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IV.
PLOTIN: SCHÖNHEIT ALS MANIFESTATION DES EINEN59 1. Einleitende Bemerkungen
ОглавлениеAnders als von seinen großen Vorgängern Plato und Aristoteles ist uns von Plotin kein Bildnis mit Sicherheit überliefert.60 Vielleicht ein Zufall, der jedoch für das Denken und die Person Plotins kennzeichnend ist. Porphyrios, einer seiner Schüler und zugleich sein Biograf, berichtet, dass Plotin sich geweigert haben soll, dem Künstler Carterius Modell zu sitzen, der ihn porträtieren wollte. Daher war dieser genötigt, das Porträt aus der Erinnerung zu schaffen. Plotin habe, wie Porphyrios erklärt, zu den Menschen gehört, die sich ihres Körpers, ja der Körperlichkeit ihrer Existenz schämten, und die ganz im Sinne platonischer Aussagen den Körper als Kerker der Seele erlebten. Denn der Körper galt Plotin nur als Abbild des wahren, d.h. des inneren Wesens eines Menschen. Das Porträt, das Abbild der körperlichen Erscheinung, konnte somit nichts anderes als das Abbild eines Abbilds sein, einer vergänglichen Erscheinung, die vom wahren Wesen der Dinge weit entfernt war.
Plotins Abwendung von allem Äußerlichen kam – folgt man seinem Biografen – auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Ruhm, einen großen Namen achtete er ebenso gering wie die sinnlichen Vergnügungen. Über seine Herkunft – Plotin war der Überlieferung zufolge Ägypter – und sein früheres Leben hüllte er sich in Stillschweigen. Seine Person sollte ganz und gar in seiner Lehre aufgehen. Diese Lehre hatte er wiederholt einem kleinen Kreise von Schülern vorgetragen. Erst in späteren Jahren gab er die Zustimmung, seine Gedanken schriftlich fixieren zu lassen. Auch dann noch war ihm daran gelegen, ihre Verbreitung auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten zu beschränken.61 In Plotins Zögern, seine Lehre schriftlich festzulegen, kehren Platos Vorbehalte hinsichtlich des geschriebenen Wortes wieder, das anders als das gesprochene Wort sich nicht gegen Missverständnisse, Entstellungen und Vulgarisierung verteidigen kann. Das geschriebene Wort ist – mehr noch als das gesprochene – der Gefahr ausgesetzt, dass der Buchstabe den Geist, der hinter einer Äußerung steht, verbirgt und dass dasjenige, was als moralischer Appell an eine Person gemeint war, als eine bloß theoretische Aussage missverstanden wird. Wie häufig bei Plato geht es auch bei Plotin keineswegs nur um das intellektuelle Verständnis eines Gedankenganges, sondern zugleich um die Umsetzung eines Gedankens in eine Lebenshaltung, in ein Ethos.62
Doch anders als bei Plato und Aristoteles hat der politisch-gesellschaftliche Hintergrund dieses Ethos bei dem Neuplatoniker Plotin an Bedeutung eingebüßt. In dem Maße, in dem die politische Autonomie der griechischen Stadtstaaten verloren ging, sah sich auch das politische Gewicht des Einzelnen erheblich begrenzt. Zwar gewährten die Römer den Städten des Reiches in gewissen Grenzen Selbstverwaltung, doch nicht politische Verfügungsgewalt über Krieg und Frieden.63 So ist es nunmehr nicht die politische Ordnung, in der der Mensch seine Erfüllung findet; vielmehr erreicht er seine eigentliche Bestimmung erst dann, wenn die Seele mit dem Urgrund aller Dinge – Plotin bezeichnet ihn als „das Eine“ – in Berührung kommt und sich mit ihm in mystischer Anschauung vereinigt.64 Der besondere Rang, der der kontemplativen Haltung beigemessen wird, ist allerdings auch dem klassischen griechischen Denken nicht fremd, man denke etwa an die aristotelische Vorzugsstellung der theoria, der Anschauung der ewigen Ordnung, die in der Natur waltet. Doch unterscheidet sich Plotin von seinen Vorgängern durch die starken mystischen Akzente seiner Lehre und ihren politikferneren Charakter. Gewiss, auch er unterstreicht, dass die Menschen auch durch ihr Handeln, ihre areté, die Tugend, an dem Prinzip, das aller Wirklichkeit zugrunde liegt, teilhaben. Neben dem Schönen ist ihm das Gute eine der vortrefflichsten Manifestationen des Einen. Doch fällt gegenüber dem klassischen griechischen Denken eine Akzentverschiebung auf. Der Weg zum wahren Selbstsein ist für Plotin im Wesentlichen ein Weg der Kontemplation, auf dem die Seele, die verschiedenen Stadien der Wirklichkeit durchlaufend, zu ihrem Ursprung, dem Lande ihrer Herkunft, emporsteigt.
Plotins Lehre vom richtigen Leben und von der Erlösung, der auch seine Auffassung vom Schönen eingeschrieben ist, reicht jedoch über den Bereich des Ethischen und der mystischen Einswerdung hinaus. Denn Plotins Philosophie ist zugleich eine Lehre von der Wirklichkeit im Ganzen. Sie ist Metaphysik und Ontologie. Sie fragt danach, was das Seiende in Wahrheit ist, und sie fragt nach seinem Ursprung. Diese beiden Tendenzen, die metaphysische und die auf Erlösung gerichtete, sind miteinander verwoben. Der Ursprung des Ganzen der Wirklichkeit ist nichts anderes als das Eine, mit dem sich die nach Ruhe und Erlösung strebende Seele zu vereinigen trachtet. So bemerken wir in Plotins Denken eine zentripetale und eine zentrifugale Tendenz, eine sich aus der Welt zurückziehende und eine in die Welt zurückkehrende Bewegung. Einerseits soll die Seele den Weg fortschreitender Verinnerlichung beschreiten (es ist diese Haltung, die in Plotins Vorbehalten gegenüber dem Porträt zum Ausdruck kommt). Andererseits ist das Reich des Wirklichen Manifestation dieses Ursprungs, dessen formgebende Kraft das Ganze der ‚materiellen‘ Welt durchdringt. Die Körperwelt ist somit nicht nur schlicht Gegenstand der Abwendung, sondern ebenso der Bewunderung und Wertschätzung, insofern sie den Ursprung und dessen Macht mehr oder weniger adäquat zum Ausdruck bringt. Die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit können somit auch als Stadien gesehen werden, die die Seele auf ihrem Wege heimwärts erkennend durchlaufen muss, will sie sich der allumfassenden Macht des Ursprungs versichern. Es verwundert nicht, dass auf dieser Grundlage auch die ‚ästhetischen‘ Phänomene – sinnliche Schönheit und Vollkommenheit – Anerkennung finden können, nämlich als eine der Erscheinungsformen des Einen, des ersten und ursprünglichen Prinzips. Doch wird diese Anerkennung zugleich auch wieder eingeschränkt. Denn die ursprüngliche Wirklichkeit kann für Plotin auf adäquate Weise nicht mit den Sinnen, sondern nur in der Innerlichkeit des Geistes und der Seele erfasst werden. Diese Denkfigur, die die Anerkennung des Schönen mit seiner Herabsetzung verbindet, wird für das europäische Denken über Kunst und Schönheit von zentraler Bedeutung bleiben.65