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2 Jonathan Swifts Gulliver’s Travels 2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien (A Modest Proposal)

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Swifts politisches Pamphlet1A Modest Proposal (1729) schlägt vor, die Kinder irischer Bettlerinnen nach dem ersten Lebensjahr an die englische Oberschicht zu verkaufen, von der diese als Delikatesse verspeist werden sollen; somit soll die zu dieser Zeit in IrlandIrland (im kolonialen Kontext) grassierende Armut gelindert werden.2 Das Proposal legt also eine kannibalische Praktik zur Lösung der irischen Krise nahe.3 Dies ist, auf den ersten Blick, ein satirischer Kommentar auf die bilaterale Konstellation zwischen ungleichen Staaten: Irland kommt hierbei der Sonderstatus der first colony zu und leidet gesellschaftlich massiv unter dem hegemonialen Einfluss Englands, welches Irland faktisch der Selbstbestimmung beraubt hatte.4 Die Situation stellt sich als koloniales Ausbeutungsverhältnis unmittelbarster Art dar, das in der an ein Oxymoron grenzenden Begrifflichkeit des dependent kingdom, unter dem Irland zu dieser Zeit auch adressiert wird, kaum verborgen zutage tritt.5 Dementsprechend ist folgende, im Proposal vorgebrachte Begründung des drastischen ‚Lösungsvorschlags‘ nur folgerichtig:

I GRANT this Food will be somewhat dear, and therefore very proper for Landlords; who, as they have already devoured most of the Parents, seem to have the best Title to the Children. (233)

Die althergebrachte Ausbeutung der Iren rechtfertigt somit satirisch die Ausbeutung auch noch der jüngsten Generation, wobei das körperliche Verschlingen („devoured“) die Gewalt Englands markiert.6

Dieser Vorschlag ist in seinem Inhalt jedoch keineswegs so radikal, wie es ohne eine historische Kontextualisierung den Anschein haben mag. Denn drei zeitgenössische Praktiken in IrlandIrland (im kolonialen Kontext) und England politisieren Körper ebenfalls in massiver Form. So ist in diesem Zusammenhang erstens auf die Praktik des corpse-stealing hinzuweisen, also das Stehlen und Verkaufen von Leichen (betroffen sind von dieser Praxis vor allem Angehörige der Unterschicht).7 Zweitens stellt die Praktik der öffentlichen – und das heißt immer auch: strafenden – Obduktion von ‚Kriminellen‘ eine massive Politisierung von Körpern dar,8 die in diesem Zeitraum eine große gesellschaftliche Rolle spielt.9 Drittens muss auf eine irische Beerdigungspraktik verwiesen werden, die sich zu dieser Zeit zu etablieren beginnt, in welcher der Tod prominenter Personen zum Anlass genommen wird, einen Schal aus irischem Stoff zum patriotischen dress-code zu erklären; durch den vermehrten Verkauf von irischem Leinen soll so die heimische Wirtschaft angekurbelt werden.10 Semantisch hochgradig aufgeladene Körper sind somit im politischen Gefüge Irlands Anfang des 18. Jahrhunderts sehr präsent, und zwar als Waren, als Gegenstände der Demonstration von Macht, sowie als patriotische Symbole.11 Von derart ‚aufgeladenen‘ Körpern toter Iren einerseits, und der grassierenden Angst vor Grabräubern und Obduktionen andererseits, ist der Weg zum Vorschlag in Swifts Pamphlet nicht mehr weit, der insofern nur einem heutigen Publikum als haltlose Übertreibung erscheinen muss – ganz davon abgesehen, dass das Verspeisen von Menschen als Metapher in (finanz-)ökonomischen Zusammenhängen zu dieser Zeit en vogue ist. Das Proposal denkt diesen Umgang mit menschlichen Körpern lediglich satirisch einen Schritt weiter, indem es vorschlägt, sogar Kinder dem Verkauf und Verzehr preiszugeben.

Das Proposal ist weiter Teil des Genres des politischen Pamphlets zur Lösung der Krisensituation in IrlandIrland (im kolonialen Kontext), welches Anfang des 18. Jahrhundert18. Jahrhundert (Welt-System)s hochpopulär ist und die verzweifelte wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation anprangert. Gleichzeitig verdienen die Autoren dieses Genres an genau den Missständen, die sie kritisieren, ihr Geld. Das Genre ist damit ebenso politisch wie lukrativ.12 Der Bezug des Proposal auf dieses Genre ist der einer intertextuell verfahrende Parodie, die auf den Aspekt der Lukrativität des irischen Leidens abzielt. Gleichzeitig attackiert es dieselben gesellschaftlichen Umstände, auf die sich das ganze Genre bezieht (und wird auf dem gleichen Markt zum Bestseller, auf dem die parodierten Pamphlete verkauft werden):13 „The text may set Swift up as an outsider offering a horrified commentary on an insanely acquisitive culture, but as a saleable product the Proposal cannot help but participate in the cult of commodity fetishism it satirises.“ (Ward, „Bodies“ 283)

Im Rahmen der hiesigen Studie ist nun darauf aufmerksam zu machen, dass das Proposal die beschriebene lokale Situation in Dublin, auf die der Text (vor allem an seinem Beginn) fokussiert, aus dem bilateralen Kontext (IrlandIrland (im kolonialen Kontext)/England) heraushebt. Denn im Proposal findet ein Ideenimport interkontinentaler Art statt: Die den Text strukturierende und vorantreibende Idee, die Kinder der irischen Unterschicht an die englische Oberschicht zu ‚verfüttern‘, ist, wie behauptet wird, amerikanischen Ursprungs:

I HAVE been assured by a very knowing American of my acquaintance in London; that a young healthy Child, well nursed, is, at a Year old, a most delicious, nourishing, and wholesome Food; whether Stewed, Roasted, Baked, or Boiled; and I make no doubt that it will equally serve in a Fricasie, or a Ragout. (232)

En passant14 bedient der Passus den komplexen Topos des amerikanischen (bzw. karibischen) KannibalismusKannibalismus, in welchem sich koloniale Praktiken und Topographien des othering verdichten.15 Postkolonial informierte Analysen der letzten Dekaden haben deutlich gemacht, dass der Topos des Kannibalismus den kolonialen ‚Anderen‘ diffamieren und damit entmenschlichen soll.16 Überzeugende Beweise für eine tatsächliche Praxis der Anthropophagie sind (wenn sie denn nicht gänzlich fehlen) dabei jedoch zumeist offensichtlich konstruiert, von den Erwartungen der Beobachter prädeterminiert, oder von unsicherer und äußerst vager Natur.17 So wurde die Lesart entwickelt, dass die Zuschreibung des ‚Kannibalismus‘ die Projektion des zutiefst europäischen Begehrens ist, das zu kolonisierende Gegenüber zu ‚verspeisen‘, und das heißt: auszubeuten. Der Kannibalismus ist so auf der Seite der Kolonialmächte zu verorten.18

Noch ein zusätzliches Mal wird der Bezug auf den amerikanischen KannibalismusKannibalismus im Text aktualisiert,19 diesmal mittels detaillierter Beschreibungen von kindlichem Menschenfleisch, die wiederum von der Expertise der amerikanischen Bekanntschaft herrühren:

For as to the Males [die männlichen Kinder, die verspeist werden sollen; T.E.], my American Acquaintance assured from frequent Experience, that their Flesh was generally tough and lean, like that of our School-boys, by continual Exercise; and their Taste disagreeable; and to fatten them would not answer the Charge. (234)

In der Bezugnahme des Proposal auf diesen Topos hebt der Text die irische Situation aus dem bilateralen Kontext heraus und verweist auf die interkontinentale Konstellation zwischen Europa und Amerika. Vor diesem Hintergrund wiederum erscheint IrlandIrland (im kolonialen Kontext) umso deutlicher als Kolonie Englands, d.h. als eine Kolonie unter vielen, zu denen, nicht zuletzt, auch die in Amerika gehören.20 Weiter illustriert dieses Verfahren eine zentrale Waffe Swift’scher Wahl, um die hegemonialen Praktiken des Kolonialismus literarisch zu beleuchten: Ein durch explizite Körperlichkeit geprägter Topos (sein Sprachmaterial, d.h. seine Metaphern, Intertexte etc.) wird genutzt, um eine beschriebene Situation aus ihrem lokalen Kontext herauszuheben und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Dieser ‚größere Zusammenhang‘ ist hier der koloniale, der neben Irland auch die anderen kolonialen Beziehungen Englands einschließt. Die in körperliche Bilder gefasste Grausamkeit des importierten schemes unterstreicht darüber hinaus die kolonialen Prozessen inhärente Gewalt.

Dass der Bezug des Proposal über eine bilaterale Konstellation hinausgeht, zeigt sich auch an anderer Stelle im Text, die sich zweier Figuren der GanzheitGanzheit (FdG) bedient. So nimmt der Text als Adressat seines Vorschlags nicht etwa nur die lokale Öffentlichkeit an, sondern richtet sich an nichts weniger als „die Welt“:

I CAN think of no one Objection, that will possibly be raised against this Proposal; unless it should be urged, that the Number of People will be thereby much lessened in the Kingdom. This I freely own; and it was indeed one principal Design in offering it to the World. I desire the Reader will observe, that I calculate my Remedy for this one individual Kingdom of IRELAND, and for no other that ever was, is, or, I think, ever can be upon Earth. (237)

Die FdG ‚world‘ steht hier ein für das Publikum, das das Proposal lesen soll. Als Text eines spezifisch ‚irischen-englischen‘ Genres richtet er sich so mit dem Adressaten „Welt“ an ein ausgesprochen großes Publikum. Doch trägt diese Hyperbel nicht nur zum allgemein-ironischen Ton der Passage (und des gesamten Textes) bei. Denn die FdG ‚world‘ kann darüber hinaus auch als Verweis auf den deutlich größeren, kolonialen Zusammenhang verstanden werden. Wenn die FdG ‚world‘ hier also nicht auf die Bedeutung eines ‚zu großen‘ Publikums reduziert, sondern als Bezugnahme auf GanzheitGanzheit ernst genommen wird, so tritt die Öffnung des Textes auf eine größere Ganzheit hin, die der Kannibalen-Topos bewirkt und vorbereitet, noch einmal deutlicher hervor. Das Proposal beschreibt eine interkontinentale Konstellation und richtet sich somit an die koloniale Ganzheit seiner Zeit.

Die hyperbolische Formulierung einer allumfassenden Zeitlichkeit, die im Passus durch den Satzteil „ever was, is, or I think, ever can be“ evoziert wird, sowie der explizit aufgerufene Raum der gesamten „Earth“ verweist ebenfalls auf eine denkbar große (zeitliche und räumliche) Extension. Dieser Bezug auf GanzheitGanzheit lässt deutlich werden, dass der Sonderstatus Irlands, den der Text auf den ersten Blick behauptet, nicht ernsthaft behauptet werden soll; IrlandIrland (im kolonialen Kontext) ist mitnichten die einzige Kolonie Englands. Das „I think“ betont zusätzlich die Ironie des Gesagten und untergräbt so den vermeintlichen Einzelstatus Irlands noch weiter.

Was sich hier erkennen lässt, ist ein Verfahren des Textes, koloniale Ausbeutungsverhältnisse körperlich grausam in Szene zu setzen und diese ‚Szenen‘ dann in ein enges Verhältnis zu FdG zu setzen. Ausgehend von diesen Beobachtungen zum Proposal soll im Folgenden für Gulliver’s Travels die folgende Struktur beschrieben werden: das Herausheben lokaler oder vermeintlich bilateraler Ereignisse in einen größeren Kontext über das Mittel des Bezuges auf literarisch inszenierte Körper – ein Verfahren, das enggeführt wird mit einer intensiven Reflektion auf größere Zusammenhänge, evoziert durch FdG.

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