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2.3.2 Lokalisierung der ‚Nationen‘

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Die vier Teile der Travels verbindet, dass alle in ihrem Verlauf besuchten Orte kartografisch auf der Erde verortet werden. Bekanntlich steht am Anfang jedes der vier Teile des Textes eine Karte, die das Geschehen geografisch lokalisiert.1 Der unbekannte Zeichner der Karten in den Travels hatte bei seiner Arbeit wohl mit einigen Problemen zu kämpfen, da die Präzision der kartografischen Verortungen im Text starken Schwankungen unterliegt bzw. in manchen Fällen sogar schlicht mit dem kartografischen Wissen der Zeit nicht in Einklang zu bringen ist.2 Zu einem Zeitpunkt, an dem die konkreten Konturen aller KontinentKontinente und Inseln der Erde noch lange nicht in allen Details erfasst sind und die Weltkarte noch weiße Flecken enthält (vgl. Stockhammer, Kartierung 92), lokalisieren die Travels die Darstellung von Gesellschaften (d.h.: die Inseln, Halbinseln und Kontinente, auf denen Gulliver fremde nations entdeckt) in eben diesen (noch) nicht kartografierten Regionen. Der unabgeschlossene Prozess der Kartierung der Erde stellt also die ‚Bedingung der Möglichkeit‘ dieses spezifischen Textverfahrens dar, insofern der konkrete Stand der kartografischen und damit immer auch kolonialen Erschließung der Erde die Verortung und den Umfang der möglichen Projektionsflächen definiert: die weißen Flecken auf der Weltkarte. Durch diese Lokalisierung wird insofern auf die GanzheitGanzheit reflektiert, als sie den expansiven Prozess der Erschließung der Erde – zu einem spezifischen Zeitpunkt in seinem Verlauf – getreu abbildet. Zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt wäre die Lokalisierung der ‚Nationen‘ nicht auf die exakt gleiche Art möglich.

Benedict Anderson spricht in Imagined Communities davon, dass die inszenierten Orte der Travels realen ‚Entdeckungen‘ nachempfunden seien:

Francis Bacon’s New Atlantis (1626) was perhaps new above all because it was situated in the Pacific Ocean. Swift’s magnificent Island of the Houyhnhnms (1726) came with a bogus map of its South Atlantic location. (The meaning of these settings may be clearer if one considers how unimaginable it would be to place Plato’s Republic on any map, sham or real.) All these tongue-in-cheek utopias, ‘modelled’ on real discoveries, are depicted, not as lost Edens, but as contemporary societies. One could argue that they had to be, since they were composed as criticisms of contemporary societies, and the discoveries had ended the necessity for seeking models in the vanished antiquity. In the wake of the utopias came the luminaries of the Enlightenment, Vico, Montesquieu, Voltaire, and Rousseau, who increasingly exploited a ‘real’ non-Europe for a barrage of subversive writings directed against current European social and political institutions. In effect, it became possible to think of Europe as only one among many civilizations, and not necessarily the Chosen or the best. (Anderson 69f.)

Anderson beschreibt, dass das Spezifische der im 17. und frühen 18. Jahrhundert18. Jahrhundert (Welt-System) geschriebenen „Utopien“ in deren real-kartografischer Lokalisierung und eindeutigem Bezug zu zeitgenössischen „real discoveries“ besteht. Damit werden die neu entdeckten Regionen der Erde gleich doppelt ausgebeutet: Nicht nur werden sie zu Kolonien Europas, sie dienen zusätzlich dem Vorstellen von alternativen (auf Europa kritisch bezogenen) Gesellschaftsentwürfen. Mit der Klassifizierung der Travels als „tongue-in-cheek“ Utopie gibt Anderson freilich eine diskutable Beschreibung der Travels, die jedoch insofern völlig einwandfrei ist, als sie den intertextuellen und parodistischen Charakter der Travels betont, der ihr wesentlichstes Merkmal ist.

Der affirmative Charakter des Verwendens von kartografischen Diskurselementen darf dabei jedoch auch nicht überschätzt werden. Der Text generiert kartografische Präzision zumeist nur gerade so weit, wie nötig ist, um sie in einem zweiten Schritt überraschend enttäuschen zu können. Der Status der KartografieKartografie im Text ist damit von ambivalentem Charakter, insofern über sie einmal ein spezifischer Stand in der Erschließung der Erde abgebildet wird und andererseits die (schwankende) Präzision dieser Abbildung satirische Züge trägt.

Zusätzlich jedoch können die in den ‚Nationen‘ angetroffenen Bewohner (die verkleinerten Lilliputians und die vergrößerten Brobdingnagians der ersten zwei Teile, die ‚entstellten‘ Bewohner Laputas, sowie die Yahoos und die Hounynhms der letzten beiden) in einem erheblich viel kleineren Raum lokalisiert werden, als in den noch nicht kartografierten Regionen der Erde. Denn Dennis Todd macht deutlich, dass sämtliche ‚Anblicke‘, denen Gulliver auf seinen Reisen begegnet, im Rahmen von „tourist sights, public entertainments, shows, spectacles and exhibitions in the streets and at the fairs of London“ (Tod 396) beobachtet werden konnten. Diese Londoner Shows zeigten, als Teil einer populären Straßenkultur, Miniaturen (von Stadtansichten, Schlachten etc.), Zwerge, Riesen, Menschen mit vermeintlich ‚tierischen‘ Merkmalen und – nicht zuletzt – überraschend ‚intelligente‘ Pferde, die Kunststücke vorführen.3 Dies lässt sich in weiten Teilen als Kommodifizierung des Anderen beschreiben. London4 liefert seinem Straßenpublikum also Anblicke, die dem Leser der Travels allzu vertraut vorkommen müssen. So werden beispielsweise auch ‚Kannibalen‘ aus weit-entfernten Teilen der Erde, die nach London verschleppt wurden, ‚ausgestellt‘.5 Die Praktiken des Ausstellens sind somit eng mit kolonialen und damit transkontinentalen Kontexten verbunden. So gesehen charakterisieren die Travels durch die Verortung der sprechenden Pferde, Riesen etc. in weitentfernten Regionen der Erde London verstärkt als Zentrum eines expandierenden Imperiums, dessen ‚Straßenkultur‘ als Ergebnis kolonialer Praktiken erkennbar wird.

Die Lesart Andersons lässt sich also mit der Todds verbinden. Denn die Travels projizieren Londoner Ereignisse auf die weißen Flecken der Weltkarte, und stellen so die Verbindung zwischen den „real discoveries“ (s.o.) und dem Londoner Stadtleben aus; es handelt sich um ein Ganzes. Die Prozesse des expandieren Welt-SystemWelt-Systems erscheinen im Spannungsverhältnis zwischen einer lokalen Kultur (des imperialen Londons) und der kartografischen und kolonialen Erschließung der Erde.6

Vor diesem Hintergrund muss auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass Gulliver im Erzählen vom heimatlichen England dieses mitnichten als geschlossenes Territorium eines Staates darstellt, so wie hier, bei der Beschreibung die Gulliver dem König Brobdingnags gibt:

I BEGAN my Discourse by informing his Majesty that our Dominions consisted of two Islands, which composed three mighty Kingdoms under one Sovereign, besides our Plantations in America. I dwelt long upon the Fertility of our Soil, and the Temperature of our Climate. (106/II.6)

Die „Plantations in America“ werden explizit erwähnt. Aus der Perspektive einer in ihren ‚unentdeckten‘ Teilen besuchten Erde heraus wird ‚England‘ in den kolonialen Zusammenhang gestellt. Dies geschieht wiederholt und in allen vier Teilen der Travels.

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