Читать книгу Sisis schöne Leichen - Thomas Brezina - Страница 25
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ОглавлениеMarie war für Rudolfs Zimmer zuständig. Gemeinsam mit anderen Bediensteten machte sie sein Bett und brachte Ordnung in die Schränke des Kronprinzen. Sie war stets gut gelaunt und fröhlich.
Doch als die mütterliche Frau an diesem Tag in Latours Arbeitszimmer gestürmt kam und keuchend vor seinem Schreibtisch stehen blieb, war davon nichts zu sehen. Während sie nach Atem rang, zog sie die weiße Schürze hoch, beugte sich vor und wischte sich damit den Schweiß vom runden Gesicht.
»Was ist geschehen, Marie?«, wollte Latour wissen.
Marie hatte rote Flecken im Gesicht und am Hals, was bei ihr immer ein Zeichen höchster Aufregung war.
»Der Kronprinz… er ist nicht zu seinem Unterricht erschienen und wir können ihn nicht finden! Wir haben schon überall nach ihm gesucht. Ist er bei Ihnen?«
Latour sprang so heftig auf, dass der Schreibtischsessel gegen die Wand krachte.
»Wieso kommen Sie erst jetzt?«
»Ich dachte zuerst, es ist nur ein Spiel. Er ist aber weder in seinem Schlafzimmer noch in den Audienzräumen.«
»Vielleicht ist er zu seiner Mutter oder in den Garten gegangen.« Latour lief durch die Landschaftszimmer in das angrenzende Schlafzimmer des Kronprinzen. Marie folgte ihm schnaufend.
»Er war heute so vergnügt und ist auf seinem Steckenpferd herumgeritten«, erzählte sie.
Zwei Dienstmädchen waren mit dem Überziehen des Bettes beschäftigt. Marie deutete auf sie. »Ich habe den Mädchen aufgetragen, das Bett der kaiserlichen Hoheit nicht nur aufzuschütteln, sondern neu zu überziehen. Der Kronprinz schwitzt neuerdings sehr in den Nächten und braucht frische Laken. Als ich mich umgedreht habe, war er fort.«
Latour warf einen Blick unter das Bett, um zu prüfen, ob sich Rudolf dort versteckt hatte. Das tat er manchmal, wenn er übermütig war.
»Sie suchen die Gänge ab, ich gehe in den Garten«, sagte er zu Marie. Er öffnete die Tapetentür in die Weißgoldzimmer, Rudolfs Audienzräume. Das Licht, das durch die Terrassentüren einfiel, wurde von den mit Weißgold vertäfelten Wänden zerstreut und erhellte den Raum an diesem trüben Tag.
Normalerweise erlaubte sich Latour nie, den Kronprinzen beim Vornamen zu nennen. An diesem Tag aber lief er »Rudolf!« rufend durch die Audienzräume und hinaus in den Park.
Im Freien schlug ihm kalter Wind ins Gesicht. Während er weiter nach dem Kronprinzen rief, rannte Latour über den Vorplatz und vorbei an den Beeten, in denen die Gärtner die ersten Sommerblumen auspflanzten.
»Haben Sie den Kronprinzen gesehen?«, fragte er die drei Männer, die im Gras knieten. Sie sahen kurz hoch und schüttelten stumm den Kopf. Latour deutete zu den Gartentüren. »Ist von dort jemand gekommen? Haben Sie eine Tür gehört?«
»Ja. Gerade eben«, lautete die knappe Antwort.
»Das war ich«, rief Latour verärgert. Er wandte sich ab und rannte zur Allee, die in den östlichen Teil des Parks führte. Der Wind rüttelte an den Bäumen. Latour drehte sich im Kreis. Es gab im Park so viele Wege zwischen den Hecken. Wie sollte er Rudolf hier finden? Er hörte nicht auf, nach ihm zu rufen.
Es begann zu nieseln und Latour ging zum Schloss zurück. Was war nur in den Kronprinzen gefahren? Wo konnte er zu finden sein?
Latours Hoffnung war das kaiserliche Appartement. Vielleicht war Rudolf zu seiner Mutter gelaufen. In letzter Zeit hing er sehr an ihr. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Lob waren Rudolf wichtig. Latour verstand sie als Ausgleich zu den strengen und missbilligenden Blicken seines Vaters. Er hatte kein Recht darauf, aber gerne hätte er dem Kaiser einmal erklärt, was dem Kronprinzen nur ein einziges lobendes Wort von ihm bedeuten würde.
In den Räumen des Kronprinzen suchten alle nach dem Jungen. Die Zimmermädchen schüttelten sogar die großen Kissen und Decken, um nachzusehen, ob er sich vielleicht darin verkrochen haben könnte.
Gisela kam ins Schlafzimmer.
Latour trat sofort zu ihr. »Kaiserliche Hoheit, wissen Sie, wo Ihr Bruder sein könnte?«
Gisela senkte den Kopf und dachte nach. Doch sie schüttelte nur den Kopf.
»Kann er sich in Ihren Räumlichkeiten versteckt haben?«
»Nein, das hätte ich bemerkt.« In Giselas Gesicht konnte Latour sehen, dass ihr etwas eingefallen war.
»Meine Aja hat uns gestern die Geschichte vom Zaubermantel vorgelesen, der unsichtbar macht. Rudolf mag sie so gerne. Er will sie immer wieder hören. Er hat einmal zu mir gesagt, er möchte so einen Zaubermantel haben. Dann kann er durch das Schloss laufen und keiner sieht ihn dabei.«
Das war für Latour ein Anhaltspunkt. »Hat er gesagt, wohin er gerne laufen würde?«
»Zu Papa, damit er ihm bei der Arbeit zusehen kann. Papa soll ihn aber nicht sehen, weil er ihn sonst sicherlich ausschimpft.«
Von der nahen Kirche kamen acht Schläge. Latour hätte sich längst bei der Majestät einfinden müssen. Bevor der Kronprinz nicht gefunden worden war, konnte er der Kaiserin aber nicht unter die Augen treten. Er kämpfte mit sich, ob er die Garde des Kaisers benachrichtigen sollte. Das würde ein noch viel größeres Aufsehen erregen. Im Schloss wüsste dann jeder, dass Rudolf aus der Obhut seines Erziehers davongelaufen war.
Marie kam ins Schlafzimmer des Kronprinzen zurück. Sie war völlig außer Atem und schwitzte nur noch stärker. Stumm schüttelte sie den Kopf.
»Bei der Kaiserin ist er nicht«, flüsterte sie Latour zu. »So viel konnte ich in Erfahrung bringen.«
Damit meinte sie wohl den Gardisten, mit dem sie ein Techtelmechtel hatte, dachte Latour, sagte jedoch nichts.
»Aber die Kaiserin soll aufgebracht sein, weil Sie nicht bei ihr erschienen sind.«
Latour nickte und dankte Marie.
Er musste eine Entscheidung treffen. Wie sollte er mit dem Verschwinden des Kronprinzen umgehen? Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, Rudolf zu finden. Gelang es ihm nicht, musste er Alarm schlagen.
Wo blieb eigentlich Alexander Oberland? Um sieben Uhr hätte er sich bei Latour für die tägliche Besprechung einfinden sollen, die der oberste Erzieher jeden Morgen mit den Lehrern abhielt. Er war aber nicht erschienen und keiner hatte ihn gesehen. Der Lehrer, der das Zimmer neben ihm bewohnte, meinte, Alexander wäre noch überhaupt nicht ins Schloss zurückgekehrt.
Der Tag fing für Latour nicht gut an.