Читать книгу Sisis schöne Leichen - Thomas Brezina - Страница 20
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Alexander stützte seine Mutter. Sie war seit dem Tod ihres Mannes in sich zusammengesunken und oft überkamen sie unkontrollierte Weinkrämpfe.
Familie Oberland besaß auf dem St. Marxer Friedhof ein Grab, in dem bereits Alexanders Großeltern beerdigt worden waren. In den grauen Grabstein waren bei der Errichtung die Namen seiner Eltern und ihre Geburtsjahre eingehauen worden. Bei ihrem Tod musste nur noch die Jahreszahl ergänzt werden.
ALFRED OBERLAND
1814 -
MARGARETHE OBERLAND
1817 -
Nie hätte Alexander gedacht, dass 1866 als Todesjahr eines Elternteils auf dem Stein stehen würde. Als Kind hatte er die Eltern für unsterblich gehalten und als Erwachsener waren ihm beide stets gesund vorgekommen.
Der Arzt der Familie hatte den Tod einen Unfall genannt. »Das Gift der Bienen ist nicht zu unterschätzen«, hatte er doziert. »Im Fuß oder in der Hand führt es zu Schwellungen, die jeder schon einmal erlebt hat. Sie geben eine Vorstellung, was sich in der Nase oder im Rachen abspielen kann.«
Alexander hätte den Arzt am liebsten aus dem Haus geworfen. Seine Mutter hatte heftig geschluchzt. Der geliebte Vater und Ehemann war tot, von einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen. Doch der Arzt hörte nicht auf, zu reden und Erklärungen abzugeben. Mitgefühl schien er nicht zu kennen.
Während der Trauerzug dem Sarg zum Grab folgte, musste Alexander immer wieder an den Moment denken, an dem sein Vater zusammengebrochen war. Er hatte sofort geahnt, dass der Vater tot war. Seine Augen hatten starr ins Leere geblickt und schnell ihren Glanz verloren.
Immer wieder liefen diese Momente und Bilder in seinem Kopf ab. Alexander konnte sie nicht verdrängen.
Seine Mutter stolperte und Alexander konnte sie gerade noch auffangen. Er drückte ihren Arm an sich.
Hinter ihnen hörte Alexander die knirschenden Schritte der Trauergäste und hin und wieder ein kurzes Schluchzen. Sein Vater war angesehen gewesen, auch wenn er die Zurückgezogenheit liebte. Zum Begräbnis waren Leute gekommen, denen Alexander nie zuvor begegnet war. Sie hatten sich als Kollegen aus der Hofbibliothek und als Historiker der Universität vorgestellt. Sein Onkel, seine Tante, zwei Cousinen, einige Freunde und Bekannte waren auch unter den Trauernden. Alle vereinte die Erschütterung über den unerwarteten Tod von Alfred Oberland.
Als sie das offene Grab erreichten, blieb der Pfarrer neben dem Erdhügel stehen. Vier Männer des Bestattungsunternehmens, in schwarze Gewänder gehüllt, hoben den Sarg vom Wagen, den sie selbst gezogen hatten. Der Priester begann, die Worte der Einsegnung zu sprechen.
Ein leichter Wind strich über die Trauergemeinde hinweg und ließ das Gewand des Pfarrers flattern. Alexander überkam ein Gefühl von unendlicher Einsamkeit. Natürlich hatte er noch seine Mutter, aber der Vater war der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen.
Alexander war ein kranker und schwächlicher Junge gewesen. In der Schule war er wegen seiner zarten Glieder und Blässe verspottet worden. Sein Vater hatte ihn immer getröstet und versichert, auch in einem Kind wie ihm steckten viele Talente. Er hatte seine Wissbegier und seine Freude am Lesen gefördert und ihn ständig mit Büchern versorgt.
Wenn andere seines Alters feierten, tranken und tanzten, ging Alexander nicht mit. Ihm fehlte der Mut dazu. Er bekam einen roten Kopf, wenn er mit einem Mädchen sprach, und da sein linkes Bein ein wenig kürzer war und er hinkte, traute er sich nicht zu tanzen. Als sein Vater noch lebte, war Alexander nie allein gewesen. Was aber sollte nun werden?
Bei den Worten des Geistlichen spürte Alexander Bitterkeit in sich hochsteigen. Trost empfand er keinen, wenn er von Vorausgehen und Auferstehung und dem versprochenen Wiedersehen hörte. Sein Vater, sein geliebter und hoch geschätzter Vater, war nicht mehr unter ihnen und er würde ihn nie wieder um Rat fragen können. Er hatte einen wahren Freund verloren. Seinen einzigen Freund.
Weil er es nicht ertrug, den Sarg anzusehen, ließ er den Blick in die nächsten Reihen des Friedhofs schweifen. Wie mahnende Kreaturen erschienen ihm die Grabsteine, die in regelmäßigen Abständen nebeneinanderstanden. Mit lautem Krächzen flatterten ein paar Krähen auf. Alexander blickte in die Richtung, aus der ihre Schreie gekommen waren.
Hatte er richtig gesehen? War dort jemand? Ihm kam es vor, als hätte sich jemand hinter einem dunklen Grabstein geduckt. Er zählte. Das Grab war drei Reihen entfernt und wurde von einer Weide beschattet. Auf den Grabstein stütze sich, seitlich nach vorne gebeugt, eine steinerne Figur in Kutte und mit weiter Kapuze.
Hatte von dort drüben jemand zu ihnen herübergeblickt?
Alexander ließ das Grabmal nicht aus den Augen.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, hörte er den Pfarrer sagen.
»Amen«, antwortete die Trauergemeinde.
Noch immer fixierte Alexander die Stelle, an der er die Bewegung wahrgenommen hatte. Wer sich von seinem Vater verabschieden wollte, musste sich doch nicht verstecken.
Seine Mutter löste sich von seinem Arm und machte einen Schritt nach vorne. Alexander blieb stehen, den Blick weiter starr auf das Grab gerichtet.
»Herr Oberland«, sagte der Pfarrer mit ernster Stimme.
Alexander zuckte, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Einer der Schwarzgekleideten streckte ihm eine kleine Schaufel mit Erde entgegen. Alexander trat vor, ergriff sie und ließ die Erde auf den Sarg in der Grube fallen. Als die Erde auf den Sarg prasselte, erschauderte er. Es war, als verschüttete er einen Teil von sich selbst.
Seine Mutter und er wurden ein paar Schritte weitergeschoben. Jemand erklärte murmelnd, sie sollten hier am Wegesrand für die Kondolenz stehenbleiben.
Da entdeckte Alexander die Person erneut. Sie huschte geduckt hinter dem Grabstein vor. Schwarze Jacke, schwarze Hose und ein schwarzer Hut mit Feder. Sehr schlanke Gestalt, nicht sehr groß. Alter unmöglich zu schätzen.
Wer immer das auch war, wieso ging er nicht aufrecht? Wieso diese gebückte Haltung? Alexander erschien es, als wollte jemand nicht bemerkt werden. Allerdings stellte er sich dabei sehr ungeschickt an. Der Unbekannte verschwand im hinteren Teil des Friedhofs.
Gab es hier Landstreicher? Oder Grabräuber?
Alexander bemerkte, dass ihn jemand angesprochen hatte. Vor ihm stand eine Nachbarin, die ihm die Hand reichte und ihr Beileid ausdrückte. Er wollte über ihre Schulter in die Richtung sehen, wo der Unbekannte verschwunden war, zwang sich dann aber, die Kondolenz entgegenzunehmen und nicht unhöflich zu wirken. Abwesend schüttelte er Hände, und nickte, wenn die Leute murmelten, wie entsetzlich der Tod seines Vaters doch sei.
Jemand schien ihn vorhin beobachtet zu haben. Aber wer?
Die Schlange der Kondolierenden nahm kein Ende. Seine Mutter konnte vor Kummer kaum sprechen. Auf Rat seines Onkels, dem Bruder seines Vaters, hatten sie in einem nahen Wirtshaus ein Hinterzimmer reserviert, in das sie die engsten Verwandten und Kollegen zum Essen einluden.
Der Leichenschmaus gehörte eben zu einer schönen Leich dazu.
Die Mutter drückte Alexander Geld in die Hand, nachdem der letzte Trauergast seine Aufwartung gemacht hatte. »Für die Pomfüneberer«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Alexander ging zu den Schwarzgekleideten und verteilte die Münzen. Die Totengräber, zwei einfache Männer in erdverkrusteten Hosen, warteten ebenfalls auf ihr Trinkgeld. Alle bedankten sich und die Totengräber wollten bereits damit beginnen, das Grab zuzuschaufeln.
»Warten Sie«, sagte Alexander. Die Männer sahen überrascht zu ihm.
»Ich habe eine Frage. Vorhin war dort hinten eine kleine Person. Dünn. So groß.« Er zeigt mit der Hand die geschätzte Größe. »Ganz in Schwarz. Sie hat herübergesehen und sich versteckt. Wissen Sie, wer das gewesen sein könnte? Ist diese Person öfter hier?«
Die Mitarbeiter des Begräbnisunternehmens schüttelten den Kopf und gingen. Die Totengräber wussten auch nichts.
»Aber auf dem Friedhof treiben sich manchmal grausige Leute herum«, meinte einer von ihnen. »Da gibt es welche, die sind ganz narrisch auf die Toten. Vor allem auf die toten Frauen. Wenn sie jung sind.«
»Und vor ein paar Jahren hat einer Särge geöffnet und den Toten Disteln auf die Brust gelegt.«
»Wieso das?«, wollte Alexander wissen.
Der Totengräber schnitt eine Grimasse. »Damit die Geister in den Särgen bleiben. Es gibt so viele Narrische auf der Welt. Drum sind mir die Toten lieber. Die stellen nichts mehr an.«
»Außer einer wacht wieder auf und klopft von innen«, sagte der andere.
»Das kommt vor?«
Der Totengräber nickte mit wichtiger Miene. »Ist schon geschehen. Wir haben ihn gehört. Sonst wäre er lebendig eingegraben worden.«
Als er den anderen folgte, sah sich Alexander immer wieder um. Er konnte die Person in Schwarz nirgendwo mehr entdecken. Ihm war kalt und er zog seine Jacke fester zu. Wer so dünn war wie er, der fror leicht.
Dann ging er durch den Friedhof Richtung Wirtshaus. Dabei lauschte er aufmerksam, ob aus einem der Gräber ein Klopfen drang.