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1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt

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Laut Immanuel Wallerstein ist es die Grundeigenschaft des KapitalismusKapitalismus (Welt-System), Kapital anzuhäufen um – ad infinitum – weiteres Kapital anzuhäufen:1 „Using such a definition, only the modern world-system has been a capitalist system.“ (World-Systems 24) Die kapitalistische Natur des Welt-SystemWelt-Systems wiederum hat dessen ExpansionExpansion stetig vorangetrieben. Aus der Perspektive der hiesigen Studie drängt sich mit Blick auf Wallersteins Terminologie die Frage auf, warum Wallerstein das von ihm beschriebene kapitalistische System konsequent an die FdG ‚world‘ bindet. Wallerstein selbst beschreibt, dass es ihm in seiner Verwendung von ‚world-system‘ nicht um die Welt zu tun ist, sondern um eine Welt, und geht damit explizit auf eine wesentliche Differenzierung ein:

Note the hyphen in world-system and its two subcategories, world-economies and world-empires. Putting in the hyphen was intended to underline that we are talking not about systems, economies, empires of the (whole) world, but about systems, economies, empires that are a world (but quite possibly, and indeed usually, not encompassing the entire globe). This is a key initial concept to grasp. It says that in “world-systems” we are dealing with a spatial/temporal zone which cuts across many political and cultural units, one that represents an integrated zone of activity and institutions which obey certain systemic rules. (World-Systems 16f.)

Zunächst ist zu erwähnen, dass es laut Wallerstein mehrere Welt-SystemWelt-Systeme gab, welche dem aktuellen (kapitalistischen) Welt-System vorausgingen; daraus erklärt sich auch der Plural im Namen der Disziplin: world-systems-analysis. Im zitierten Passus verdeutlicht Wallerstein durch eine eingeschobene Klammer, dass ‚Welt‘ mit bestimmtem Artikel diese in ihrer Gänze bezeichnet („the (whole) world“). Doch diese Bedeutung soll die Wortbildung ‚world-system‘ dezidiert nicht aufrufen.2 Denn eine Welt ist in ihrer Ausdehnung, laut Wallerstein, in der Regel nicht global, das heißt eine Welt umspannt „gewöhnlich nicht“ den ganzen Globus. Potenziell jedoch kann eine Welt den ganzen Globus umfassen. Dieser Fall trifft jedoch nur auf das kapitalistische Welt-System zu, welches sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts etabliert, denn nur dieses umspannt, am Ende eines langen historischen Prozesses, den ganzen Globus („globe“). Vorgängige „Welt-Ökonomien“ und „Welt-Imperien“ waren nicht (und das heißt: zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz) globus-umspannend.

Auch in Historical Capitalism (vor allem 97–101) beschreibt Wallerstein, dass der ‚Welt‘ des aktuellen Welt-SystemWelt-Systems andere Welt-Systeme oder Welten („the worlds before historical capitalism“, 100) vorausgingen. „The […] use of the plural is necessary because, strictly speaking, the term ‘world’ does not necessarily, in world-systems theory, apply to the entire world.“ (Robertson, Globalization 14) ‚Welthaftigkeit‘ ist also dezidiert keine dem aktuellen Welt-System vorbehaltene Eigenschaft. Das kapitalistische Welt-System ist jedoch insofern einzigartig, als es im Zuge seiner ExpansionExpansion schließlich doch erdumspannend installiert wird.

In der Zeitspanne von ca. 1600 bis „sometime in the 19th century“ (Wallerstein, Universalism 48) stellt das kapitalistische Welt-SystemWelt-System damit eine Welt dar. Ab einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt im 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System) – womit ein Übergang ohne klares Schwellenereignis postuliert wird3 – wird das kapitalistische Welt-System global. Wallersteins eigene Ausführungen zu „world“ anwendend, lässt sich sagen, dass sich das kapitalistische Welt-System von einer Welt hin zu einem Welt-System, dass die Welt umspannt, ausbreitet – womit sich die Bedeutung von ‚Welt‘ im Welt-System wandelt. Die eine ‚Welt‘ des kapitalistischen ‚Welt-Systems‘ bezeichnet nach ihrer Globalwerdung die Welt, d.h. sie umfasst die ganze Extension der Erde.

Worauf Wallerstein damit hinweist, ist die Tatsache, dass es ein signifikanter Unterschied ist, ob man von ‚GanzheitGanzheit‘ mit oder ohne bestimmtem Artikel spricht. Roland Robertson erwähnt die Unterscheidung zwischen einer Welt einerseits und der Welt andererseits in seinem Werk Globalization (1992) eher beiläufig, als eingeklammerten Einschub: „a world that is increasingly compressed (and indeed often identified as the world)“ (98; Hervorhebung T.E.), was den Status dieser oft übersehenen, bzw. wenn überhaupt dann nur en passant getroffenen, Unterscheidung deutlich illustriert. Worauf Robertson im Kotext des Zitats anspielt, ist die Tatsache, dass die meisten Globalisierungstheorien (in deren Kontext Robertson sich hier bewegt und verortet) von einem Eins-Werden des globalen Zusammenhangs ausgehen; die komprimierte ‚Welt‘ kennt kein Außen mehr, weshalb sie als die Welt bezeichnet werden kann. Da es (so die Annahme, die dem logisch zugrunde liegt) keine anderen Neben- oder Teil-Welten mehr gibt, ist die Unterscheidung zwischen einer Welt und der Welt anscheinend hinfällig. Bemerkenswert ist jedoch, dass Robertson keinen Bedarf sieht, sich hier zu erklären, gerade angesichts seines im Allgemeinen äußerst explikativen Stils.

Von der GanzheitGanzheit im engeren Sinn – von „all absolutely“ (Lewis 215, s.o.) also, der allumfassenden Extension, die man heute zumeist als ‚UniversumUniversum (Figur der Ganzheit)‘ bezeichnet –4 ist ganz allgemein eher im Ausnahmefall die Rede. Denn die Ganzheit in diesem Sinn ist der Gegenstand exklusiver philosophischer, physikalischer und kosmologischer Überlegungen (vgl. bspw. Koyré 5–10). Außerhalb dieser Domänen jedoch ist mit der Rede von der Ganzheit die – im jeweiligen Kontext – bestimmende Größe (zumeist: ohne Außen) gemeint. C. S. Lewis schreibt zu diesem Sachverhalt: „[I]f all absolutely, then it [world; T.E.] means universe; if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Ob diese konkrete Beschreibung nun in jedem Fall zutrifft oder nicht – sie beruht jedenfalls auf der bereits beschriebenen Unterscheidung zwischen der umfassendsten „Skalierung“ (Stockhammer, „Welt“ 50) von ‚Welt‘ einerseits und der Ganzheit des Teils andererseits.5

Wallerstein vollzieht die oben untersuchte Unterscheidung zwischen Welt mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel, um deutlich zu machen, dass das Welt-SystemWelt-System des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) nicht natürlich entstanden ist, und seine Werte nicht von universaler Gültigkeit sind. Stattdessen stellt es nur eine Welt/ein Welt-System dar, welches sich in einem historischen Prozess über die ganze Erde ausgebreitet hat. Es ist somit als Ergebnis eines spezifischen Vorgangs global geworden.

The pan-European world, dominating the world-system economically and politically, defined itself as the heart, the culmination, of a civilizational process which it traced back to Europe’s presumed roots in Antiquity. Given the state of its civilization and its technology in the nineteenth century, the pan-European world claimed the duty to impose itself, culturally as well as politically, on everyone else–Kipling’s “White man’s burden,” the “manifest destiny” of the United States, France’s mission civilisatrice. (Wallerstein, World-Systems 66)

Insofern dem einen Welt-SystemWelt-System des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) andere Welt-Systeme vorausgingen, ist die kapitalistische Ordnung nicht als die ‚beste aller möglichen Welten‘ anzusehen. D.h., das aktuelle Welt-System ist kein Fortschritt gegenüber vorgängigen Welt-Systemen (vgl. Wallerstein, Capitalism 97–110). Es erweckt lediglich diesen Anschein, indem es die Idee des Fortschritts zu einem seiner Leitmotive erklärt (vgl. Wallerstein, Universalism 33 und Mbembe 25). Doch dies gilt nicht nur für das aktuelle Welt-System, denn Wallerstein hält fest: „There never was a golden era.“ (Capitalism 136) Welten lösen einander ab, und die Frage ihrer Bewertung ist hochkomplex. Zwar tritt Wallerstein den Versuch an, die Frage zu beantworten, ob es der Mehrzahl der Menschen im Feudalismus nicht vielleicht ‚besser ging‘, als im anschließenden Kapitalismus (vgl. ebd.), doch er ist – trotz seiner generell äußerst skeptischen Haltung gegenüber dem von ihm beschriebenen kapitalistischen Welt-System – in seinen Schlussfolgerungen hier vorsichtig. Er beschränkt sich auf die Aussage, dass es immerhin nicht ausgeschlossen sei, dass der Kapitalismus für die Mehrheit der Menschen keine deutliche Verbesserung mit sich brachte: „It is, let me say, at the very least by no means self-evident that there is more liberty, equality, and fraternity in the world today than there was one thousand years ago“ (Capitalism 100).

Doch stellt sich, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten, immer noch die Frage nach dem Grund für die Wahl der FdG ‚world‘ durch Wallerstein. Wieso spricht er vom Welt-SystemWelt-System, wenn das doch die Möglichkeit birgt, die eine Welt des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) als die Welt misszuverstehen, und so eine ‚Naturalisierung‘ des Kapitalismus zu befördern? Bzw. ließe sich genauer fragen, wieso Wallerstein nicht von Systemen spricht – und die FdG ‚Welt‘ nicht einfach ganz fallen lässt?

Einige plausible Antworten sind möglich: Erstens lässt sich festhalten, dass Wallerstein vom KapitalismusKapitalismus (Welt-System) als selbstbezügliches System spricht (Kapital wird angehäuft, um weiteres Kapital anzuhäufen). Selbstbezüglichkeit ist eine in mehreren Texten genannte Bedeutungsnuance von ‚Welt‘.6 Mit dem Hinzufügen von ‚Welt‘ betont Wallerstein also diesen speziellen Charakterzug des kapitalistischen Systems.

Zweitens ist die Tatsache der geografischen Ausbreitung des Welt-SystemWelt-Systems, die Wallerstein wiederholt betont, von großer Wichtigkeit:

There is indeed a modern world-system, and it is truly different from all previous ones. It is a capitalist world-economy, which came into existence in the long sixteenth century in Europe and the Americas. And once it was able to consolidate itself, it followed its inner logic and structural needs to expand geographically. It developed the military and technological competence to do this, and was therefore able to incorporate one part of the world after another, until it came to include the entire globe sometime in the nineteenth century. (Universalism 47f.)

Die geografische Ausbreitung des world-system wird von Wallerstein an mehreren Stellen erwähnt, und seine Terminologie bleibt dabei stets konsistent: Das world-system breitet sich über den „globe“ aus. Die FdG ‚world‘ unterhält also in Wallersteins Verwendung eine integrale Beziehung zur FdG ‚globe‘. Entsprechend der Logik einer immer umfassenderen ExpansionExpansion wird das System ab einem bestimmten Zeitpunkt global. Wallerstein aktualisiert so die Bedeutung von ‚Welt‘ als ‚flexible Ausdehnung‘. Der Begriff ‚Welt‘ erlaubt Wallerstein ein sich ausbreitendes System zu beschreiben, das relativ klein beginnt, und schließlich global wird. Die FdG ‚Welt‘ ist ideal geeignet, dieses Anwachsen zu beschreiben, und kann, ohne die geringste Irritation, sowohl den Beginn als auch das ‚globale Endstadium‘ der Ausbreitung des Systems bezeichnen. Hayot fasst alle bisher genannten Aspekte wie folgt zusammen:

World-systems are worlds, in the sense that they constitute a self-organizing, self-enclosed, and self-referential totality; but they are not to be confused with the actual world, which–though it is also, of course, a world–is the only world whose geographic scope coincides exactly with that of the Earth. (32)

Der Gefahr einer Naturalisierung eines historischen Systems durch die Wahl der FdG ‚world‘ tritt Wallerstein explizit entgegen; sie ist im Wort ‚Welt‘ ursächlich bereits angelegt, was seinen expliziten Kommentar nötig werden lässt. Anders gesagt lässt sich die Rede von ‚Welt‘ selbst in den skeptischen und vorsichtigen Ausführungen Wallersteins nicht ganz von ihrem totalisierenden Charakter befreien, der daher ausdrücklich abgewiesen werden muss.

Es handelt sich demnach bei Wallersteins Art der Beschreibung der Geschichte seit dem 16. Jahrhundert um die Darstellung einer schrittweisen Expansion, geprägt von der spezifischen Perspektive der Kapitalismusanalyse (vgl. hierzu Robertson, Globalization 15). Diese Analyse ist in ihrer Verwendung von FdG bemerkenswert präzise, insofern sie ihre Verwendung von world explizit und nuanciert diskutiert. Besagte Nuancierung wirkt einer Gleichsetzung von einer Welt mit der Welt entgegen, die einer Naturalisierung des aktuellen Welt-SystemWelt-Systems gleichkäme, und betont damit, dass ‚unsere Welt‘ ihrer Extension nach nicht immer global war – und deswegen nicht als alternativloses System angesehen werden muss.

Jede Rede von ‚Welt‘ muss also, wenn sie den Überlegungen von Wallerstein gerecht werden will, stets zwischen bestimmtem und unbestimmtem Artikel unterscheiden, bzw. lässt sich der Imperativ ableiten, die Analyse von FdG nie losgelöst vom jeweiligen historischen Kontext vorzunehmen.

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