Читать книгу Welt als Körper - Thomas Erthel - Страница 20

2.2 Hinführung: Ganzheit in den vier Teilen der Travels

Оглавление

In allen vier Büchern der Travels1 lässt sich ein konstanter Bezug auf GanzheitGanzheit nachweisen. Wie bereits beschrieben wurde, lässt sich dabei eine Struktur im Text isolieren, in der wiederholt scheinbar kleinteilig-lokales, über die Verschränkung der Inszenierung von Körpern mit der Arbeit an FdG, in ein Verhältnis mit größeren Ganzheiten gesetzt wird. So arbeitet der Text aktiv an verschiedenen Vorstellungen von Ganzheit.

Die im Text inszenierte/n GanzheitGanzheit/en erscheint/erscheinen dabei im Spannungsfeld zwischen EinsheitEinsheit (Unicity) einerseits und AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems) andererseits. Der Aspekt der Asymmetrie umfasst dabei vor allem koloniale Zusammenhänge im Allgemeinen und den atlantischen SklavenhandelSklavenhandel im Besonderen.2 Der Aspekt der Einsheit tritt im Text weniger prominent hervor und ist in der Regel an die Darstellung kolonialer Zusammenhänge gekoppelt.

Neben der beschriebenen Struktur ist die Parodie von ReiseliteraturReiseliteratur das Hauptmittel des Textes zur Arbeit an GanzheitGanzheit.3 Diese Genre-Parodie äußert sich vor allem in der Thematisierung von KartografieKartografie (und das umfasst ihr Wissen, ihre Medien und Techniken)4 sowie der Beschreibung von Menschen und/oder Wesen (‚Anderen‘), die auf den Reisen angetroffen werden. Beide Themenkomplexe sind ein fester Bestandteil der Reiseliteratur dieser Zeit und werden von den Travels intertextuell aufgegriffen. Innerhalb dieser Parodie, welche sich als durchgängige Makrostruktur des Textes beschreiben lässt, kann wiederum der Topos der Verschränkung inszenierter Körper mit der Arbeit an FdG isoliert werden; der hier vorgestellte Topos ist der Parodie von Reiseliteratur also strukturell untergeordnet. So soll das Wissen, das aus Untersuchungen zum Verhältnis zwischen dem Genre der Reiseliteratur und den Travels bereits vorliegt, um einen entscheidenden Aspekt erweitert werden, insofern deutlich gemacht werden soll, dass sich die Travels nicht nur um die Darstellung ferner Regionen der Erde und deren Bewohner drehen, sondern auch um die Frage, wie die Ganzheit, in der all diese Elemente enthalten sind, zu denken ist.

Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis der Travels zeigt einen vierteiligen Text, wobei die ersten beiden Teile jeweils acht Kapitel umfassen. Auch die Textmenge der ersten beiden Teile ist ähnlich. Die Teile III und IV dagegen umfassen einmal elf und einmal zwölf Kapitel. Auf die ersten beiden kürzeren Teile der Travels folgen also zwei längere Teile. Äußerlich betrachtet handelt es sich um einen streng strukturierten Text.

Fragt man hingegen nach der inhaltlichen Kontinuität zwischen den Textteilen, so ist der Befund weniger eindeutig. Hier wurde gehäuft darauf hingewiesen, dass die Teile I und II eine starke inhaltliche Kohärenz aufweisen, insofern die dort dargestellte Vergrößerung und Verkleinerung der dargestellten ‚Nationen‘ als Inversionen voneinander erscheinen, wohingegen der dritte und vierte Teil sich weder in Bezug aufeinander noch in Relation zu den Teilen I und II in ähnlicher Weise beschreiben lassen.5 Aus dieser Perspektive gesehen, scheint zwischen den Teilen I und II einerseits und III und IV andererseits ein ‚Bruch‘ zu stehen.6 Wie mit Blick auf aktuellere Forschungen jedoch gesagt werden kann, ergibt sich die Beschreibung eines Bruchs in der Mitte der Travels aus der Überbetonung der oberflächlichen Homogenität der Teile I und II. Denn inzwischen haben einige Studien nachgewiesen, dass sich bestimmte Themen und/oder Topoi durch den gesamten Text der Travels ziehen und ihm so eine starke inhaltliche Kontinuität geben. Exemplarisch kann etwa auf Isabel Karremanns Männlichkeit und Körper hingewiesen werden, welches jedem der vier Teile der Travels das Abhandeln jeweils eines Elements des ‚Männlichkeitskatalogs‘ des 18. Jahrhunderts nachweist.7 Auch Dennis Todds Arbeit kann hier genannt werden, der einen engen Zusammenhang zwischen dem munteren Straßenleben Londons und den im Text inszenierten Reisen herstellt, insofern beide ähnliche Attraktionen zu bieten haben: Miniaturen, Riesen, Zwerge, intelligente Pferde etc. Studien wie diese bieten also ebenso plausible wie starke Deutungen des gesamten Textes an.

Auch Jenny Mezciems bietet eine Beschreibung des ganzen Textes an:

Thematically, Gulliver’s Travels is an attack on human pride, a satire on civilized society, […] human nature as Swift saw it, and an analysis of the quality of human reason. Thematically the four Voyages are perfectly consistent: there is no individual Voyage from which any of these themes is absent, nor is the treatment of them noticeably uneven in emphasis. The themes are constant and the variations do not stray from the expression of a consistent meaning through narrative detail. In this respect the Voyage to Laputa has no less a part to play in the whole than any other Voyage. (Mezciems, „Unity“ 3)

Die Rede von einer durchgängigen „satire on civilized society“ ist einleuchtend. Problematisch ist jedoch, dass Jenny Mezciems von Swifts Meinungen ausgeht („as Swift saw it“),8 sowie der unscharfe Befund, laut dem der Text durchgängig menschliche Universalien („human pride“, „human nature“, „human reason“) adressiere. Dieser Befund hat zwar insofern seine Berechtigung, als in den Travels ähnliche Begriffe tatsächlich gehäuft fallen.9 Dass in den Travels aber wirklich unspezifisch ‚die Menschheit‘ im Allgemeinen satirisch dargestellt wird, ist zu hinterfragen, zugunsten einer nuancierteren Beschreibung der Ausrichtung des Textes auf ‚große‘ und ‚grundsätzliche‘ Themenkomplexe.

Bei den Travels handelt es sich also um einen formal stark strukturierten Text, der eine stark gegliederte Weltreise präsentiert. Jedem der vier Teile des Textes entspricht der Besuch einer abgeschlossenen Region der Erde (der Text nennt diese ‚nations‘, wie auch schon aus seinem vollen, ursprünglichen Titel hervorgeht: Travels into Several Remote Nations of the World),10 bzw. ist Teil III dem Besuch mehrerer, jedoch räumlich und thematisch eng assoziierter Regionen gewidmet.

Alle diese ‚Nationen‘ zeichnen sich durch ein starkes In-Sich-Geschlossen-Sein aus, das sich aus vier Eigenschaften ergibt: (1) Die Nationen befinden sich allesamt in (noch) nicht-kartierten oder wenig bekannten Erdteilen. (2) Sie sind in der Mehrzahl allseitig von MeerMeer umgeben und somit räumlich isoliert; gibt es eine Verbindung zum Festland, so versperren Gebirge den Weg in andere Erdteile (wie im Falle Brobdingnags, welches so von Nord-Amerika abgeschlossen ist, dessen gewaltige Verlängerung bzw. Erweiterung es darstellt). (3) Weiter glauben die Bewohner der Nationen wiederholt dezidiert nicht an die Existenz von Regionen außerhalb der geschlossenen Grenzen ihrer ‚Nation‘, die somit kein Außen kennt.11 So lassen die Bewohner Lilliputs Gulliver wissen, dass sie seinen Berichten von Gebieten jenseits von Lilliput (und seiner Nachbarinsel Blefuscu) keinen Glauben schenken wollen:

Now in the midst of these intestine Disquiets, we are threatned [sic] with an Invasion from the Island of Blefuscu, which is the other great Empire of the Universe, almost as large and powerful as this of his Majesty. For as to what we have heard you affirm, that there are other Kingdoms and States in the World, inhabited by human Creatures as large as yourself, our Philosophers are in much doubt, and would rather conjecture that you dropt from the Moon, or one of the Stars; because it is certain, that an [sic] hundred Mortals of your Bulk would, in a short time, destroy all the Fruits and Cattle of this Majesty’s Dominions. Besides, our Historys of six thousand Moons make no mention of any other Regions, than the two great Empires of Lilliput and Blefuscu. (40/I.4)

Zunächst fällt hier der Bezug auf die FdG ‚universe‘ auf, über den das kleine Lilliput seine größenwahnsinnige Selbstbeschreibung entfaltet. Um die Integrität der ‚Nation‘ – die in ihrer Kleinheit im Kontrast zu Gullivers enormer Größe Ausdruck findet – bewahren zu können, wird Gulliver kurzum als Außerirdischer deklariert („you dropped from the moon, or one of the stars“). So wird auf eine größere, den Mond einschließende Extension referiert, durch die Gullivers anormale Größe ‚(weg-)erklärt‘ wird – und aus dem Raum der eigenen GanzheitGanzheit ausgeschlossen werden kann.

(4) Weiter lässt sich für alle ‚Nationen‘ eine große Homogenität konstatieren: In den Teilen I und II ergibt sich diese aus den Größenverhältnissen (alles ist in der ersten ‚Nation‘ verkleinert, in der zweiten vergrößert), in Teil III über den Bezug auf die Diskussion von Wissenschaften im Stil der Royal SocietyRoyal Society, in Teil IV über die Darstellung einer idealen, augustinischen Gesellschaft. Alle Gesellschaften werden vom Text in ihren spezifischen Eigenheiten im Detail beschrieben, etwa deren Staats- und Kriegsführung, die Erziehung der Kinder usw. betreffend.12 Sie stellen in sich geschlossene Ganzheiten dar.

Diese makroperspektivischen Beschreibungen der Nationen und ihrer Eigenschaften sollen die folgende Grundbeobachtung nachvollziehbar machen: Die ‚Nationen‘ verstehen sich jeweils nicht nur als die Totalität einer Nation, d.h. als GanzheitGanzheit eines Teils, sondern vielmehr als deutlich größere Ganzheiten, wenn nicht gar als allumfassende Ganzheit (sie kennen also keine Ganzheit jenseits der eigenen, und damit konkret nicht die Erdteile, aus denen Gulliver zu ihnen kommt). Dies ist die Grundeigenschaft der Nationen in den Travels und sie gibt dieser Weltreise ihren spezifischen Charakter, der paradoxerweise stets aus der Position extrem abgeschlossener Regionen heraus auf die Ganzheit reflektiert.

So kann, ausgehend von den Punkten (1) bis (4), eine neue Struktur isoliert werden, die nicht nur den vermeintlichen ‚Bruch‘ zwischen den Teilen I/II und III/IV überbrückt, sondern welche zusätzlich auch solchen (denkbar unscharfen) Thematiken wie dem zitierten „human reason“ einen genaueren Bezug entgegensetzen kann. Denn alle Teile der Travels verbindet die ungebrochene Reflexion des Textes auf GanzheitGanzheit(en), und das heißt, wie zu zeigen ist, genauer: die Arbeit an FdG über literarisch inszenierte Körper.

Welt als Körper

Подняться наверх