Читать книгу Welt als Körper - Thomas Erthel - Страница 21

2.3 Bezüge auf die Erde 2.3.1 Paratextuelle Reflexion auf Reiseliteratur

Оглавление

In einem dem Haupttext vorangestellten Paratext namens The Publisher1to the Reader, der bereits in der ersten Ausgabe der Travels enthalten war,2 wird dem Leser, nach einigen Abhandlungen, welche ironisch von der Glaubwürdigkeit Gullivers überzeugen sollen, seitens eines fiktiven Lektors Folgendes mitgeteilt:

THIS Volume would have been at least twice as large, if I had not made bold to strike out innumerable Passages relating to the Winds and Tides, as well as the Variations and Bearings in the several Voyages; together with the minute Descriptions of the Management of the Ship in Storms, in the Style of Sailors: Likewise the Account of the Longitudes and Latitudes; wherein I have Reason to apprehend that Mr. Gulliver may be a little dissatisfied: But I was resolved to fit the Work as much as possible to the general Capacity of Readers. However, if my own Ignorance in Sea-Affairs shall have led me to commit some Mistakes, I alone am answerable for them: And if any Traveller [sic] hath a Curiosity to see the whole Work at large, as it came from the Hand of the Author, I shall be ready to gratify him. (Swift, Travels 6)

Angeblich hat die Leserschaft eine Version des Textes vor sich, in welcher NautikNautik und kartografische Belange betreffende Passagen massiv gekürzt wurden. Entgegen dieser Behauptung findet sich jedoch Material genau dieser Art zuhauf in den Travels, denn die Travels enthalten nicht nur die oft angeführte Parodie nautischen Jargons (70/II.1), sondern auch mehrere abgebildete Karten, ein „Proposal for correcting modern Maps“ (92–96/II.4), und detaillierte Beschreibungen der Wege, die die Schiffe, auf denen Gulliver reist, zurücklegen (vgl. 16/I.1, 69/II.1). Der Text stellt kartografische Belange also wiederholt explizit in den Mittelpunkt; nicht zuletzt gilt das für die Passagen, in denen Gulliver die Landschaft vermisst. So lässt sich eine Spannung konstatieren zwischen den nicht nachvollziehbaren und insofern unsichtbaren Streichungen des Lektors einerseits, und den nichtsdestotrotz vorhandenen Bezügen auf kartografische Belange andererseits. Diese Spannung ist im Text im Allgemeinen satirisch: „Swift did not take geography more seriously than was necessary to satirize it; his carelessness with geographic details in Gulliver provides additional evidence of his contempt for natural, as opposed to moral, philosophy.“ (Bracher 74) Diese Beschreibung ist zutreffend, insofern sie einen Hang zur Nachlässigkeit in Sachen kartografischer Präzision konstatiert, der im Text eindeutig nachweisbar ist.

Doch im zitierten Passus der Travels geht es nicht in erster Linie um die Relevanz kartografischer Daten und Verfahren, sondern um die Produktion eines Textes eines spezifischen Genres (ReiseliteraturReiseliteratur). Der Bericht einer Weltreise wird hier nicht als unmittelbares Produkt eines schreibenden Reisenden präsentiert, sondern als das Ergebnis eines verlegerischen Selektionsprozesses, der sich auf das Wissen und die Aufnahmefähigkeit einer allgemeinen Leserschaft bezieht („the general Capacity of Readers“), der zwei der grundsätzlichsten Techniken der ‚Erschließung‘ der Erde – NautikNautik und KartografieKartografie – angeblich unverständlich bleiben müssen. Und daher, so lautet das Postulat, bedarf es der Kürzungen und Vereinfachung des Textes. Fingierte, zwei ‚Erd-Techniken‘ betreffende Streichungen stellen also den Modus dar, unter dem die literarische Befahrung der Erde den Lesern der Travels allererst präsentiert wird. Der Text unterstreicht damit die Tatsache, dass Reiseerzählungen aus einem Verbund an (Macht-)Techniken hervorgehen, die sich auf die Erde beziehen. Denn Nautik und Kartografie sind eng mit kolonialen und imperialen Praktiken verknüpft, insofern sie die Bedingung der Möglichkeit europäischer ExpansionExpansion darstellen. Beide Techniken werden für den Leser gleich doppelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: einmal, indem eine fingierte Streichung inszeniert wird, ein anderes Mal, durch die dennoch im Text anzutreffenden Passagen, die sich mit eben diesen zwei Techniken eingehend beschäftigen.3 Die Rolle von Nautik und Kartografie, welche Fernwirkungszusammenhänge ermöglichen bzw. herstellen, tritt so in den Fokus. Noch vor seinem Beginn wird der Text im Rahmen expansiver Prozesse lokalisiert – Prozesse, deren Tendenz zur Unsichtbarkeit vom Text offenbar gemacht wird.

Der Text stellt also eine fingierte Reduktion aus, der allzu technische Details zum Opfer fallen. Diese Reduktion ist in ihrer Form autoreflexiv, insofern sie mit dem Fiktionscharakter der Literatur (von dem zur Zeit Swifts freilich noch nicht in diesen Worten die Rede ist) spielt. Der Name des Lektors, der den Paratext unterzeichnet, „Richard Sympson“, verweist gleichermaßen auf den realen Herausgeber Richard Simpson, der einige Texte Swifts publizierte, und William Symson, Autor des „largely plagiarized A Voyage to the East Indies“ (Swift, Travels 6, Fußnote 6). Die Travels reihen sich so bewusst ein in die allzu lange Kette von Reiseberichten fragwürdiger Qualität und Authentizität, welche „during this ‘Silver Age of Travel’“ (Bracher 59) den Buchmarkt überschwemmen.4 Der Bezug zu GanzheitGanzheit ist in diesem Paratext bereits in eine spezifische Form gegossen: NautikNautik und KartografieKartografie sind hier das Medium einer literarischen Selbstreflexion, über die das Verhältnis zwischen Text und Erde austariert wird; im Modus eines ausgestellten Fingiert-Seins wird auf die Mittelbarkeit von Reiseerzählungen reflektiert.

Welt als Körper

Подняться наверх