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1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“

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Ich sage dir nun, was du nie mehr vergessen wirst, weil du es im Innersten schon immer wußtest, ebenso wie ich es wußte, ehe es mir offenbar wurde. Wir haben uns nur dagegen gesträubt: Die Welt, sage ich, ist eine Muschel, die sich erbarmungslos schließt. Du sträubst dich? Du wehrst dich gegen die Einsicht? Es ist kein Wunder. Der Schritt war zu groß. Du kannst ihn nicht auf einmal tun. Der alte Nebel liegt zu dicht, als daß ein großes Licht genügte, ihn zu vertreiben. Wir müssen hundert kleine entzünden. (Süskind 45f.)

Der Ich-Erzähler namens Mussard in Patrick Süskinds Das Vermächtnis des Maître Mussard (1995) eröffnet im zitierten Passus dem unmittelbar angesprochenen Leser, dass „die Welt“ eine Muschel sei (eine einzige Muschel wohlgemerkt, doch dazu im weiteren Verlauf mehr). Damit schöpft er eine überraschende Gleichsetzung. Gleichzeitig postuliert er einen Widerstand gegen diese Behauptung seitens des im Text mit hoher Frequenz direkt angesprochenen Lesers. Der Leser wird so textintern inszeniert als ein von der Identität von Welt und Muschel zu überzeugendes Gegenüber, das Vielheit sieht, wo der Erzähler eine Identität von Welt und Muschel postuliert. Die FdG ‚Welt‘ wird so aus dem automatisierten Verständnis gerissen, und durch die In-Eins-Setzung mit einem denkbar unwahrscheinlichen, weil kleinen, Tier in eine Relation gesetzt, die jedwede intuitive Bedeutung von ‚Welt‘ unterläuft. Das Eins-Sein von ‚Welt‘ und Muschel muss entsprechend erst noch hergeleitet werden – und dieses Unternehmen steht im restlichen Verlauf des Maître Mussard im Mittelpunkt. Implizit formuliert der Text damit eine viel grundlegendere Frage: Was ist ‚die Welt‘?

Ausgehend von einem Fund beim Graben im heimischen Garten, bei dem nur knapp unter einer dünnen Schicht Erde Gestein voller versteinerter Muscheln zutage tritt, entwickelt der Protagonist die globale These, dass die gesamte Erde nur von einer dünnen Schicht Erdbodens überzogen ist, unter der sich überall Muschelgestein findet. Von diesem Ist-Zustand ausgehend, der durch (mehr und weniger überzeugende) Beweise, die der Protagonist im Lauf des Textes anhäuft, untermauert wird, entwickelt der Erzähler weiter die These, dass die gesamte ‚Welt‘ in einem Prozess der „Vermuschelung“ (54) begriffen ist. Dieser wird, so seine Prognose, im Erstarren der Erde zu einer Wüste aus Muschelgestein enden.

Doch nicht nur findet sich überall Muschelgestein, es erweist sich außerdem, dass dieses Gestein in sich völlig homogen ist. „Und wenn ich keine Muscheln fand, so fand ich Sand oder Stein, der mit ihnen substantiell identisch war.“ (51) Weiter heißt es, dass sich die „diversen Muscheln meiner Sammlung“ in nichts unterschieden „bis auf die Größe […], und abgesehen von der Form, unterschieden sie sich auch nicht von dem Gestein, mit welchem sie verwachsen waren.“ (51) Alles erscheint als Muschel, auch über deutliche Unterscheidungsmerkmale wie Größe und Form hinweg. Das Gestein, welches die versteinerten Muscheln umgibt, ist „substantiell“ mit ihnen identisch, und diese Identität überschreibt alle weiteren Unterschiede, seien sie auch noch so evident.

Mussard weitet seine Grabungen, die anfangs auf den eigenen Garten beschränkt bleiben, zunehmend aus: „Zunächst grub ich in Passy, dann in Boulogne und Versailles, schließlich hatte ich ganz Paris von St. Cloud bis Vincennes, von Gentilly bis Montmorency systematisch umgraben, ohne auch nur ein einziges Mal vergeblich nach Muscheln zu suchen.“ (50f.) Auch wenn er über Frankreich in seinen Grabungsversuchen nie hinauskommt, erscheint ihm bald eine durchgängige Berührung von Muschel und ‚Welt‘ evident: Die Muschel wächst sich im Lauf der Erzählung zu einer allumfassenden, räumlich motivierten Metonymie aus, welche die GanzheitGanzheit an allen Stellen unterirdisch berührt. Darüber hinaus fällt die zu Textbeginn bemühte ‚Welt‘ im Textverlauf zusehends mit dem „ganzen Kosmos“ (60) und dem „UniversumUniversum (Figur der Ganzheit)“ (68) zusammen. Beschränkt sich Mussard zunächst auf besagten Garten, frankreichweite Grabungen und Annahmen über die Gebirge dieser Erde (vgl. 59), so wird schließlich selbst die Erde im Zuge der eskalierenden Spekulationen verlassen. Der Sprung zum erdnahen Trabanten erfolgt konsequent, denn der Mond erscheint als „ein geradezu klassisches Beispiel für die Vermuschelung des Kosmos“ (60), und so liegt „die Vermutung nahe, daß die Vermuschelung ein allgemeines Prinzip darstellt, welchem nicht nur die äußere Erdgestalt, sondern auch alles irdische Leben, jedes Ding und Wesen auf Erden, ja im ganzen Kosmos unterworfen ist.“ (ebd.) Die Vermuschelung ist nicht weniger als „die weltbewegende Kraft“ (64), und gewinnt so über die anfängliche Feststellung eines Ist-Zustands der Erde hinaus eine dynamische, prozessuale Energie:

Die Entdeckung, daß die Erde im wesentlichen aus Muscheln besteht, könnten wir als belanglose Kuriosität achten, wenn es sich hierbei um einen Zustand handelte, der unveränderlich und abgeschlossen wäre. Leider ist dies nicht der Fall. Meine umfangreichen Studien, deren Gang im einzelnen hier dazulegen mir keine Zeit bleibt, haben ergeben, daß die Vermuschelung der Erde ein rapide fortschreitender, nicht aufzuhaltender Prozess ist. Schon in unseren Tagen ist der erdige Mantel der Welt allenthalben fadenscheinig und brüchig geworden. An vielen Stellen ist er bereits von muscheliger Substanz zernagt und zerfressen. […]. Im ganzen genommen übertrifft die bereits der Vermuschelung anheimgefallene Erdoberfläche die Fläche Europas um ein beträchtliches. (54f.)

Für den Moment betrachtet, handelt es sich bei der „Entdeckung, daß die Erde im Wesentlichen aus Muscheln besteht“ um eine Unterminierung, eine (größtenteils) unterirdische Berührung und Kontiguität von Muschel und Welt. Erst in der Behauptung, dass es sich um einen Prozess handelt – für deren Herleitung „im einzelnen hier darzulegen […] keine Zeit bleibt“ – ergibt sich, dass die Vermuschelung schlicht die ganze Erde zur Muschel machen wird. Und auch der Mensch hat in diesem Zusammenhang seinen Auftritt.

Noch entsetzlicher als die Vermuschelung des Kosmos ist der stetige Verfall unseres eigenen Körpers zur Muschelsubstanz. Dieser Verfall ist so heftig, daß er bei jedem Menschen unweigerlich zum Tode führt. Während der Mensch bei der Zeugung, wenn ich so sagen darf, nur aus einem Klümpchen Schleim besteht, welches zwar klein, aber noch völlig frei von Muschelsubstanz ist, so bildet er bereits beim Heranwachsen im Mutterleibe Ablagerungen davon aus. Kurz nach der Geburt sind diese Ablagerungen noch hinreichend weich und schmiegsam, wie wir das an den Köpfen von Neugeborenen feststellen können. Aber schon nach kurzer Zeit ist die Verknöcherung des kleinen Körpers, die Umschalung und Beengung des Gehirns durch eine harte steinige Kapsel so weit gediehen, daß das Kind eine ziemlich starre Gestalt annimmt. Die Eltern jauchzen und sehen nun erst einen richtigen Menschen in ihm. Sie begreifen nicht, daß ihr Kind, kaum daß es zu laufen beginnt, schon von Muscheln befallen ist und nur noch seinem sicheren Ende entgegentaumelt. (61)

So wird auch der menschliche Körper und dessen Altern (das eher als lebenslanges Zur-Muschel-Werden begriffen wird) in den weltweiten Prozess – im zitieren Passus ist gar von der FdG ‚Kosmos‘ die Rede – eingebunden. Körper und GanzheitGanzheit werden im Laufe des menschlichen Lebens zunehmend ‚identischer‘, bis der Unterschied Körper/Ganzheit völlig hinfällig geworden ist:

Im Alter nämlich wird die Versteinerung des Menschen am deutlichsten sichtbar: Seine Haut wird spröde, die Haare brechen, die Adern, das Herz, das Gehirn verkalken, der Rücken krümmt sich, die ganze Gestalt biegt sich und wölbt sich, der inneren Struktur der Muschel folgend, und schließlich fällt er in die Grube als ein jämmerlicher Trümmerhaufen von Muschelstein. Und selbst damit ist es noch nicht zu Ende. Denn der Regen fällt, die Tropfen dringen ein ins Erdreich, und das Wasser zernagt und zerkleinert ihn in winzige Teile, die es hinabträgt zur Muschelschicht, wo er dann in Form der bekannten Steinmuscheln seine letzte Ruhe findet. (61f.)

Hier findet ein Übergang statt, von einer Relation der Ähnlichkeit zwischen menschlichem Körper und Muschel, die über die Krümmung des menschlichen Körpers im Alter („der Gestalt der Muschel folgend“) zum Bild gebracht wird, hin zu einer Beziehung, die sich, über den Prozess der mineralischen Auswaschung, als Identität von Mensch und Muschelsubstanz darstellt. Im weiteren Verlauf jedoch erscheint die Vermuschelung damit als fortschreitende Einsmachung. Ihren Höhepunkt finden die Überlegungen zum Verhältnis zwischen Muschel und Welt in einer apokalyptischen Vision des Protagonisten, in der nicht mehr im Plural von Muscheln oder von Muschelsubstanz gesprochen wird:

Ich wurde aus meinem Garten weggetragen in das Dunkle. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, ich war nur umgeben von der Dunkelheit und von merkwürdigen gurgelnden und rauschenden Geräuschen. Diese beiden Geräuschgruppen – das wäßrige Rauschen und das steinige Knirschen – schienen mir in dem Augenblick als Schöpfungsgeräusche der Welt, wenn ich so sagen darf. Ich hatte Angst. Als die Angst am stärksten war, fiel ich abwärts, die Geräusche entfernten sich, dann fiel ich aus der Dunkelheit heraus. Mit einem Mal war ich von so viel Licht umgeben, daß ich glaubte, blind zu werden. Ich fiel weiter im Licht und entfernte mich von dem dunklen Ort, den ich jetzt als ungeheure schwarze Masse über mir erkannte. Je weiter ich fiel, desto mehr erkannte ich von der Masse und desto größer wurden ihre Ausmaße. Schließlich wußte ich, daß die schwarze Masse über mir eine Muschel war. Da spaltete sich die Masse in zwei Teile, öffnete ihre schwarzen Flügel wie ein gigantischer Vogel, riß die beiden Muschelschalen auf über das ganze Weltall und senkte sich herab über mich, über die Welt, über alles was ist und über das Licht und schloß sich darüber. Und es wurde endgültig Nacht, und das einzige, was es noch gab, war das Geräusch des Mahlens und Rauschens. Der Gärtner fand mich auf dem Kiesweg liegen. (66f.)

Mussard meint, aus einem Innenraum herauszufallen, und so, durch diese Bewegung, eine GanzheitGanzheit, die sich als die „Urmuschel“ erweist, von außen, einem archimedischen Blickpunkt, sehen zu können.1 Der Erzähler sieht nun nicht länger Gestein, das substantiell identisch ist mit all den Muscheln, oder Körper, die zu Stein werden, sondern er „wußte […], daß die schwarze Masse […] eine Muschel war“ (Hervorhebung T.E.). Grammatikalisch kommt es zu einer Singularisierung von ‚Muschel‘. In einem zweiten Schritt verschlingt die Muschel das „Weltall“ – im Übrigen die einzige Verwendung der FdG ‚Weltall‘ in diesem Text, durch die betont wird, dass diesmal wirklich die ‚totale Ganzheit‘ betroffen ist, und nicht etwa ‚nur‘ die Erde, der Mond, oder das Sonnensystem. Das Weltall wird in einer Schreckensvision von einer Muschel verschlungen.

Die Kraft, die alles Leben in ihren Bann schlägt und alles Ende herbeiführt, der höchste Wille, der das UniversumUniversum (Figur der Ganzheit) beherrscht und es zur Vermuschelung als Zeichen der eigenen Omnipräsenz und Omnipotenz zwingt, geht aus von der großen Urmuschel, aus deren Innern ich für kurze Zeit entlassen war, um ihre Größe und furchtbare Herrlichkeit zu schauen. Was ich gesehen habe, war die Vision des Weltendes. Wenn die Vermuschelung der Welt so weit gediehen ist, daß jedermann die Macht der Muschel erkennen muß, wenn die Menschen, der Hilflosigkeit und dem Entsetzen preisgegeben, zu ihren verschiedenen Göttern schreien und sie um Hilfe und Erlösung anflehen, dann wird als einzige Antwort die große Muschel ihre Flügel öffnen und sie über der Welt schließen und sie zermahlen. (68f.)

Es ist hier nur noch eine Muschel, welche die „Welt“ verschlingt, womit diese nicht länger aus unzähligen Muscheln oder „substantiell“ (s.o.) aus Muschelgestein besteht. Stattdessen wird die „Welt“ ausgelöscht, und was bleibt ist die EinsheitEinsheit (Unicity) der einen Muschel. Die unterschiedlichen FdG, die im zitierten Passus – und im übrigen Text – ihren Auftritt haben, werden von der einen Muschel verdrängt, die an ihre Stelle tritt. Hier lässt sich also eine weitere Nuance in die bereits besprochene Unterscheidung zwischen EinheitEinheit und Einsheit eintragen (vgl. II.1.4). Einheit setzt strukturell stets Vielheit voraus, welche als Einheit wahrgenommen/dargestellt wird; Einheit verdrängt Vielheit nicht notwendig. Süskinds Text hingegen inszeniert die Beseitigung von Vielheit zugunsten eines einzelnen Gegenstandes, der Muschel, der an die Stelle der Vielheit tritt, und dessen Eins-Sein stiftet.

Der Prozess der Vermuschelung stellt, so die Deutung, die hier an den Text herangetragen werden soll, die Kompression der GanzheitGanzheit als radikale Vereinsheitlichung dar. Die von Mussard gegebene Beschreibung der hauchdünn von Erdboden überzogenen Ganzheit der Erde, die im Kern schon Muschel ist, wird so als wahnhafte Momentaufnahme des Fortschreitens der Kompression lesbar, einer paranoiden oneworldedness (vgl. II.2.2), die die Ganzheit auf eine Muschel reduziert. Unter dieser Perspektive entwickelt der Text einen als materiell inszenierten globalen Zusammenhang, der in scharfem Kontrast steht zu den üblicherweise dezidiert nicht-stofflichen Metaphern und Bildern, die zur Illustration von Fernwirkungszusammenhängen herangezogen werden. So spricht man in der Globalisierungstheorie eher davon, dass alle Ereignisse auf der Erde globale Echos2 nach sich ziehen; Peter Sloterdijk spricht (allerdings für das 20. Jahrhundert) noch abstrakter von „Transaktionen“ die noch aus weiter „Ferne“ die „Gegenspieler in Mitleidenschaft“ (Sphären II 824) ziehen. Im Kontrast zu diesen Beschreibungen also erweist sich die Kompression in Süskinds Text als ein Prozess, der EinsheitEinsheit (Unicity) (in der extremsten Form) als substantiell verstandene Identität aller Stoffe inszeniert.

Mit einiger Verzweiflung wirft der Erzähler schließlich die Frage auf: Was bleibt? – und stößt den Leser damit auf die an die Körperthematik stets untrennbar gebundene Frage nach der SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper):

Wie sollte ich dich trösten? Soll ich von der Unzerstörbarkeit deiner SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper), von der Gnade des barmherzigen Gottes, von der Auferstehung des Leibes faseln wie die Philosophen und Propheten? […] Wozu lügen? (69)

Die Frage nach der SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper) wird auch am Ende des Textes, welches als „Nachschrift Claude Manets, des Dieners des Herrn Mussard“ (70) Gestalt annimmt, aufgegriffen. Nach der Beschreibung des Umstandes, dass man dem Herrn Mussard einen „rechtwinklingen Sarg zimmern“ lassen musste, da „mein Herr auch nach Ablauf der üblichen Todesstarre seine versteifte Haltung nicht aufgeben wollte“, schreibt Manet: „Gott sei seiner Seele gnädig!“ (70) und ‚faselt‘ damit von eben jener Seele, von der Mussard – angesichts der Vermuschelung der Welt – keine Lügen erzählen wollte. Die Seele – mit wenigen Ausnahmen in den meisten Vorstellungen vom Körper als nicht-stofflich verstanden –3 wird also von Süskinds Text verabschiedet, da sie nicht in die materiell gedachte ‚Vermuschelung‘ passt. So fällt der Einebnung von Unterschieden – wie die Behauptung der ‚substantiellen‘ Identität sämtlicher Stoffe sie mit sich bringt – zuletzt auch die Seele zum Opfer, die als Nicht-Substantielles in der substantiellen EinsheitEinsheit (Unicity) der ‚Muschel-Welt‘ keinen Platz hat.

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