Und muss alle halbe Stunde Augentropfen hineinträufeln. Am nächsten Morgen wacht man auf und hat ein neues Lebensgefühl, so platt es sich anhört. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich morgens aufstehe und alles klar sehe. Es war am 12. Dezember.«

Nach dem derzeitigen Stand der Dinge muss TUI bald neue Pauschalkategorien anbieten:

Flug.

Flug & Hotel.

Flug & Hotel & OP.

Für vier Tage bezahlte Jürgen 1450 Euro, davon 1130 Euro für die OP.

»Danach habe ich rituell meine Brille im Bosporus versenkt. Und auf der Brücke angelten lauter alte Männer. Die haben ganz verdutzt rübergeschaut und mit den Armen gewedelt und gerufen.«

Was hast du als Tourist von Istanbul mitgenommen?

»Die meisten bleiben nur eine Nacht, am nächsten Tag nach der Nachuntersuchung geht’s ab nach Hause. Ich dachte, wenn ich schon da bin, nutze ich das, bin zum Taksim-Platz im Zentrum gefahren. Eine tolle Stadt! Was Vergleichbares fällt einem da nicht gleich ein. Ein Moloch mit zwölf Millionen Einwohnern ist nicht in drei Tagen zu entdecken. Klar habe ich mir Touriorte angeschaut, bin zu Fuß durch Gassen, über die Märkte. Aber die Fußgängerzone könnte auch in Westeuropa sein, Pärchen, die Händchen halten und sich küssen. Abends habe ich vom Hotel aus Schüsse gehört. An dem Tag war zufällig Champions League, und Galatasaray spielte. In meinem Reiseführer stand, das sei normal. Immer wenn ein Istanbuler Verein ein Tor schießt, wird geballert. Jedes Jahr gibt es mehrere Tote und Verletzte wegen Querschlägern.«

■ ■ ■

Sie suchen Ruhe? Im Anonymtest schrieb eine Reiseversicherung 5000 Tourismusorte in Deutschland, der Schweiz und Österreich an und bat um ein handfestes Buchungsangebot. Jeder dritte Ort reagierte erst mal gar nicht. Nicht mal jeder zehnte reagierte brauchbar. Die langsamste Reaktion kam aus einem namentlich leider nicht genannten Ort, der auf die Buchungsanfrage nach 105 Tagen antwortete! Text der Antwort: »Wooos is?«

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Wie hat dein Umfeld auf deinen Chirurgietourismus reagiert?

»›Ja, um Gottes willen, Türkei‹ – das sagten eigentlich alle. Die typische deutsche Arroganz. Keiner kann sich vorstellen, dass es im Ausland vernünftige Kliniken gibt. Damit haben die dort auch zu kämpfen. Aber das Einzige, was an dieser Klinik türkisch ist, ist der Standort. Jeder Patient, der da war, bringt im Schnitt zwei bis drei neue, durch Mundpropaganda. Ich war der Einzige, der nicht über eine Empfehlung da war. Umgekehrt ist es so, dass ich schon wieder zwei Leute weiß, die es auch machen werden. Eine Provision bezahlen die bewusst nicht! Denn sobald man in Deutschland direkt dafür wirbt, ist die Glaubwürdigkeit weg.«

Lief die Entscheidung nur über den Preis?

»Ganz grundsätzlich hatte ich früher Jahreskontaktlinsen für 300 bis 400 Euro, es ging also auch ums Geld. Und ehrlich gesagt war mir Istanbul lieber als Chemnitz, ohne Chemnitz abwerten zu wollen. Ich musste ein gutes Gefühl haben. Mit einer Million Rechtschreibfehlern auf der Website wäre ich auch nicht dahin.«

Zahlt die Kasse den Medizinurlaub mit?

»Die brauchen eine medizinische Indikation. Was bei jedem Fünften der Fall ist, weil sich die Augen in ein, zwei Jahren verändern. Den Flug muss man trotzdem selber zahlen, aber die Flüge sind ja nicht mehr so teuer.«

Das Ungewöhnliche an Jürgen ist gerade die Normalität. Er ist ein Durchschnittsbürger, der eine OP machen lässt, die man seit 20 Jahren durchführt. Er ist einer von Millionen, jeder, der rechnen kann, gibt ihm recht. Also was ist daran seltsam? Erstens fühlt es sich wie ein Misstrauensvotum gegen deutsche Ärzte an, zum Zweiten haben Patienten keine Kunden zu sein und müssen leiden und jammern und tagelang Suppe löffeln, und zum Dritten wird das Paradies samt kultureller Erfahrung eine Art malerisches Hintergrundrauschen. Es ist, als würde man nach Kairo fliegen, um ins Kino zu gehen, in Ottawa einen neuen Rasenmäher kaufen und sich in Kuala Lumpur die Fußnägel schneiden lassen. Moment, da ist vielleicht eine Geschäftsidee drin …

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