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Latour wusste, dass er keine Schuld an dem trug, was die Kaiserkinder an diesem Tag hatten mitansehen müssen. Er konnte doch nicht ahnen, dass der Mann vor Gisela und Rudolfs Augen tot umfallen würde.

Josef Latour war erst seit einigen Monaten von Elisabeth mit der Erziehung des Kronprinzen betraut worden. Er wusste, dass sie seine Besetzung gegen den Widerstand des Kaisers durchgesetzt hatte. Man erzählte sich im Schloss, Elisabeth hätte dem Kaiser ein Ultimatum gestellt: Entweder sie durfte allein darüber entscheiden, wo sie wohnte, wohin sie reiste und von wem der Kronprinz unterrichtet wurde, oder sie würde Kaiser Franz Joseph verlassen.

Der Kaiser hatte nachgegeben. Ob aus Liebe oder Angst vor dem Skandal, konnte Latour nicht einschätzen.

Und nun dieser schreckliche Vorfall. Dabei hatte alles wunderbar begonnen.

Alexander, der junge Naturkundelehrer, hatte vorgeschlagen, mit Rudolf einen Ausflug zu machen. Um ihm das Leben der Bienen näherzubringen, wollte er mit dem Kronprinzen und Latour seinen Vater besuchen, dessen große Leidenschaft die Imkerei war.

Kronprinz Rudolf und seine zwei Jahre ältere Schwester Gisela wurden getrennt unterrichtet. Die Erzherzogin hatte einen weiblichen Hofstaat, der sich um ihre Ausbildung kümmerte. Die Geschwister sahen sich nur noch selten, und das schmerzte sie sehr. Rudolf beklagte sich oft darüber, wie sehr er seine Schwester vermisste. Der Ausflug war auch dafür gedacht, den beiden einen gemeinsamen Tag zu ermöglichen. Kaiserin Elisabeth hatte Latour ausdrücklich ihre Zustimmung erteilt. Ob sie mit dem Kaiser darüber gesprochen hatte, darauf wollte Latour allerdings nicht wetten.

Den ganzen Hinweg war der kleine Kronprinz so vergnügt gewesen, wie es ein Siebenjähriger nur sein konnte. Er genoss die Kutschenfahrt und redete die ganze Zeit vom Honig, den er so gerne aß. Gisela war neugierig, wie echte Bienenwaben aussahen. In den letzten Monaten hatte Latour öfters solche Momente erlebt. Es waren Momente, in denen er erkannte, dass Rudolf und Gisela gewöhnliche Kinder waren, unbeschwert und unberührt von der komplizierten Welt der Erwachsenen. Dann schmerzte es Latour manchmal, wenn er daran dachte, was diese Welt für die beiden Kinder, vor allem für Rudolf, bereithielt.

Latour und Alexander waren mit den Kaiserkindern zu einem Fuhrwerkerhaus gefahren, nicht unweit des Praters.

»Fuhrwerke gibt es dort schon seit einer Generation nicht mehr«, erzählte Alexander, als sie in die Straße einbogen, in der das Haus lag. »Mein Vater war der erste in der Familie, der ein Universitätsstudium absolvierte. Doch seine große Liebe gilt der Imkerei.«

Alexanders Mutter, eine rundliche Frau mit rosigen Backen, hatte die Gäste empfangen und tief vor den kaiserlichen Hoheiten geknickst. In der Küche warteten auf einem Tisch mit Honigcreme gefüllter Kuchen und Limonade, die mit Honig gesüßt war. Zwei Gläser Honig standen zum Mitnehmen bereit.

Als hätten sie seit Tagen nichts zu essen gehabt, machten sich die Kinder über Kuchen und Limonade her.

Alexanders Vater kam aus dem Garten und begrüßte die hohen Besucher. Er schwitzte und sein kragenloses Hemd klebte an seinem Rücken. Auf Latour machte er einen nervösen Eindruck. Vermutlich hatte seine Aufregung mit den Kaiserkindern zu tun. Seine Frau bot ihm Kuchen und Limonade an, aber ihr Mann lehnte alles ab.

Durch eine niedrige Tür traten sie ins Freie. Der Imker zeigte ihnen eine Holzkiste, die an der Oberseite einen Deckel hatte.

»Die neueste Technik der Imkerei«, erklärte er und zog Holzrahmen heraus. »In diesen Rahmen bauen die Bienen aus Wachs ihre Waben. Sind sie mit Honig gefüllt und verschlossen, kann ich sie herausnehmen. Ich kratze die Wachsdeckel ab und stelle die Rahmen in diese Schleuder. Auch sie ist brandneu. Erst vor einem Jahr wurde sie vorgestellt und ich habe eine der ersten erstehen können.«

Die Schleuder war eine nach oben hin geöffnete Trommel mit einer Kurbelmechanik. Rudolf und Gisela durften beide an der Kurbel drehen und die leere Schleuder in Betrieb sehen.

Höhepunkt der ungewöhnlichen Unterrichtsstunde war der Besuch bei den Bienenstöcken.

»Für den Besuch der kaiserlichen Hoheiten habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht«, verkündete der Imker. »Zum ersten Mal in diesem Jahr werde ich einen vollen Rahmen aus einem Stock entnehmen. Die Hoheiten müssen mir dann helfen, den Honig herauszuschleudern.«

Er führte die Besucher zu einem Strauch, wo ein Tisch und zwei Stühle bereitstanden. Rudolf und Gisela setzten sich und konnten wie im Theater zu den Bienenstöcken sehen, die sich zehn Meter entfernt befanden.

Der Imker hatte ein graues Arbeitsgewand übergestreift, bei dem Ärmel und Hosenbeine an den Gelenken eng verschlossen werden konnten. Danach setzte er sich einen Hut auf, von dessen Krempe ein dünner Schleier auf seine Schultern herabfiel.

Auf dem Tisch wartete ein blauer Henkelkrug mit einer aufgemalten weißen Biene.

»Die ist aber groß«, stellte Gisela fest. »Und so schön gemalt.«

»Ein Imker hat immer kaltes Wasser bereit«, erklärte Alexanders Vater. »Es muss sehr kalt sein, denn falls mich eine Biene sticht, kann ich den Stich sofort damit kühlen.«

Augenzwinkernd fügte er hinzu: »An einem so warmen Tag dient es mir aber vor allem, um den Durst bei der Arbeit zu stillen.« Zum Beweis nahm er einen großen Schluck. Danach schüttelte er den Krug und warf einen Blick hinein.

»Kaum noch etwas drin«, stellte er ein wenig verlegen fest. »Die Vorbereitungen haben mich durstig gemacht… Ich werde ihn später nachfüllen.«

Latour konnte sehen, wie stolz Alexander auf seinen Vater war. Ihm gefiel, wie kundig und spannend er den Kaiserkindern von der Imkerei erzählte.

Die kaiserlichen Hoheiten beobachteten aufgeregt, wie der Imker zu den Kisten ging. Doch auf halbem Weg stockte er. Er fuhr sich mit der Hand zum Hals und wandte sich um. Seine Augen waren aufgerissen, als hätte er etwas Schreckliches gesehen. Nach Luft ringend fiel er zu Boden.

»Vater, Vater!« Alexander lief sofort zu ihm. Alfred Oberland lag seitlich im Gras und kehrte den Kindern den Rücken zu. Als er nicht reagierte, rüttelte Alexander seinen Vater an der Schulter. Da er noch immer kein Lebenszeichen von sich gab, drehte er ihn auf den Rücken, hob den Schleier und öffnete den obersten Knopf des Hemdes. »Ein Arzt, holt den Doktor! Schnell! Schnell!«, rief er.

Schützend hatte sich Latour vor die Kinder gestellt. Er zog sie in die Höhe und schob sie Richtung Haus. Als er zurückblickte, benetzte Alexander gerade das Gesicht des Vaters mit dem Rest des Wassers aus dem blauen Krug.

Seine Mutter kam aus der Küche und verstand die Aufregung zunächst nicht. Sie deutete auf die Hoheiten. »Hat sie eine Biene gestochen?«

»Holen Sie einen Arzt. Ihr Mann braucht Hilfe«, raunte Latour ihr zu. Er brachte die Kinder in die Küche und setzte sie an den Tisch, an dem sie zehn Minuten zuvor Kuchen gegessen hatten. Gisela hatte den Arm um den kleinen Bruder gelegt, dessen Augen ständig von Latour zu seiner Schwester und dann wieder durch die offene Tür wanderten. Der Arzt musste in der Nähe seine Praxis haben, vermutete Latour, als ein Mann mit Tasche in der Hand nur wenig später an ihm vorbei nach draußen stürmte. Alexanders Mutter lief hinter ihm. Es dauerte nur kurz, dann kam sie zurück. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

Eilig führte Latour die kaiserlichen Hoheiten aus dem Haus und verfrachtete sie in die Kutsche. Er trug dem Kutscher auf, sich um die zwei zu kümmern. Latour selbst lief in den Garten zurück, wo er den geschockten Alexander und seine weinende Mutter fand. Der Arzt stand gerade auf und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Es muss ein Bienenstich gewesen sein. Wahrscheinlich im Mund, vielleicht auch in der Nase. Er ist erstickt.«

Alexanders Mutter schluchzte auf und umarmte ihren Sohn.

»Es ging schnell«, meinte der Arzt bloß.

Latour trat neben Mutter und Sohn. »Mein aufrichtiges Beileid.« Er war mit der Situation überfordert und wusste nichts anderes zu tun, als sein Mitgefühl auszusprechen.

Der Arzt holte Papiere aus seiner Tasche, setzte sich an den Tisch, auf dem noch der blaue Henkelkrug stand, und begann, den Totenschein auszufüllen. Latour bot seine Hilfe an, aber Alexander lehnte ab. Die kaiserlichen Hoheiten mussten auf dem schnellsten Weg zurück nach Schönbrunn.

Auf dem ganzen Rückweg sprach Latour kein Wort. Ihn plagte die Sorge, dass die Kaiserin seine neuen Lernmethoden, zu denen auch dieser Ausflug gehörte, kritisieren würde. Außerdem konnte er gewiss sein, dass sein Vorgänger, Graf Gondrecourt, von dem Vorfall erfahren würde. Der Graf war unehrenhaft entlassen worden und Latour war daran nicht unbeteiligt gewesen. Er würde jede Gelegenheit nutzen, um sich an Latour zu rächen.

Sisis schöne Leichen

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